Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 10.12.2015, Az.: 7 MS 8/15

Naturschutz; Raumordnung; Umweltvereinigung; Veränderungssperre; Zielabweichung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
10.12.2015
Aktenzeichen
7 MS 8/15
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2015, 45173
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Zur Frage, ob ein nach § 6 Abs. 2 ROG ergangener Zielabweichungsbescheid für ein Deponievorhaben einer Inzidentkontrolle im Anfechtungsstreit gegen den Planfeststellungsbeschluss für das Vorhaben unterliegt (hier offen gelassen).

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Planfeststellungsbeschluss des Antragsgegners vom 28. Januar 2015 wird wiederhergestellt.

Der Antragsgegner und die Beigeladene tragen jeweils ihre eigenen außergerichtlichen Kosten und von den übrigen Kosten des Verfahrens je die Hälfte.

Der Wert des Streitgegenstands wird auf 15.000,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Die Beigeladene beantragte unter dem 4. März 2011 die Planfeststellung für die Errichtung und den Betrieb einer Abfalldeponie als Deponie der Klasse I. Der geplante Deponiestandort liegt im Außenbereich der Gemeinde Selsingen nordöstlich der Ortslage Haaßel und westlich der Ortschaft Anderlingen. In unmittelbarer Umgebung des Standortes schließen sich landwirtschaftliche Nutzflächen sowie westlich und nordwestlich Waldflächen an. In der Deponie sollen mineralische Abfälle (z.B. Boden, Bauschutt) abgelagert werden. Die Deponiefläche sollte sich nach den ursprünglichen Planunterlagen auf eine Fläche von ca. 24,5 ha erstrecken, das Abfallvolumen innerhalb einer Basis- und Oberflächenabdichtung sollte ca. 1.800.000 m³ umfassen. Den Planunterlagen war u.a. ein Landschaftspflegerischer Begleitplan (LBP) mit integrierter Umweltverträglichkeitsstudie (UVS) des Büros E. beigegeben. Die Planunterlagen wurden im Internet veröffentlicht und lagen in der Zeit vom 28. März 2011 bis zum 27. April 2011 in den Gemeinden Anderlingen und Selsingen zur Einsichtnahme aus. Das Antragsverfahren wurde durch einen sog. Runden Tisch begleitet, an dem u.a. eine gegen die Deponieplanung eingestellte Bürgerinitiative und auch der Antragsteller teilnahmen. In der Folgezeit wurden die Planunterlagen mit dem Ziel einer Reduzierung der Deponiekapazität überarbeitet. Danach sollen die Ablagerungsflächen auf 9,94 ha verkleinert und das tatsächlich nutzbare Deponievolumen auf bis zu 640.000 m³ verringert werden. Die von der eigentlichen Deponie inklusive der Randwälle bedeckte Grundfläche soll ca. 260 m breit und ca. 270 m lang sein. Die Aufhaldung soll bis auf gut 28 m über Geländeoberkante erfolgen.

Die geänderten Planunterlagen wurden im Internet veröffentlicht und in der Zeit vom 27. Mai 2013 bis zum 28. Juni 2013 in den Gemeinden Anderlingen und Selsingen ausgelegt. Der Erörterungstermin fand am 11. und 12. Dezember 2013 in der Gemeinde Selsingen statt.

Der Antragsteller ist eine nach dem Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz (UmwRG) anerkannte Naturschutzvereinigung. Im Rahmen der Verbandsbeteiligung nahm er zu dem Vorhaben Stellung und erhob Einwendungen, mit denen er das Projekt auch nach Änderung der Planunterlagen insbesondere wegen erheblicher negativer Auswirkungen auf die Umwelt infrage stellte.

Der Antragsgegner stellte den Plan unter dem 28. Januar 2015 fest. Zugleich erteilte er der Beigeladenen die wasserrechtliche Erlaubnis zur Einleitung von nicht verunreinigtem Niederschlagswasser vom Deponiegelände in das Gewässer Haaßel-Windershuser Abzugsgraben und vom Parkplatz sowie den Dachflächen des Bürocontainers in ein geplantes Versickerungsbecken. Die für nicht erledigt erklärten oder gegenstandslos erachteten Einwendungen und Stellungnahmen zu dem Vorhaben wies der Antragsgegner zurück. Die sofortige Vollziehung des Planfeststellungsbeschlusses und der wasserrechtlichen Erlaubnis wurde angeordnet.

