Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 28.08.2024, Az.: 4 ME 136/24

Abwägung der widerstreitenden Grundrechtspositionen der Versammlungsteilnehmer sowie der Grundrechte anderer Betroffener bei der Vollsperrung einer Autobahn zur Ermöglichung der Durchführung einer Versammlung; Berücksichtigung der Auswirkungen einer nur kurzzeitigen Sperrung insbesondere im Hinblick auf die entstehenden Stau- und Unfallgefahren

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
28.08.2024
Aktenzeichen
4 ME 136/24
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 21146
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2024:0828.4ME136.24.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Stade - 27.08.2024 - AZ: 10 B 1407/24

Fundstelle

  • DVBl 2024, 1375-1376

Amtlicher Leitsatz

Im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Grundrechtspositionen der Versammlungsteilnehmer (aus Art. 8 Abs. 1 GG) sowie der Grundrechte anderer Betroffener (insb. aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) bei der Vollsperrung einer Autobahn zur Ermöglichung der Durchführung einer Versammlung sind auch die Auswirkungen einer nur kurzzeitigen Sperrung insbesondere im Hinblick auf die entstehenden Stau- und Unfallgefahren zu berücksichtigen.

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Stade - 10. Kammer - vom 27. August 2024 geändert.

Die vom Verwaltungsgericht angeordnete Maßgabe einer Vollsperrung der Bundesautobahn A 27 wird dahingehend abgeändert, dass der Antragsgegnerin aufgegeben wird, dass die Bundesautobahn A 27 am 28. August 2024 in der Zeit zwischen 12:30 Uhr bis 13:00 Uhr, beginnend mit dem Befestigen von Abseilvorrichtungen, zwischen den Anschlussstellen "Bremer Kreuz" und "Achim-Nord" in beiden Fahrtrichtungen für den Verkehr gesperrt wird.

Die Kosten des Beschwerdeverfahren trägt die Antragstellerin.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 Euro festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde der Antragsgegnerin hat Erfolg.

Die von der Antragsgegnerin vorgetragenen Gründe, auf deren Prüfung der Senat als Beschwerdegericht beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigen eine Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung.

Die von der Antragstellerin angegriffenen versammlungsrechtlichen Beschränkungen in Ziffer 9, 10, 11 und 12 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 27. August 2024 erweisen sich entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts voraussichtlich als rechtmäßig.

Hinsichtlich der Bewertung der von der Antragstellerin in erster Linie begehrten versammlungsrechtlichen Nutzung der Brücke über die Autobahn A 27 unmittelbar südöstlich des Bremer Kreuzes (A 1 / A 27) unter Übersteigung des Brückengeländers nach außen, Anbringung von Transparenten bzw. Plakaten am Brückengeländer sowie des Einsatzes von Kletterern außen am Brückengeländer, die sich von dort abseilen und die anzubringenden Plakate an den unteren Ecken festhalten, was mit den angegriffenen Beschränkungen untersagt worden ist, wird zur Begründung zunächst auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts auf S. 5 des angefochtenen Beschlusses verwiesen. Eine unmittelbare Gefährdung von Leib und Leben der an der Abseilaktion teilnehmenden Kletterer sowie der unbeteiligten Verkehrsteilnehmer und somit eine akute Gefährdung des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) erscheint unter den von der Antragstellerin begehrten Versammlungsbedingungen evident.

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts gebietet es der Grundsatz der praktischen Konkordanz zwischen dem Grundrecht der Versammlungsteilnehmer aus Art. 8 Abs. 1 GG und den widerstreitenden Grundrechtspositionen aber nicht, die vom Verwaltungsgericht in Form einer Maßgabeentscheidung angeordnete Vollsperrung der A 27 in beiden Richtungen zwischen dem Bremer Kreuz und der Anschlussstelle Achim Nord zu veranlassen bzw. es ist jedenfalls die von der Antragsgegnerin nur beantragte Reduzierung der Sperrungszeit anzuordnen. Auch bei einer solchen Vollsperrungsmaßnahme entstehen erhebliche Gefahren für Leib und Leben der Verkehrsteilnehmer sowie Anrainer an den Umleitungsstrecken, hinter denen das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit der Antragstellerin hier zurücktreten muss. Hinzu kommt, dass in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit zwischen der verwaltungsgerichtlichen Maßgabeentscheidung und dem angezeigten Versammlungsbeginn heute Mittag um 12:00 Uhr eine verkehrssichere Einrichtung der Sperrmaßnahmen mitsamt entsprechenden frühzeitigen Ausschilderungen und der Umleitungstrecken ohnehin kaum mehr möglich erscheint.

