Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 02.09.2024, Az.: 14 LA 73/24
Nichtberücksichtigung persönlicher Ausführungen einer anwaltlich vertretenen Klägerin im Berufungszulassungsverfahren
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 02.09.2024
- Aktenzeichen
- 14 LA 73/24
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2024, 21292
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2024:0902.14LA73.24.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Braunschweig - 22.02.2024 - AZ: 3 A 208/19
Rechtsgrundlagen
- § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO
- § 152a VwGO
- § 67 Abs. 4 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Die Nichtberücksichtigung persönlicher Ausführungen einer anwaltlich vertretenen Klägerin im Berufungszulassungsverfahren begründet keinen Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör im Sinne des Art. 103 Abs. 1 GG, wenn dieser den Anforderungen des Darlegungsgebotes nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO und dem Verbot der Umgehung des Vertretungszwangs nach § 67 Abs. 4 Satz 1 u. 2 VwGO entgegenstehen.
Tenor:
Der Antrag der Klägerin, ihr Prozesskostenhilfe für eine beabsichtigte Anhörungsrüge gegen den Beschluss des Senats vom 23. Mai 2024 zu bewilligen, wird abgelehnt.
Gründe
Die Klägerin hat nach verständiger Würdigung ihres Vorbringens entsprechend § 88 VwGO mit Schriftsatz vom 16. Juli 2024, eingegangen per Fax am selben Tag, Prozesskostenhilfe für eine beabsichtigte Anhörungsrüge gegen den Beschluss des Senats vom 23. Mai 2024, mit dem ihr Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 3. Kammer - vom 22. Februar 2024 als unzulässig verworfen worden ist, beantragt.
Der so verstandene Antrag der Klägerin ist abzulehnen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg im Sinne von § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO bietet. Hinreichende Aussicht auf Erfolg bedeutet bei einer an Art. 3 Abs. 1 und 19 Abs. 4 GG orientierten Auslegung des Begriffs einerseits, dass Prozesskostenhilfe nicht erst dann bewilligt werden darf, wenn der Erfolg der beabsichtigten Rechtsverfolgung gewiss ist, andererseits aber auch, dass Prozesskostenhilfe zu versagen ist, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist (vgl. Senatsbeschl. v. 8.5.2024 - 14 PA 42/24 -, juris Rn. 2 m.w.N.).
Zunächst kann es dahinstehen, ob eine durch einen Prozessbevollmächtigten (vgl. hierzu BVerwG, Beschl. v. 10.3.2010 - 5 B 4.10 -, juris Rn. 5) zu erhebende Anhörungsrüge überhaupt noch zulässig wäre, insbesondere, ob eine solche bereits im Zeitpunkt der Stellung des Antrages auf Prozesskostenhilfe verfristet gewesen und der Klägerin ggf. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren wäre.
Denn eine noch zu erhebende Anhörungsrüge hätte nach dem oben dargestellten Maßstab keine hinreichende Aussicht auf Erfolg im Sinne von § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Der Senat hat in dem Beschluss vom 23. Mai 2024 den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) nicht im Sinne von § 152a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 VwGO in entscheidungserheblicher Weise verletzt.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör gibt dem an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten ein Recht darauf, dass er Gelegenheit erhält, im Verfahren zu Wort zu kommen, namentlich sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt oder zur Rechtslage zu äußern, Anträge zu stellen und diese zu begründen. Dem entspricht die grundsätzliche Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Die Gerichte sind aber nicht verpflichtet, jedes Vorbringen eines Beteiligten in den Gründen einer Entscheidung ausdrücklich zu bescheiden. Die Vorschrift verpflichtet die Gerichte insbesondere auch nicht, der Rechtsansicht einer Partei zu folgen (BVerwG, Beschl. v. 11.4.2013 - 8 C 2.13 -, juris Rn. 3). Daneben gewährt Art. 103 Abs. 1 GG auch keinen Schutz gegen Entscheidungen, die den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt lassen (BVerfG, Urt. v. 8.7.1997 - 1 BvR 1621/94 -, juris Rn. 43; Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, 104. EL April 2024, Grundgesetz-Kommentar, Art. 103 Rn. 98).
Ausgehend von diesen Grundsätzen kann eine Gehörsverletzung nicht festgestellt werden. Eine solche folgt insbesondere nicht aus dem Vorbringen Klägerin, dass der Senat ihre umfangreichenden und detaillierten Einwände sowie die vorlegten Beweise und Dokumente nicht angemessen berücksichtigt habe. Insbesondere seien entscheidende Aussagen von Zeugen und die von ihr vorgebrachten Beweise ignoriert oder nicht ausreichend gewürdigt worden. Außerdem habe sich der Senat nicht ausreichend mit den substantiellen Vorwürfen und der umfangreichen Dokumentation der Missstände auseinandergesetzt. Ihre Ausführungen bezüglich der Fehler und Pflichtverletzungen des Jugendamtes sowie der Vormundin seien nicht in gebotener Weise geprüft worden.
