Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 19.04.2000, Az.: 11 M 1343/00
Einstweiliger Rechtsschutz gegen Anordnung des Sofortvollzugs von Abschiebungsandrohung; Aufenthaltserlaubnis des nicht-sorgeberechtigten Elternteils eines minderjährigen ledigen Deutschen; Familiäre Lebensgemeinschaft als Beistandsgemeinschaft und Erziehungsgemeinschaft; Anhaltspunkte für familliäre Lebensgemeinschaft bei Getrenntlebenden; Auswirkungen des familienrechtlichen Umgangsrecht des Kindes; Entscheidungserheblicheit von regelmäßigen und zuverlässigen Unterhaltsleistungen
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 19.04.2000
- Aktenzeichen
- 11 M 1343/00
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2000, 22674
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2000:0419.11M1343.00.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Braunschweig - AZ: 3 B 754/99
Rechtsgrundlagen
- § 17 Abs. 1 AuslG
- § 23 Abs. 1 AuslG
- § 1684 Abs. 1 BGB
Fundstellen
- FStBW 2001, 56-58
- FStHe 2001, 203-205
- InfAuslR 2000, 392-394
- KomVerw 2001, 73-75
- NVwZ-RR 2000, 833-834 (Volltext mit amtl. LS)
- NdsVBl 2000, 193-195
- Streit 2001, 38
Amtlicher Leitsatz
Die gestiegene Bedeutung des Umgangsrechts, wie sie in §§ 1626 Abs. 3 und 1684 Abs. 1 BGB n. F. zum Ausdruck kommt, kann auf die Auslegung des § 23 Abs. 1 2. Halbs. i.V.m. § 17 Abs. 1 AuslG nicht ohne Einfluss bleiben.
Gründe
Die mit Beschluss des Senats vom 7. April 2000 gemäß § 146 Abs. 4 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zugelassene Beschwerde hat teilweise Erfolg.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist bis zur Entscheidung im Widerspruchsverfahren begründet. Der Senat vermag im Rahmen der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren regelmäßig nur möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage im Unterschied zum Verwaltungsgericht nicht festzustellen, dass der Bescheid der Antragsgegnerin vom 9. September 1999, mit dem der Antrag des Antragstellers auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis abgelehnt und ihm zugleich die Abschiebung nach Jordanien angedroht worden ist, (offensichtlich) rechtmäßig ist. Vielmehr muss nach dem derzeitigen Erkenntnisstand der Ausgang des Hauptsacheverfahrens als offen angesehen werden. Das Interesse des Antragstellers an einem vorläufigen weiteren Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland überwiegt aber das öffentliche Interesse an einer möglichst raschen Beendigung seines Aufenthalts jedenfalls bis zum Ergehen einer Entscheidung im Widerspruchsverfahren.
Allerdings hat das Verwaltungsgericht zutreffend entschieden, dass der Antragsteller voraussichtlich keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 19 Abs. 1 Nr. 2 AuslG hat, weil die erforderliche außergewöhnliche Härte fehlt. Auf die entsprechenden Ausführungen auf S. 7 des angefochtenen Beschlusses wird gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO verwiesen.
Da der Antragsteller auch nicht - wie sich aus der Auskunft des Amtsgerichts (Familiengericht) Wolfsburg vom 23. März 2000 ergibt - zur Mitausübung der Personensorge für seine am 23. November 1996 geborene und nicht mit ihm in häuslicher Gemeinschaft lebende Tochter S. berechtigt ist und somit die Voraussetzungen des § 23 Abs. 1 1. Halbs. Nr. 3 AuslG nicht vorliegen, kommt als Anspruchsgrundlage für die Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis allein § 23 Abs. 1 2. Halbs. AuslG in Betracht. Danach kann die Aufenthaltserlaubnis nach Maßgabe des § 17 Abs. 1 AuslG auch dem nicht-sorgeberechtigten Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen erteilt werden, wenn die familiäre Gemeinschaft schon im Bundesgebiet gelebt wird. Der Begriff der familiären Lebensgemeinschaft fordert nicht unbedingt eine häusliche Gemeinschaft. Eine familiäre Lebensgemeinschaft wird aber in der Regel durch eine gemeinsame Lebensführung jedenfalls in der Form der Beistandsgemeinschaft zwischen erwachsenen Angehörigen und der Erziehungsgemeinschaft zwischen Erwachsenen und minderjährigen Angehörigen gekennzeichnet sein und einen Lebensmittelpunkt besitzen; zur Entfaltung eines gemeinsamen Lebens gehört im Allgemeinen eine gemeinsame Wohnung (vgl. BVerwG, Urt. v. 09.12.1997, InfAuslR 1998, 272). Leben der ausländische Elternteil und sein minderjähriges deutsches Kind dagegen getrennt, so bedarf es zusätzlicher Anhaltspunkte, um gleichwohl