Der Planfeststellungsbeschluss wurde dem Antragsteller am 3. Februar 2015 zugestellt. Am 4. Februar 2015 hat er Klage erhoben (7 KS 7/15), über die noch nicht entschieden ist, und den vorliegenden Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung dieser Klage gestellt. Der Antragsgegner und die Beigeladene sind seinem Begehren entgegengetreten und verteidigen den Planfeststellungsbeschluss.

II.

1. Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den auf der Grundlage des § 35 Abs. 2 KrWG ergangenen Planfeststellungsbeschluss ist gemäß §§ 80 Abs. 5 Satz 1, 80a Abs. 3 Satz 2 VwGO zulässig.

Das Oberverwaltungsgericht ist als Gericht der Hauptsache i.S. des § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 VwGO i.V.m. § 48 KrWG für den Antrag zuständig.

Der Antragsteller ist gemäß § 2 Abs. 1 UmwRG nach Maßgabe des § 42 Abs. 2 VwGO klage- und dementsprechend antragsbefugt. Das UmwRG ist nach dessen § 1 Abs. 1 Nr. 1 a) anwendbar, weil für das streitige Deponievorhaben gemäß § 3b Abs. 1 Satz 1 UVPG i.V.m. Nr. 12.1 der Anlage 1 eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen war. Der Antragsteller ist eine anerkannte Umweltvereinigung i.S. der §§ 3, 5 Abs. 2 UmwRG. Er kann gemäß § 2 Abs. 1 UmwRG eine Verletzung dem Umweltschutz dienender Vorschriften geltend machen, ohne eine Verletzung in eigenen Rechten geltend machen zu müssen. Für die Antragsbefugnis reicht es aus, dass er eine Verletzung seiner Beteiligungsrechte nach § 63 Abs. 2 Nr. 6 BNatSchG, § 9 Abs. 1 Satz 4 UVPG (vgl. zum Verfahrensrecht Bunge, UmwRG, § 2 Rn 42; Nds. OVG, Beschl. v. 5.3.2008 - 7 MS 114/07 -, juris Rn 37) sowie von Vorschriften des materiellen Umweltrechts rügt, insbesondere solche des Habitat-, Biotop- und Artenschutzrechts. Eine Rechtsbehelfseinlegung nach § 64 Abs. 1 BNatSchG hat gemäß § 1 Abs. 3 UmwRG außer Betracht zu bleiben.

2. Der Antrag ist auch begründet.

Das Interesse des Antragstellers an einer Aussetzung der sofortigen Vollziehung des Planfeststellungsbeschlusses überwiegt das öffentliche Interesse und das private Interesse der Beigeladenen an der Aufrechterhaltung des Sofortvollzugs.

Nach dem hier einschlägigen § 4a Abs. 3 UmwRG ist § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO mit der Maßnahme anzuwenden, dass das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen oder wiederherstellen kann, wenn im Rahmen einer Gesamtabwägung ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts bestehen. Mit dieser Regelung knüpft § 4a Abs. 3 UmwRG an die allgemeinen für Anträge auf gerichtliche Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs geltenden Maßstäbe an. In Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO bzw. § 80a Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht auf der Grundlage einer eigenen Abwägung der widerstreitenden Vollzugs- und Suspensivinteressen. Wesentliches Element dieser Interessenabwägung ist die Beurteilung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache, die dem Charakter des Eilverfahrens entsprechend nur aufgrund einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage erfolgen kann. Ist es - wegen der besonderen Dringlichkeit einer alsbaldigen Entscheidung oder wegen der Komplexität der Sach- und Rechtsfragen - nicht möglich, die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache wenigstens summarisch zu beurteilen, so sind allein die einander gegenüberstehenden Interessen unter Berücksichtigung der mit der Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung einerseits oder deren Ablehnung andererseits verbundenen Folgen zu gewichten. § 4a Abs. 3 UmwRG modifiziert diesen Prüfungsmaßstab nur bezogen auf die gebotene Berücksichtigung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs, an dem Erfordernis einer umfassenden Interessenabwägung ändert sich hingegen nichts (BVerwG, Beschl. v. 16.10.2014 - 7 VR 2.14 u.a. -; Beschl. v. 29.10.2014 - 7 VR 4.13 -; Beschl. v. 23.01.2015 - 7 VR 6.14 -; sämtlich zitiert nach juris).