Soweit die Klägerin mit diesem Vortrag darauf abzielt, dass der Senat in seinem Beschluss vom 23. Mai 2024 über die Verwerfung ihres Antrages auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 3. Kammer - vom 22. Februar 2024 die Ausführungen in dem von ihr persönlich verfassten Schreiben vom 8. Mai 2024 nicht berücksichtigt habe, ist dies zwar zutreffend. Die Klägerin verkennt aber, dass der Senat dieses Schreiben und die darin gemachten Ausführungen zu der vermeintlich rechtswidrigen Inobhutnahme und der hiermit zusammenhängenden Umstände aufgrund entgegenstehender gesetzlichen Regelungen nicht berücksichtigen durfte. Hierzu hat der Senat in dem genannten Beschluss folgendes ausgeführt:
"Nach § 124a Abs. 4 Satz 4 sind innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Darlegung des Zulassungsgrundes erfordert zunächst, den jeweiligen Zulassungsgrund zu benennen, entweder durch Anführung der einschlägigen Vorschrift aus § 124 Abs. 2 oder durch eine vergleichbar unmissverständliche Bezeichnung des Zulassungsgrundes (BeckOK VwGO/Roth, 69. Ed. 1.4.2024, VwGO § 124a Rn. 68). Sie erfordert auch ins Einzelne gehende, fallbezogene und aus sich heraus verständliche, auf den jeweiligen Zulassungsgrund bezogene und geordnete Ausführungen, die sich mit der angefochtenen Entscheidung auf der Grundlage einer eigenständigen Sichtung und Durchdringung des Prozessstoffes auseinandersetzen (NdsOVG, Beschl. v. 6.7.2001 - 9 LA 2095/01 -, juris Rn. 1). Allerdings dürfen die Anforderungen an die Darlegung nicht derart überspannt werden, dass sie von einem durchschnittlichen, nicht auf das gerade einschlägige Rechtsgebiet spezialisierten Rechtsanwalt mit zumutbarem Aufwand nicht mehr erfüllt werden können (BVerfG, Beschl. v. 23.6.2000 - 1 BvR 830/00 -, juris Rn. 10).
Die Darlegung ist entsprechend den Erfordernissen des § 67 Abs. 4 Satz 1 u. 2, Abs. 2 Satz 1 VwGO - im Regelfall - einem Rechtsanwalt oder einem Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule als Prozessbevollmächtigten vorbehalten. Der Gesetzgeber wollte mit der Einführung des Vertretungszwanges auch vor dem Oberverwaltungsgericht u. a. den Aufwand für die Bearbeitung des Zulassungsantrages "reduzieren" und dadurch das Zulassungsverfahren beschleunigen (NdsOVG, Beschl. v. 6.7.2001 - 9 LA 2095/01 -, juris Rn. 1). Dabei ist es als eine unzulässige Umgehung des in § 67 Abs. 4 VwGO geregelten Vertretungszwangs zu werten, wenn seitens eines postulationsfähigen Prozessbevollmächtigten pauschal auf Schriftsätze Bezug genommen wird, die der von ihm vertretene Beteiligte verfasst hat. Eine solche Bezugnahme reicht nur dann ausnahmsweise aus, wenn unzweifelhaft ist, dass sie auf einer eigenständigen Prüfung, Sichtung, rechtlichen Durchdringung und Würdigung des postulationsfähigen Prozessbevollmächtigten beruht (NdsOVG, Beschl. v. 20.3.2015 - 5 LA 139/14 -, juris Rn. 42 m.w.N.).
Nach diesem Maßstab liegt eine ordnungsgemäße Begründung des Antrages auf Zulassung der Berufung nicht vor. Der aktuelle Prozessbevollmächtigte der Klägerin überreichte mit dem Schriftsatz vom 10. Mai 2024 als Anlage ein von der Klägerin persönlich verfasstes 22-seitiges Schreiben vom 8. Mai 2024 und "trug den Inhalt vor". Ungeachtet des größtenteils unsortierten Vortrags der Klägerin, der sich lediglich in wenigen Randnummern auf das angefochtene Urteil bezieht und für sich genommen schon nicht den dargestellten Anforderungen an eine Darlegung genügt, ist die Bezugnahme des Prozessbevollmächtigten auf dieses Schreiben als Umgehung des Vertretungszwangs zu werten. Es ist nicht ansatzweise ersichtlich, dass das Schreiben der Klägerin, dessen Inhalt der Prozessbevollmächtigte "vorträgt" auf seiner eigenständigen Prüfung, Sichtung, rechtlichen Durchdringung und Würdigung beruht."