eine familiäre Lebensgemeinschaft im Sinne des § 17 Abs. 1 AuslG annehmen zu können. Solche Anhaltspunkte können etwa in intensiven Kontakten, gemeinsam verbrachten Ferien, der Übernahme eines nicht unerheblichen Anteils an der Betreuung und der Erziehung des Kindes oder in sonstigen vergleichbaren Beistandsleistungen liegen, die geeignet sind, das Fehlen eines gemeinsamen Lebensmittelpunktes weitgehend auszugleichen (vgl. BVerwG, Urt. v. 09.12.1997, a.a.O.). Hieran anknüpfend hat das Bundesverwaltungsgericht die Auffassung vertreten, dass dem Umgangsrecht des nicht-sorgeberechtigten geschiedenen ausländischen Elternteils bei der Entscheidung über die Gewährung eines Daueraufenthalts grundsätzlich keine maßgebende Bedeutung beigemessen zu werden braucht (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.01.1998, NVwZ 1998, 745, 747) [BVerwG 27.01.1998 - 1 C 28/96]. Möglicherweise könnte aber eine Lockerung dieser relativ strengen Anforderungen in Betracht kommen, nachdem das Gesetz zur Reform des Kindschaftsrechts vom 17. Dezember 1997 (BGBl. I S. 2942) am 1. Juli 1998 in Kraft getreten ist. Denn neben der - hier nicht interessierenden - Schaffung des gemeinsamen Sorgerechts auch für nichteheliche Kinder und der Ermöglichung der gemeinsamen Sorge bei Trennung bzw. Scheidung der Eltern ist auch das Umgangsrecht neu geregelt worden. Nach § 1684 Abs. 1 1. Halbs. BGB hat das Kind das Recht auf Umgang mit jedem Elternteil. Jeder Elternteil wiederum ist gemäß § 1684 Abs. 1 Halbs. 2 BGB entsprechend zum Umgang mit seinem Kind verpflichtet und berechtigt. Dieses Umgangsrecht von Kind und Eltern sowie die Umgangspflicht der Eltern sind im Zusammenhang mit der Grundregelung des § 1626 Abs. 3 BGB zu sehen, wonach zum Wohl des Kindes der Umgang mit beiden Elternteilen gehört. Deshalb muss das Umgangsrecht auch tatsächlich ausgeübt werden, um dem Gesetzeswillen zu entsprechen (vgl. Laskowski/Albrecht, Das Kindschaftsreformgesetz und seine Bedeutung für familienbezogene Aufenthaltsrechte, ZAR 1999, 100, 102 f.). Daraus ist ausländerrechtlich zu schließen, dass auch nach der Neuregelung des Umgangsrechts eine reine Begegnungsgemeinschaft zwischen dem ausländischen Elternteil und seinem minderjährigen deutschen Kind nicht als familiäre Lebensgemeinschaft im Sinne von § 23 Abs. 1 2. Halbs. I.V.m. § 17 Abs. 1 AuslG anzusehen sein dürfte. Andererseits kann die gestiegene Bedeutung des Umgangsrechts, wie sie in den familienrechtlichen Vorschriften des BGB nunmehr zum Ausdruck kommt, auf die Auslegung der maßgeblichen ausländerrechtlichen Regelungen nicht ohne Einfluss bleiben. Eine abschließende Klärung dieser Frage muss aber dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Im Rahmen des Eilverfahrens kann lediglich geprüft werden, ob Überwiegendes dafür spricht, dass der nicht-sorgeberechtigte ausländische Elternteil nach außen erkennbar in ausreichendem Maße Verantwortung für die Betreuung und Erziehung seines Kindes übernimmt. Ob das Verhalten des Antragstellers im vorliegenden Fall diesen Anforderungen genügt, lässt sich gegenwärtig nicht mit hinreichender Sicherheit beurteilen.
Es besteht Unklarheit über Umfang und Intensität der Kontakte des Antragstellers zu seiner nicht bei ihm wohnenden Tochter. In diesem Zusammenhang muss sich die Antragsgegnerin vorhalten lassen, dass sie ihre Erkenntnisse über die Beziehungen des Antragstellers zu seiner Tochter vorrangig auf die Aussagen der geschiedenen Ehefrau des Antragstellers stützt. Das gilt insbesondere für den Bericht ihres Jugendamtes vom 10. Januar 2000, dem nach eigenen Angaben der Antragsteller nicht einmal persönlich bekannt ist. Eine unmittelbare Befragung des Antragstellers hätte aber nahe gelegen, weil dieser sich bereits im Verwaltungsverfahren darauf berufen hatte, dass er ein sehr gutes Verhältnis zu seiner Tochter habe und über die normalen Besuchszeiten hinaus den Kontakt zu ihr pflege. Im erstinstanzlichen Verfahren hat er gegenüber dem Verwaltungsgericht diese Ausführungen dahingehend ergänzt, dass er einen nicht unerheblichen Anteil an der Betreuung und Erziehung seiner Tochter übernehme, indem er sie wöchentlich an mindestens einem Tag besuche und dann mehrere Stunden mit ihr verbringe. Auch habe er sie im November 1999 mehrere Tage lang aus dem Kindergarten abgeholt und sei mit ihr im Oktober 1999 für drei Tage zu seinen Eltern nach Stuttgart gefahren. Er würde gern mehr