Nach summarischer Prüfung sind hier ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Planfeststellungsbeschlusses vom 28. Januar 2015 gegeben.

Zur Begründung seines Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes und seiner Klage hat der Antragsteller umfangreiche Einwendungen gegen den Planfeststellungsbeschluss erhoben und macht neben einer Verletzung seiner Beteiligungsrechte nach § 63 Abs. 2 Nr. 6 BNatSchG i.V.m. § 9 Abs. 1 Satz 4 UVPG vor allem Verstöße gegen materielles Umweltrecht geltend. Ob der Antragsteller mit seinen Einwendungen im Verfahren zur Hauptsache nach Maßgabe des § 2 Abs. 5 UmwRG durchdringen kann, lässt sich derzeit nicht sicher abschätzen, jedenfalls kann die Frage nicht eindeutig verneint werden. Der Antragsgegner und die Beigeladene haben - jeweils nach zugesprochener Verlängerung der ihnen gesetzten Stellungnahmefristen - zu der umfangreichen Klage- und Antragsbegründung ihrerseits umfangreich mit Schriftsätzen vom 30. Juni 2015 bzw. 15. Juli 2015 erwidert, wobei der Antragsgegner unter dem 22. Juli 2015 eine ergänzende fachliche Stellungnahme des Landesamts für Bergbau, Energie und Geologie vom 16. Juli 2015 zu den Belangen Hydrogeologie und Boden und die Beigeladene eine fachgutachterliche Stellungnahme des Planungsbüros F. & G. GmbH vom 10. Juli 2015 zu strittigen Fragen naturschutzfachlicher Art nachgereicht haben. Der Umstand, dass die Antragserwiderungen des Antragsgegners und der Vorhabenträgerin mehrere Monate vorbereitet wurden, zeigt, dass das Vorbringen des Antragstellers - auch aus Sicht der übrigen Beteiligten - nicht von vornherein von der Hand zu weisen ist, sondern einer vertiefenden Auseinandersetzung bedarf. Hinzu kommt, dass der Planfeststellungsbeschluss sich zu den Einwendungen des Antragstellers im Beteiligungsverfahren nicht ausdrücklich verhält. In dem verfügenden Teil unter I. 5. des Beschlusses werden die im Anhörungsverfahren eingegangenen Stellungnahmen und Einwendungen zurückgewiesen, soweit sie nicht im Laufe des Verfahrens sowie durch Regelungen in diesem Beschluss berücksichtigt, durch Änderung oder Auflagenerteilung gegenstandslos geworden, zurückgenommen oder für erledigt erklärt worden sind. Unter VI. (S. 104) heißt es zu den Stellungnahmen der beteiligten Behörden, Träger öffentlicher Belange (TÖB) und sonstigen Verfahrensbeteiligten, dass die Einwendungen thematisch im Kontext mit den einzelnen fachlichen und rechtlichen Belangen in diesem Beschluss behandelt worden seien. Dabei sei auch das Protokoll über den Erörterungstermin herangezogen worden, in dem die Stellungnahmen der Träger öffentlicher Belange und die Einwendungen intensiv erörtert worden seien. Wegen der Einzelheiten zur Erörterung werde auf die Niederschrift verwiesen. Eine Beurteilung dahingehend, dass die Einwendungen des Antragstellers unbegründet seien bzw. im Hauptsacheverfahren nicht zu einem Aufhebungsanspruch oder zumindest einem Anspruch auf Feststellung der Rechtswidrigkeit und Nichtvollziehbarkeit des Planfeststellungsbeschlusses führen können, wird dadurch erschwert. Es bedarf einer über die hier nur gebotene summarische Prüfung hinausgehenden umfassenden Auswertung der Begründung, damit nachvollzogen werden kann, aus welchen Gründen den Einwendungen des Antragstellers nicht gefolgt worden ist.

Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Planfeststellungsbeschlusses bestehen - unabhängig von den vorstehenden Ausführungen - zum einen mit Blick auf die Vereinbarkeit des Vorhabens mit dem Raumordnungsrecht. Der Deponiestandort befindet sich in einem im Regionalen Raumordnungsprogramm 2005 für den Landkreis Rotenburg (Wümme) - im Folgenden: RROP - als Ziel der Raumordnung nach Maßgabe der §§ 3 Abs. 1 Nr. 2, 7 Abs. 1 ROG, 5 Abs. 3 NROG festgelegten Vorranggebiet für Natur und Landschaft. Der Antragsgegner hat nicht verkannt, dass das Vorhaben der Beigeladenen dieser Festlegung grundsätzlich widerspricht. Insoweit beruft er sich auf den Zielabweichungsbescheid des Landkreises Rotenburg (Wümme) vom 19. März 2010 (PFB S. 73 ff.), auf den auch in den Antragsunterlagen Bezug genommen wird (BA H, LBP S. 4 f.; BA I, Anl. 19) und demzufolge das Ziel des Vorrangs von Natur und Landschaft hier nicht beachtet werden muss. Der Antragsgegner und die Beigeladene verweisen auf die Bestandskraft und Bindungswirkung der Zulassung der Zielabweichung. In dieser Hinsicht bestehen aber noch Fragen, die einer Beurteilung im Verfahren zur Hauptsache vorbehalten bleiben müssen. Zunächst fällt auf, dass der Zielabweichungsbescheid vom 19. März 2010 datiert, nachdem das Abweichungsverfahren bereits im Januar 2010 eingeleitet worden war (vgl. PFB S. 2, BA A Bl. 13). Die Beigeladene hat den Antrag auf Planfeststellung demgegenüber erst im März 2011 gestellt und die Antragsunterlagen unter dem Eindruck des Ergebnisses des sog. Runden Tisches wesentlich geändert. Auch wenn die Änderung vor allem eine Reduzierung der Deponiekapazität zum Gegenstand hatte, so lässt sich nicht ohne weiteres feststellen, dass das planfestgestellte Vorhaben noch demjenigen entspricht, welches Gegenstand des vorangegangenen Zielabweichungsverfahrens gewesen ist. Dies könnte u.a. deshalb zweifelhaft sein, weil der Landkreis Rotenburg (Wümme) als TÖB im Beteiligungsverfahren mit Schreiben vom 1. Juli 2013 ausgeführt hat, Grundlage des Zielabweichungsverfahrens sei (lediglich) ein „erstes Vorhabenskonzept der Fa. H.“ gewesen, welches am 7. Dezember 2009 vorgelegt worden sei. Damit gemeint ist offenbar das vom Ingenieurbüro I. erarbeitete Konzept (BA A Bl. 1 ff.), in welchem das Deponievorhaben in einer von dem später planfestgestellten Vorhaben abweichenden Ausführung beschrieben wurde. So war seinerzeit vorgesehen, die Flurstücke J., K., L. und M. (der Flur N., Gemarkung O..) für das Deponiegelände zu nutzen, während das planfeststellte Vorhaben sich auf die Flurstücke J., K., L., P., Q. und R. erstreckt. Unterschiede ergeben sich u.a. auch in Bezug auf die von der eigentlichen Deponie bedeckte Grundfläche, das Ablagerungsvolumen, das jährliche Abfallaufkommen sowie das LKW-Transportaufkommen. Darüber hinaus hat der Landkreis in seiner Stellungnahme als TÖB auf formelle und materielle Mängel des Zielabweichungsverfahrens hingewiesen und als Fazit auf die Durchführung eines neuen Abweichungsverfahrens gedrängt.

