Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 23.11.2017, Az.: 8 ME 113/17

Ausweisung; Straftaten; Traumatherapie; Umgang; Umgangsrecht; Umgangsverfahren; familiengerichtliches Verfahren; Wiederholungsgefahr

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
23.11.2017
Aktenzeichen
8 ME 113/17
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2017, 54020
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 02.08.2017 - AZ: 1 A 11/17 und 1 B 12

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Bei der Ausweisung eines Ausländers, der im familiengerichtlichen Verfahren eine Regelung des Umgangs mit seinen Kindern erstrebt, begründet der Wunsch, während der Dauer dieses Verfahrens im Bundesgebiet zu bleiben, kein im Rahmen des § 53 Abs. 1 AufenthG zu berücksichtigendes Bleibeinteresse. Ist der vorübergehende Aufenthalt im Hinblick auf Art. 8 Abs. 1 EMRK zu ermöglichen, so kann dies zur Erteilung einer Duldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG bzw. zur Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs gegen die Ausweisung führen.

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen die Ablehnung des Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch den Beschluss des Verwaltungsgerichts Göttingen - 1. Kammer - vom 2. August 2017 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens und unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Göttingen - 1. Kammer - vom 2. August 2017 der Streitwert des erstinstanzlichen Verfahrens vorläufigen Rechtsschutzes werden auf jeweils 7.500,00 EUR festgesetzt.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Aus den mit ihr dargelegten Gründen, auf deren Prüfung das Oberverwaltungsgericht beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass das Verwaltungsgericht den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zu Unrecht abgelehnt hätte.

Beschwerdegründe trägt der Antragsteller allein gegen die Ablehnung der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen seine Ausweisung vor. Er macht geltend, er habe seine Tat mit der Kindesmutter aufzuarbeiten versucht. 2013 habe es einen Besuchskontakt mit seinen Kindern gegeben. In dem Beschwerdeverfahren über die Umgangsentscheidung das AG Hameln sei ein Sachverständigengutachten einzuholen. Damit sollten die Folgen eines Umgangs unter Berücksichtigung der Erkenntnisse aus der Diagnostik der Kinder und der psychiatrischen Gutachten über den Antragsteller einbezogen werden. Damit werde die Ansicht vertreten, dass im Rahmen einer Aufarbeitung der traumatisierenden Angelegenheit der Antragsteller einbezogen werden müsse. Diese Möglichkeit dürfe dem Kindesvater nicht durch den Sofortvollzug der Ausweisung genommen werden. Eine Trauma-Aufarbeitung im Rahmen einer Traumatherapie sei ohne den Antragsteller nicht möglich. Die Notwendigkeit der Beteiligung des Antragstellers an einer eventuellen Aufarbeitung werde auch durch den Beweisbeschluss des Oberlandesgerichts im Umgangsverfahren belegt. Das Sachverständigengutachten im Umgangsverfahren sei abzuwarten. Der Sachverständige, der das angeblich negative Gutachten im Verfahren über die Haftentlassung zum 2/3-Zeitpunkt erstattet habe, sei wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt worden. Die vom Verwaltungsgericht angestellte Verhältnismäßigkeitsprüfung sei ermessensfehlerhaft.

Hieraus ergibt sich kein Überwiegen des Aussetzungsinteresses gegenüber dem Vollzugsinteresse.

1. Die Rechtmäßigkeit der Ausweisung ist keinen Zweifeln ausgesetzt.

Ermächtigungsgrundlage für die Ausweisung ist § 53 Abs. 1 AufenthG. Danach wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.

a. Der Aufenthalt des Antragstellers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Von ihm geht die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten aus. Das ist aus dem im 14. Lebensjahr einsetzenden und sich seitdem intensivierenden strafbaren Verhalten, den Umständen der Begehung insbesondere der vom LG Göttingen am 17. Juli 2012 abgeurteilten Taten, der Persönlichkeit des Antragstellers, wie sie sich aus diesem Urteil, dem Beschluss des AG Nienburg vom 28. April 2014 und den Vollzugsplänen ergibt, und der Spiel-, Alkohol- und Betäubungsmittelsucht des Antragstellers abzuleiten. Dass die Teilnahme an einigen - bei weitem nicht allen ihm empfohlenen - therapeutischen Angeboten im Vollzug daran schon etwas geändert hätte, lässt sich nicht feststellen. Vor diesem Hintergrund ist die Behauptung, der Antragsteller habe versucht, sein Verhalten mit der Kindesmutter aufzuarbeiten, nicht geeignet, an der Feststellung einer erheblichen Wiederholungsgefahr etwas zu ändern. Das gilt erst recht für die angebliche Reue des Antragstellers, die keine erkennbaren Auswirkungen in tatsächlichen Verhaltensweisen hat.