Ausweislich der Gefahrenprognose der Polizeiinspektion Verden/Osterholz vom 22. August 2024 bedingt eine etwaige Sperrung der A 27 im Nahbereich des Bremer Kreuzes, einem zentralen Autobahnknoten, ein hohes Gefährdungspotential wegen zu erwartender Behinderungen und Rückstaus. Bereits eine kurzzeitige Sperrung würde zu Rückstaus im gesamten Bremer Stadtbereich und Umland führen. Eine störungsfreie Umleitung sei danach nicht möglich. Erschwerend komme die baustellenbedingte Vollsperrung der L 156 in Achim-Uesen hinzu. Auch in der Stellungnahme der Autobahn GmbH vom 23. August 2024 heißt es, dass eine etwaige Sperrung der A 27 wegen des hohen Verkehrsaufkommens (DTV von 2021: 52.200 Kfz/24 h - SV 7.600/24h) im nachfolgenden Netz zu Staus führe und damit die Gefahr von Auffahrunfällen erhöhe. Dass diesen Gefahren etwa durch ein Verkehrssicherungskonzept sachgerecht begegnet werden könnte, ist nicht ersichtlich, zumal ein solches in der Kürze der Zeit überhaupt nicht aufgestellt und umgesetzt werden könnte. Hinzu kommt, dass entgegen der vom Verwaltungsgericht offenbar vertretenen Auffassung eine Dauer der Autobahn-Vollsperrung von 12:00 Uhr bis 13:00 Uhr keinesfalls ausreichen wird. Denn in diesem Zeitraum soll bereits die von der Antragstellerin angemeldete Demonstration stattfinden, so dass die Streckensperrungen bereits zu einem deutlich früheren Zeitpunkt stattfinden müssen. Auch nach Versammlungsende muss unter anderen noch eine Kontrolle der Autobahn auf möglicherweise zurückgebliebene Gegenstände etc. durchgeführt werden, bevor der Abschnitt für den Verkehr wieder freigegeben werden kann (vgl. Senatsbeschl. v. 20.4.2024 - 4 ME 77/24 -, juris Rn. 21). Die Sperrmaßnahme wäre also für deutlich länger als eine Stunde erforderlich, womit sich die Staugefahren und Unfallgefahren entsprechend erhöhen.

Hinzu kommt, dass vorliegend nicht ersichtlich ist, wie die vom Verwaltungsgericht angeordnete Autobahn-Vollsperrung in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit noch sachgerecht geplant und umgesetzt werden soll. Hierbei ist bereits die erforderliche Planung des Einsatzes von Personal der Polizei sowie der Autobahn GmbH zu berücksichtigen. Zudem müssten die entsprechenden Absperrmaßnahmen und Umleitungsausschilderungen im laufenden Verkehr an der Anschlussstelle Achim Nord sowie im Bremer Kreuz erfolgen. Auch entsprechende frühzeitige Ausschilderungen auf den Autobahnen A 27 und A 1 wären erforderlich, mitsamt entsprechenden Stauwarnungen und ggf. der Anordnung von Geschwindigkeitsbeschränkungen. Eine sachgerechte Information der Bevölkerung und des Reiseverkehrs erscheint in der Kürze der Zeit ebenfalls kaum mehr möglich.

Aus den vorgenannten Gründen wäre eine Vollsperrung der A 27 zur Herstellung praktischer Konkordanz nicht erforderlich gewesen. Da der Beschwerdeantrag der Antragsgegnerin aber nur darauf gerichtet ist, den Sperrungszeitraum von einer Stunde auf eine halbe Stunde zu reduzieren, ist der Senat an diese Antragstellung gebunden. Dem Beschwerdeantrag der Antragsgegnerin ist aus den vorgenannten Gründen stattzugeben, da mit der Reduzierung der Sperrungsdauer jedenfalls eine gewisse Reduzierung der Staugefahren und der Unfallgefahren verbunden ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 1.5 Satz 2 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit - Fassung 2013 - (NordÖR 2014,11).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).