Es stellt sich allerdings in diesem Zusammenhang die weitere Frage, ob der Antragsteller sich im Anfechtungsstreit gegen den Planfeststellungsbeschluss auf eine Rechtswidrigkeit der Zielabweichungsentscheidung berufen kann. Der Antragsgegner und die Beigeladene sind dem Gedanken einer Inzidentprüfung zwar mit nachvollziehbarer Begründung entgegengetreten. Nach der von ihnen zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschl. v. 25.6.2007 - 4 BN 17.07 -, juris) scheidet die Überprüfung einer bestandskräftigen Abweichungsentscheidung jedenfalls im Rahmen der Normenkontrolle eines Bebauungsplans angesichts der von dieser Entscheidung ausgehenden Bindungswirkung aus. Die Bestandskraft der Abweichungsentscheidung wirke nur im Verwaltungsrechtsverhältnis zwischen der Gemeinde, die die Abweichung beantragt habe, und der entscheidenden Behörde. Darüber hinaus greife jedoch die Tatbestandswirkung der Entscheidung. Das folge aus Art. 20 Abs. 3 GG und § 43 VwVfG. Danach sei ein (rechtswirksamer) Verwaltungsakt grundsätzlich von allen Staatsorganen zu beachten und ihren Entscheidungen als gegeben zugrunde zu legen. Dies gelte auch für rechtsförmliche, rechtsbehelfsfähige Abweichungsentscheidungen in einem Zielabweichungsverfahren i.S. von § 11 ROG (a.F., jetzt: § 6 ROG; vgl. auch OVG NRW, Urt. v. 4.7.2012 - 10 D 47/10.NE - juris). Allerdings hat das Bundesverwaltungsgericht, worauf der Antragsteller zutreffend hinweist, die Möglichkeit einer Inzidentprüfung von Zielabweichungsentscheidungen nicht gänzlich verworfen. In seinem Beschluss vom 15. Juli 2005 (- 9 VR 43.04 -, juris) hat es in einem Rechtsschutzverfahren gegen einen Planfeststellungsbeschluss für ein Straßenbauvorhaben ausgeführt, die Entscheidung im Zielabweichungsverfahren sei, weil sie von der Beachtung eines ursprünglichen anderweitigen Raumordnungsziels befreie, in dessen Konsequenz die Antragstellerin jenes Verfahrens nicht von dem Planvorhaben betroffen wäre, im Anfechtungsrechtsstreit gegen den Planfeststellungsbeschluss inzident auf ihre Rechtmäßigkeit und auf die Auswirkungen etwaiger Rechtsmängel zu überprüfen (vgl. auch Goppel, in: Spannowsky/Runkel/Goppel, ROG, § 6 Rn 50). Eine abschließende Beurteilung, ob Mängel der Zielabweichungsentscheidung im vorliegenden Planfeststellungsverfahren rügefähig sind und auch vom Antragsteller gemäß § 2 Abs. 5 UmwRG mit Erfolg gerügt werden können, muss unter diesen Umständen dem Verfahren in der Hauptsache vorbehalten bleiben. Ein Verstoß gegen Rechtsvorschriften, die i.S. von § 2 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 UmwRG dem Umweltschutz dienen, erscheint jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen, sofern von der gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 ROG mit Verbindlichkeit für das Planfeststellungsverfahren versehenen Zielfestlegung in der Gestalt des Vorranggebiets für Natur und Landschaft in fehlerhafter Weise abgewichen worden sein sollte.

Nicht eindeutig zu beantworten erscheint dem Senat bei summarischer Prüfung weiterhin, ob der Antragsgegner im Rahmen der Abwägung hinreichend berücksichtigt hat, dass der Deponiestandort in einem inzwischen durch die Verordnung über das Naturschutzgebiet „Haaßeler Bruch“ in den Gemarkungen Haaßel, Gemeinde Selsingen, Anderlingen und Ohrel, Gemeinde Anderlingen, Landkreis Rotenburg (Wümme) vom 17. Dezember 2014 (im Folgenden: NSG-VO) geschützten Naturraum gelegen ist. Zutreffend weisen der Antragsgegner und die Beigeladene darauf hin, dass die Verordnung erst am 1. Februar 2015 in Kraft getreten ist und damit in dem für die Beurteilung des Planfeststellungsbeschlusses maßgeblichen Zeitpunkt (28.1.2015) die Verbotstatbestände gemäß § 23 Abs. 2 Satz 1 BNatSchG i.V.m. § 3 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 10 und 14 der NSG-VO noch nicht gegolten haben. Zu berücksichtigen ist indes, dass die Verordnung bereits am 17. Dezember 2014 vom Kreistag des Landkreises Rotenburg (Wümme) beschlossen wurde, d.h. mit ihrem Inkrafttreten konnte und musste im Zeitpunkt der Beschlussfassung über den Plan ausgegangen werden. Dementsprechend dürfte es geboten gewesen sein, die NSG-VO einschließlich ihrer Schutzgegenstände und -zwecke (§ 2) sowie Schutzbestimmungen (§ 3) in die Abwägung einzustellen und entsprechend ihrer Bedeutung zu gewichten. Ob der Planfeststellungsbeschluss diesen Anforderungen genügt, erscheint ernstlich zweifelhaft. In der Begründung (PFB, S. 81) heißt es, der Landkreis Rotenburg (Wümme) habe der Planfeststellungsbehörde mit E-Mail vom 10. Juli 2014 seinen Beschluss mitgeteilt, wonach er beabsichtige, das Plangebiet - zumindest Teile des Plangebietes - sowie die großflächige Umgebung unter Naturschutz zu stellen. Das erforderliche Verordnungsverfahren sei eingeleitet. Über den Abschluss des Verfahrens bzw. das Inkrafttreten der Verordnung liege der Planfeststellungsbehörde keine Mitteilung vor. Damit wird der Verfahrensstand betreffend den Erlass der Schutzgebietsverordnung aber nur unzureichend wiedergegeben. Denn dem Antragsgegner wurde im Beteiligungsverfahren gemäß § 14 Abs. 1 NAGBNatSchG ein Verordnungsentwurf (Stand 22.9.2014) zugeleitet, der eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der beabsichtigten Unterschutzstellung ermöglicht hat. Es erscheint danach fraglich und lässt sich bei summarischer Prüfung nicht sicher beurteilen, ob der Antragsgegner im Rahmen der Abwägung einen hinreichend aktuellen und aussagekräftigen Verordnungsentwurf berücksichtigt hat.