Zeit mit seiner Tochter verbringen, doch scheitere dies am Widerstand seiner geschiedenen Ehefrau. Demgegenüber hat die geschiedene Ehefrau des Antragstellers nach dem Bericht des Jugendamtes erklärt, dass der Antragsteller nicht von sich aus den Kontakt zu ihrer gemeinsamen Tochter gepflegt habe, obwohl sie damit einverstanden sei. Vater-Tochter-Kontakte seien in der Vergangenheit in der Regel durch Zufall und ihre Initiative entstanden, obwohl ihre gemeinsame Tochter gegenüber dem Antragsteller recht aufgeschlossen und an Kontakten zu ihm interessiert sei. Andererseits bestätigte die geschieden Ehefrau des Antragstellers dessen Angaben über den Besuch in Stuttgart und die Abholung ihrer Tochter vom Kindergarten, als sie selbst verhindert war. Diese Erklärungen der geschiedenen Ehefrau des Antragstellers könnten darauf hindeuten, dass dieser erst unter dem Druck des mit Bescheid vom 9. September 1999 eingeleiteten Aufenthaltsbeendigungsverfahrens regelmäßige Kontakte zu seiner Tochter gesucht hat. Für diese Vermutung könnte auch sprechen, dass der Antragsteller nach den Angaben seiner geschiedenen Ehefrau im Sorgerechtsverfahren sich während der Zeit des ehelichen Zusammenlebens kaum um die gemeinsame Tochter gekümmert haben soll und sich auch damit einverstanden erklärt hat, dass seine (geschiedene) Ehefrau allein die elterliche Sorge übernimmt. Andererseits erscheint es aber auch denkbar, dass der Antragsteller sich seiner Pflichten als Vater stärker bewusst geworden ist und deshalb das ihm zustehende Umgangsrecht intensiver als früher ausübt. Dafür könnte beispielsweise sprechen, dass er - was unstreitig ist - in der Zeit vom 4. bis 13. November 1999 seine Tochter regelmäßig vom Kindergarten abgeholt hat, als seine geschiedene Ehefrau dazu nicht in der Lage war. Damit hat er gezeigt, dass er neben den üblichen Besuchen auch zur Verfügung steht, um seine Tochter in "Notsituationen" zu betreuen. Außerdem hat er unwidersprochen vorgetragen, dass er regelmäßig und zuverlässig Unterhalt für seine Tochter leistet. Diesem Gesichtspunkt könnte, wenn der Unterhalt des gemeinsamen Kindes aus eigenen Mitteln der Mutter nicht sichergestellt ist, durchaus Bedeutung zukommen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 10.03.1995, Buchholz 402.240§ 23 AuslG 1990 Nr. 2).
Vor diesem Hintergrund wäre es im jetzigen Zeitpunkt unverhältnismäßig, die Ausreise des Antragstellers zwangsweise durchzusetzen. Zum einen hätte dies aller Voraussicht nach den Verlust seines Arbeitsplatzes zur Folge. Ob er bei seiner Wiedereinreise diesen oder einen entsprechenden Arbeitsplatz wiedererlangen könnte, erscheint zweifelhaft. Zum anderen sind in diesem Zusammenhang auch die Interessen seiner Tochter zu berücksichtigen. Das Bundesverfassungsgericht hat im obiter dictum des Beschlusses vom 31. August 1999 - 2 BvR 1523/99 - (AuAS 2000, 43 = NVwZ 2000, 59 = InfAuslR 2000, 67) angesichts des spezifischen Erziehungsbeitrags des Vaters darauf hingewiesen, dass gerade bei einem kleinen Kind - wie hier - bereits eine verhältnismäßig kurze Trennungszeit im Lichte von Art. 6 Abs. 2 GG unzumutbar lang sein kann. Demgegenüber sind gewichtige öffentliche Interesse, die eine sofortige Beendigung des Aufenthalts des Antragstellers gebieten könnten, nicht ersichtlich. Insbesondere ist nicht zu besorgen, dass er der öffentlichen Hand zur Last fällt, da er in einem festen Arbeitsverhältnis steht. Ebenso wenig liegen Erkenntnisse über ein strafrechtlich relevantes Verhalten vor.
In Anbetracht des noch offenen Ausgangs des Widerspruchsverfahrens hält es der Senat jedoch für sachgerecht, dem Antragsteller vorläufigen Rechtsschutz gemäß § 80 Abs. 5 Satz 5 VwGO lediglich bis zur Entscheidung im Widerspruchsverfahren zu gewähren. Es wird Aufgabe der Antragsgegnerin oder der Widerspruchsbehörde sein, die vom Senat aufgezeigten streitigen Umstände aufzuklären. Dies setzt eine umfassende Ermittlung aller entscheidungserheblichen Aspekte einschließlich einer eingehenden Befragung des Antragstellers voraus. Der Antragsteller seinerseits ist nach § 70 Abs. 1 AuslG gehalten, an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.01.1998, a.a.O.).
Mangels vollziehbarer Ausreisepflicht (§§ 42 Abs. 1 u. Abs. 2 Satz 2, 49 Abs. 1 AuslG) erstreckt sich die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs bis zur Entscheidung im Widerspruchsverfahren auch auf die Abschiebungsandrohung.