Daraus, dass der Antragsteller den Sachverständigen, der das Gutachten im Verfahren über die Haftentlassung zum 2/3-Zeitpunkt erstattet hat, wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt hat, ergibt sich ebenfalls nichts für die Frage der Wiederholungsgefahr. Zum einen ist angesichts der Vorgeschichte und der fehlenden für eine Verhaltensänderung sprechenden Tatsachen die Beurteilung der Wiederholungsgefahr auch ohne sachverständige Hilfe möglich. Zum anderen hat das Verwaltungsgericht sich nicht auf das Gutachten im strafvollstreckungsrechtlichen Verfahren gestützt. Es hat vielmehr die Feststellungen in dem Strafurteil als zutreffend angesehen, die das Landgericht seinerzeit mithilfe des Sachverständigen getroffen hatte. Deren Richtigkeit wird nicht dadurch in Zweifel gezogen, dass später ein anderes Gutachten des Sachverständigen durch den Antragsteller angegriffen wird.

b. Dagegen, dass das Verwaltungsgericht im Rahmen der nach §§ 54 f. AufenthG vorzunehmenden abstrakten Gewichtung ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1, 1a AufenthG und kein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse angenommen hat, wendet sich die Beschwerde nicht. Auch ihre Angriffe gegen die nach § 53 Abs. 1 AufenthG vorzunehmende Abwägung des Ausreiseinteresses mit dem Bleibeinteresse durch das Verwaltungsgericht bleiben ohne Erfolg. Bei dieser Abwägung sind gemäß § 53 Abs. 2 AufenthG nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Ausländers, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob er sich rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen.

Die Beschwerde verweist auf den 2013 stattgefundenen Besuchskontakt. Diesen hat das Verwaltungsgericht berücksichtigt. Es hat dem öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung angesichts der Gefährdungslage sogar für den Fall, dass die Beziehung zu den Kindern als besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse anzusehen sein sollte, größeres Gewicht beigemessen.

Am zutreffenden Ergebnis dieser Abwägung ändert der Vortrag nichts, eine Trauma-Aufarbeitung im Rahmen einer Traumatherapie sei ohne den Antragsteller nicht möglich. Dabei kann offen bleiben, ob glaubhaft gemacht ist, dass bei den Kindern des Antragstellers die Behandlung eines psychotraumatischen Leidens indiziert ist. Jedenfalls gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass dabei eine Therapieform zum Einsatz kommen könnte, bei der die Kinder mit dem Gewalttäter konfrontiert werden. Dies ist lediglich eine Spekulation, für die sich die Beschwerde auf keine Tatsachen und erst recht keine ärztliche, psychologische oder pädagogische Stellungnahme stützt. Gegen den Beschwerdevortrag spricht zudem, dass das AG Hameln in dem Beschluss vom 11. April 2017 davon ausging, dass Umgangskontakte des Antragstellers mit den Kindern B. und C. erst nach einer therapeutischen Aufarbeitung erfolgen könnten, und dass die Verfahrensbeiständin auch bezogen auf das Kind D. empfohlen hatte, direkte Kontakte nach einer Therapie aufzunehmen. Daraus ist zu folgern, dass dem Antragsteller während einer Therapie keine aktive Rolle zukommt. Die Therapie einer etwaigen psychotraumatischen Erkrankung der Kinder hätte nämlich das selbständige Ziel, dieser Erkrankung entgegenzuwirken, und wäre nicht bloß Mittel zu dem Zweck, Umgangskontakte durchführen zu können, wie die Beschwerde anzunehmen scheint.

Die Beteiligung des Antragstellers im familiengerichtlichen Verfahren über den Umgang mit seinen Kindern und die etwaige Notwendigkeit, ihn im Rahmen der Erstattung des in diesem Verfahren einzuholenden Gutachtens zu explorieren, begründen als bloß vorübergehende Gesichtspunkte kein Bleibeinteresse i.S.d. § 53 Abs. 1 AufenthG. Sie können zwar dem Vollzug der Ausweisung zeitweilig entgegenstehen (s.u. 2.), berühren deren Rechtmäßigkeit aber nicht.

Mit der Ausweisung wird darüber entschieden, ob der Aufenthalt des betroffenen Ausländers zu beenden und ihm die Wiedereinreise innerhalb der mit der Ausweisung verbundenen Sperrfrist zu versagen ist. Der Entscheidung liegt eine Abwägung des Interesses an der Aufenthaltsbeendigung an sich mit dem Bleibeinteresse an sich zugrunde. Nur solche Bleibeinteressen spricht § 53 Abs. 2 AufenthG an. Interessen, denen dadurch Rechnung getragen werden kann, dass die Aufenthaltsbeendigung nicht sogleich, sondern einige Wochen oder wenige Monate später erfolgt, sind hingegen nicht geeignet, die Gewichtung der für und gegen die Ausweisung sprechenden Belange zu verschieben.