Wegen der Unterschutzstellung des Deponiegeländes als Naturschutzgebiet wird im Planfeststellungsbeschluss vorrangig auf den Prioritätsgrundsatz abgehoben und darauf hingewiesen, dass mit Auslegung der Deponieunterlagen die gesetzliche Veränderungssperre gemäß § 26 NAbfG zur Geltung gekommen sei. Nach Abs. 1 dieser Vorschrift dürfen von Beginn der Auslegung der Pläne im Planfeststellungsverfahren für eine Deponie nach § 35 Abs. 2 KrWG oder von dem Zeitpunkt an, zu dem den Betroffenen Gelegenheit gegeben wird, den Plan einzusehen, auf den vom Plan betroffenen Flächen wesentlich wertsteigernde oder die Errichtung der geplanten Deponie erheblich erschwerende Veränderungen nicht vorgenommen werden (Veränderungssperre). Veränderungen, die in rechtlich zulässiger Weise vorher begonnen worden sind, Unterhaltungsarbeiten und die Fortführung einer bisher rechtmäßig ausgeübten Nutzung werden hiervon nicht berührt. Die NSG-VO verstößt aller Voraussicht nach nicht gegen die Veränderungssperre, denn deren Wirkung beschränkt sich - wie dargelegt - auf Veränderungen auf den vom Plan betroffenen Flächen. Gemeint sind damit tatsächliche Veränderungen, nicht aber rechtliche Unterschutzstellungen (vgl. zu § 14 Abs. 1 Nr. 2 BauGB: Lemmel, in Berliner Kommentar zur BauGB, Stand: November 2015, § 14 BauGB, Rn 18). Eine Abwägung konkreter Zielsetzungen der NSG-VO bzw. des Verordnungsentwurfs findet sich in der Begründung des Planfeststellungsbeschlusses nicht. Dies ist nicht von vornherein unbedenklich. Der Vortrag der Beigeladenen, die NSG-VO sei als eine rechtlich nicht haltbare Verhinderungsplanung anzusehen, wirft weitere Fragen auf, die im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht geklärt werden können.

Einer näheren Betrachtung im Verfahren zur Hauptsache vorbehalten bleiben muss weiterhin, ob die Ermittlung und Bewertung der Umweltauswirkungen einer rechtlichen Überprüfung Stand hält. Auch dies lässt sich bei summarischer Prüfung nicht eindeutig beantworten. So heißt es etwa unter IV.C.2 zur Bewertung der Umweltauswirkungen gemäß § 12 UVPG (PFB S. 48 ff., 58) zum anlagebedingten Verlust von Biotopen (HWS, GNR, GMF, GMS) der Wertstufe IV, dass von den Zerstörungs- und Entschädigungsverboten nach § 30 Abs. 3 BNatSchG eine Ausnahme zugelassen werden könne, weil die erheblichen Beeinträchtigungen ausgleichbar seien (vgl. PFB S. 80 f.). Bei der zusammenfassenden Darstellung der Umweltauswirkungen gemäß § 11 UVPG unter IV.C.1. wird demgegenüber festgestellt (PFB S. 39), der Verlust der nährstoffreichen Nasswiese (GNR) werde durch die vorgesehene Ausgleichsmaßnahme nicht kompensiert, da die geplante Maßnahme A/E1 keine Vernässung der Flächen beinhalte bzw. auf keinem adäquaten Standort erfolge. Es erschließt sich nicht ohne weiteres, ob dieser Widerspruch an anderer Stelle des Planfeststellungsbeschlusses aufgelöst wird und weiterhin auch, ob der Antragsgegner die von ihm selbst konstatierten zahlreichen ungeklärten Sachverhalte/Wissenslücken (vgl. PFB S. 36, 39, 44, 45) unter Vorsorgegesichtspunkten hinreichend bewertet hat.