Diesen Ausführungen zur Darlegungspflicht nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO und dem Vertretungszwang nach § 67 Abs. 4 Satz 1 u. 2, Abs. 2 Satz 1 VwGO hat die Klägerin in ihrem Schreiben vom 16. Juli 2024 nichts entgegengesetzt, was die Annahmen rechtfertigen würde, dass ihr Vortrag in dem Schreiben vom 8. Mai 2024 für sich genommen bereits den Darlegungsanforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entspräche und/oder dass die bloße Bezugnahme des Prozessbevollmächtigten der Klägerin auf dieses Schreiben (ausnahmsweise) zur Erfüllung der Darlegungsanforderungen bzw. des Vertretungszwanges ausreichen würde. Anhaltspunkte, die solche Annahmen rechtfertigen würden, sind für den Senat auch nach nochmaliger Überprüfung nicht ersichtlich.
Insoweit liegt auch keine Überraschungsentscheidung des Senats vor, die eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) zur Folge hätte.
Wie bereits ausgeführt, soll der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs sicherstellen, dass ein Verfahrensbeteiligter Einfluss auf den Gang des gerichtlichen Verfahrens und dessen Ausgang nehmen kann. Zu diesem Zweck muss er Gelegenheit erhalten, sich zu allen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten zu äußern, die entscheidungserheblich sein können. Zwar korrespondiert mit diesem Äußerungsrecht keine umfassende Frage-, Aufklärungs- und Hinweispflicht des Gerichts. Vielmehr kann regelmäßig erwartet werden, dass die Beteiligten von sich aus erkennen, welche Gesichtspunkte Bedeutung für den Fortgang des Verfahrens und die abschließende Sachentscheidung des Gerichts erlangen können, und entsprechend vortragen. Jedoch verlangt der Schutz vor einer Überraschungsentscheidung, dass das Gericht nicht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht (BVerwG, Beschl. v. 14.6.2019 - 7 B 25/18 -, juris Rn. 14).
Nach diesem Maßstab musste die im Berufungszulassungsverfahren anwaltlich vertretene Klägerin damit rechnen, dass ihr Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 3. Kammer - vom 22. Februar 2024 als unzulässig verworfen wird. Denn die den Beschluss des Senats vom 23. Mai 2024 zugrunde liegende Annahme, dass es als eine unzulässige Umgehung des in § 67 Abs. 4 VwGO geregelten Vertretungszwangs zu werten sei, wenn seitens eines postulationsfähigen Prozessbevollmächtigten pauschal auf Schriftsätze Bezug genommen werde, die der von ihm vertretene Beteiligte verfasst habe und diese Bezugnahme im Falle der Klägerin nicht ausnahmsweise ausreiche, weil sie nicht auf der eigenständigen Prüfung, Sichtung, rechtlichen Durchdringung und Würdigung ihres Prozessbevollmächtigten beruhe, entspricht der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur, die in dem zitierten Beschluss des 5. Senats des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (- 5 LA 139/14 -, juris) dargestellt worden ist.
In ihrem mit Fax am 23. Juli 2024 übermittelten Schriftsatz, der vom 8. Mai 2024 datiert, zeigt die Klägerin ebenfalls nichts auf, was nach den vorstehenden Maßstäben eine Gehörsverletzung durch den Senat in dem angegriffenen Beschluss begründen könnte.
Nur der Vollständigkeit halber weist der Senat darauf hin, dass der im Schreiben vom 16. Juli 2024 unter II. 1. gestellte Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 VwGO wegen der von der Klägerin geltend gemachten Hinderung, die "Berufungsbegründung fristgerecht und den formalen Anforderungen entsprechend einzureichen", nicht zu bescheiden ist, weil das Berufungszulassungsverfahren mit Beschluss vom 23. Mai 2024 bereits abgeschlossen worden ist und ein solcher Wiedereinsetzungsantrag nicht mehr gestellt werden kann.
Im Verfahren auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe bedarf es einer Kostenentscheidung nicht, weil in diesem keine Gerichtskosten anfallen (vgl. NdsOVG, Beschl. v. 24.8.2018 - 13 LA 21/17 -, juris Rn. 20) und außergerichtliche Kosten nicht erstattet werden (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).