Ein Interesse von bloß kurzer, vorübergehender Dauer ist das Interesse, während des familiengerichtlichen Verfahrens über den Umgang im Bundesgebiet anwesend zu sein. Ihm kann, wenn die entgegenstehenden Belange nicht überwiegen, gemäß § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG durch eine Duldung Rechnung getragen werden. Die Vorschrift betrifft Fälle, in denen dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen die vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern. Erst wenn im Anschluss an die familiengerichtliche Entscheidung Umgangskontakte tatsächlich aufgenommen worden sind und deswegen das auf die familiäre Lebensgemeinschaft bezogene Bleibeinteresse neu zu bewerten ist, kann sich dies auf die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung in diesem späteren Zeitpunkt auswirken.

2. Das Vollzugsinteresse wiegt schwerer als das Aussetzungsinteresse. Bei der im Rahmen der Prüfung des Antrags gemäß § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmenden Abwägung dieser Interessen ist auch das vorübergehende Interesse des Antragstellers zu berücksichtigen, während des familiengerichtlichen Verfahrens über den Umgang im Bundesgebiet anwesend zu sein und falls erforderlich im Rahmen der Anfertigung des dort einzuholenden Gutachtens exploriert zu werden. Sofern dieses Interesse einer Aufenthaltsbeendigung zeitweilig entgegensteht, kann dies auch das Aussetzungsinteresse erhöhen. Vorliegend ist das jedoch nicht der Fall, weil die Verhinderung weiterer Straftaten auch in dem vorübergehenden Zeitraum des Umgangsverfahrens höheres Gewicht hat.

Der Aufenthaltszweck der Teilnahme an einem familiengerichtlichen Verfahren ist zwar im Hinblick auf Art. 8 Abs. 1 EMRK von zu beachtender Bedeutung (OVG Saarland, Beschl. v. 5.3.2001 - 9 W 7/00 -, juris Rn. 41). Insbesondere kann es Art. 8 Abs. 1 EMRK verletzen, wenn gerade die Aufenthaltsbeendigung dazu führt, dass die gerichtliche Prüfung der Einräumung eines Umgangsrechts zunichte gemacht wird (vgl. EGMR, Urt. v. 11.7.2000 - 29192/95 -, NVwZ 2001, 547, 548). Auch wenn das Recht aus Art. 8 Abs. 1 EMRK durch die aus der Aufenthaltsbeendigung folgende Unmöglichkeit, am Umgangsverfahren persönlich teilzunehmen, betroffen ist, bedarf es aber der Prüfung, ob die Maßnahme gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt ist. Das ist hier der Fall. Die Durchsetzung der Ausweisung ist zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und der Rechte und Freiheiten anderer notwendig, d.h. verhältnismäßig. Von dem Antragsteller geht eine erhebliche Wiederholungsgefahr in Bezug auf Eigentums- und Körperverletzungsdelikte einschließlich massiver, das Leben gefährdender Gewalttaten aus. Es ist auch damit zu rechnen, dass sich die Gefahr jederzeit, insbesondere alsbald nach einer Haftentlassung verwirklicht. So wurde der Antragsteller am 14. November 1996 aus der Haft entlassen und beging am 1. Februar 1997 die nächste Straftat (AG Göttingen, Urt. v. 28.11.1997 - 53 Ds 46 Js 13340/97-89/97 -). Er wurde am 3. November 1998 aus der Haft entlassen und beging am 20. Januar 1999 eine gefährliche Körperverletzung (AG Seesen, Urt. v. 18.5.1999 - 4 Ls 600 Js 15233/99 -). Am 17. Januar 2001 wurde er wiederum aus der Jugendhaftanstalt entlassen und beging am 23. Juli 2001 nach einem heftigen Streit mit seiner Verlobten bei einem Polizeieinsatz einen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und eine Körperverletzung (AG Göttingen, Urt. v. 16.10.2002 - 53 Ls 46 Js 30431/01 - 223/01 -). Die Abwehr dieser Gefahr für hochwertige Rechtsgüter wiegt schwerer als das Interesse, im Umgangsverfahren persönlich beteiligt und nicht nur durch Anwälte vertreten zu sein. Auch dass die Aussagekraft des einzuholenden Gutachtens geringer sein mag, wenn es ohne Exploration des Antragstellers erstellt wird, hat gegenüber dem Interesse an der sofortigen Gefahrenabwehr geringeres Gewicht.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist abzulehnen. Der Beschwerde kommt aus den vorstehenden Gründen auch nach der im Prozesskostenhilfeverfahren nur vorzunehmenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.2.2007 -  1 BvR 474/05 -, NVwZ-RR 2007, 361, juris Rn. 11 f.) unter Berücksichtigung des Zwecks der Prozesskostenhilfebewilligung die gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erforderliche hinreichende Erfolgsaussicht nicht zu (vgl. zu im Hauptsacheverfahren einerseits und im Prozesskostenhilfeverfahren andererseits anzulegenden unterschiedlichen Maßstäben: BVerfG, Beschl. v. 8.7.2016 - 2 BvR 2231/13 -, juris Rn. 10 ff. m.w.N.).