Der Planfeststellungsbeschluss geht u.a. von erheblichen Beeinträchtigungen gefährdeter und streng geschützter Brutvogelarten (Neuntöter, Feldlerche, Kiebitz, Kuckuck) aus (vgl. PFB S. 53). Diese sollen durch vorgezogene Ausgleichmaßnahmen (CEF-Maßnahmen) i.S. des § 44 Abs. 5 Satz 3 BNatSchG - u.a. durch die Entwicklung von artenreichem Extensivgrünland auf Ackerstandorten und Umsetzung einer Wallhecke - kompensiert werden. Ob die Ausgleichsmaßnahmen tragfähig sind, bedarf nach den umfangreichen Einwendungen des Antragstellers ebenfalls noch einer näheren Betrachtung im Klageverfahren.

Die danach - im Hinblick auf den derzeit als offen zu bezeichnenden Ausgangs des Verfahrens in der Hauptsache - gebotene folgenorientierte Interessenabwägung führt zur Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der gegen den Planfeststellungsbeschluss erhobenen Klage. Die Durchführung des Deponievorhabens führt zu erheblichen Eingriffen in Natur und Landschaft, insbesondere zu Verlusten von gesetzlich geschützten Grünlandflächen, einer geschützten nährstoffreichen Nasswiese und einer geschützten Wallhecke. Damit einher gehen u.a. der Verlust eines Brutreviers für den gefährdeten Neuntöter, betriebsbedingte Störungen des Neuntöters und weiterer Brutvogelarten sowie eine erhebliche Beeinträchtigung eines Lebensraums für die Sumpfschrecke (vgl. LBP S. 51 f., Tabelle 12). Der Antragsteller hat mit Schriftsatz vom 23. März 2015 weitere anlagen- und betriebsbedingte erhebliche Umwelteinwirkungen geltend gemacht - die von ihm zusätzlich geltend gemachten baubedingten Beeinträchtigungen können hier außer Betracht bleiben -, die entgegen der Sichtweise des Antragsgegners und der Beigeladenen bei einem Erfolg der Klage nicht oder nur mit hohem Aufwand rückgängig gemacht werden könnten. Die Nachteile, die dem Antragsgegner und der Beigeladenen durch die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung entstehen, sind ihnen unter diesen Umständen einstweilen zuzumuten. Dies gilt insbesondere für das wirtschaftliche Interesse der Beigeladenen daran, das Deponievorhaben realisieren zu können, aber auch für das öffentliche Interesse des Antragsgegners an einer Deckung des Bedarfs für Deponievolumen der Klasse I. Insoweit ist auf eine Inanspruchnahme noch vorhandener Deponiekapazitäten zu verweisen. Zu bedenken gibt der Senat im Übrigen, dass der Planfeststellungsbeschluss selbst nicht in jeder Hinsicht auf seine sofortige Vollziehbarkeit angelegt ist. Unter III.H.3.12.b. und c. der Nebenbestimmungen und Hinweise heißt es, dass die dort bezeichneten Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen - unter ihnen die als CEF-Maßnahmen vorgesehenen Maßnahmen A/E1 und A7 - in konkret angegebenen Zeiträumen „nach Bestandskraft der Genehmigung“ durchzuführen seien. Im Falle einer sofortigen Vollziehung des Planfeststellungsbeschlusses ist damit nicht gesichert, dass die Maßnahmen entsprechend ihrer gesetzlichen Funktion auch tatsächlich vor Eintritt der Beeinträchtigung vorgezogen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 und 3, 159 Satz 1 VwGO.