Sozialgericht Oldenburg
Urt. v. 06.07.2011, Az.: S 61 KR 325/10

Berechnung des Krankengeldes anhand früherer Zeiträume ist als Ausnahme vom Grundsatz der Krankengeldbrechnung anhand des letzten Abrechnungsmonats zulässig; Berechnung des Krankengeldes anhand früherer Zeiträume als Ausnahme vom Grundsatz der Krankengeldberechnung anhand des letzten Abrechnungsmonats; Reduzierung der Arbeitszeit aus gesundheitlichen Gründen

Bibliographie

Gericht
SG Oldenburg
Datum
06.07.2011
Aktenzeichen
S 61 KR 325/10
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2011, 24174
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGOLDBG:2011:0706.S61KR325.10.0A

Tenor:

  1. 1.

    Die Beklagte wird verurteilt, die Krankengeldzahlungen seit der Arbeitsunfähigkeit am 04.09.2008 unter Änderung der konkludent ergangenen Auszahlungsbescheide neu zu berechnen und dabei das regelmäßige Einkommen der Klägerin aus der Zeit vor August 2008 zugrunde zu legen.

  2. 2.

    Die Beklagte wird verurteilt, die rückständigen Krankengeldzahlungen nachzuzahlen.

  3. 3.

    Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt höheres Krankengeld. Sie begehrt die Neuberechnung des festgesetzten Krankengeldes anhand ihres Einkommens im vorletzten Monat vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit.

2

Die Klägerin arbeitete seit 2006 als Altenpflegehelferin im Alten- und Pflegeheim D ... Bis einschließlich Juli 2008 verdiente sie monatlich 1320 EUR brutto (1015,01 EUR netto) monatlich. Mit Änderungsvertrag zum Arbeitsvertrag vom 14.07.2008 reduzierte die Klägerin die Arbeitszeit ab August 2008 von 130 auf 80 Stunden monatlich und verdiente 870 EUR brutto (655,34 EUR netto). Seit dem 04.09.2008 war sie arbeitsunfähig krank.

3

Am 30.09.2008 beantragte sie die Zahlung von Krankengeld. Sie trug vor, sie habe bis Juli 2008 monatlich 130 Stunden gearbeitet und ab August 2008 weniger verdient, weil sie die Arbeitszeit wegen ihrer Erkrankung reduziert habe.

4

Die Beklagte berechnete das Krankengeld anhand des reduzierten Einkommens im August 2008 und zahlte es in der Folge nach Vorlage entsprechender Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen regelmäßig aus. Seit dem 16.10.2008 erhielt die Klägerin Krankengeld in Höhe von 20,30 EUR brutto täglich. Der Anspruch auf Krankengeld endete am 04.03.2010 durch Zeitablauf.

5

Mit Schreiben vom 23.08.2010 beantragte die Klägerin die Neuberechnung des Krankengeldes anhand der Einkommen der letzten drei Monate vor ihrer Arbeitsunfähigkeit. Mit Schreiben vom gleichen Datum beantragte sie die Neuberechnung anhand der letzten 12 Monate vor Arbeitsunfähigkeit. Sie habe die Arbeitszeit ab August 2008 aus gesundheitliche Gründen in Absprache mit dem Arzt und dem Arbeitgeber auf 80 Stunden pro Monat reduziert, in der Hoffnung, sie könne noch eine Zeitlang arbeiten. Ihr Gehalt habe bis einschließlich Juli 2008 monatlich 1320 EUR brutto betragen.

6

Telefonisch bestätigte der Arbeitgeber der Klägerin gegenüber der Beklagten, die Klägerin habe vor August 2008 regelmäßig 1320 EUR verdient; die Arbeitszeit und entsprechend das Gehalt sei im August 2008 aus gesundheitlichen Gründen reduziert worden.

7

Mit Bescheid vom 16.09.2010 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Die Berechnung des Krankengeldes habe aus dem letzten vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit abgerechneten Entgeltabrechnungszeitraum zu erfolgen. Das Einkommen vor August 2008 sei nicht relevant.

8

Die Klägerin legte am 22.09.2010 Widerspruch ein. Sie begehrte damit eine Krankengeldberechnung anhand des letzten Einkommens zu einer Zeit als sie noch nicht krank war. Da sie im Monat August wegen Krankheit nur noch 80 Stunden habe arbeiten können, sei dieses Einkommen nicht maßgeblich.

9

Mit Widerspruchsbescheid vom 09.12.2010 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Sie bezieht sich zur Begründung auf§ 47 SGB V, wonach das im letzten vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit abgerechneten Kalendermonat erzielte Entgelt als Regelentgelt gelte. Eine Berechnung anhand des früheren Einkommens führe zu einer finanziellen Besserstellung gegenüber der Beschäftigungszeit. Das Krankengeld dürfe das kalendertägliche Nettoarbeitsentgelt nicht übersteigen. Wäre die Klägerin nicht ab dem 4.9.2008 arbeitsunfähig gewesen, hätte ihr weiterhin nur das reduzierte Gehalt in Höhe von 870 EUR brutto zur Verfügung gestanden.

10

Mit ihrer am 27.12.2010 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Im Monat August 2008 habe sie wegen Krankheit 50 Ausfallstunden gehabt. Der Arbeitgeber habe die Stundenreduzierung wegen ihrer Krankheit vorgeschlagen und sie sei darauf eingegangen, um ihren Arbeitsplatz zu erhalten. Es sei ihr freigestellt worden, nach völliger Gesundung wieder auf 130 Stunden monatlich zu erhöhen. Sie habe gehofft, dass dies bald wieder möglich sei. Zudem sei ihrem Mann seitens der Beklagten telefonisch die Auskunft erteilt worden, dass die Berechnung stets anhand der letzten 3 bis 12 Monate erfolge.

11

Die Klägerin beantragt,

  1. 1.

    die Beklagte zu verurteilen, die Krankengeldzahlung seit der Arbeitsunfähigkeit am 04.09.2008 unter Änderung der konkludenten Auszahlungsbescheide neu zu berechnen und dabei das regelmäßige Einkommen aus der Zeit vor August 2008 zugrunde zu legen,

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, die rückständigen Krankengeldzahlungen nachzuzahlen.

12

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

13

Sie führt ergänzend aus, die vertragliche Reduzierung der Arbeitszeit sei vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit wirksam gewesen. Eine Berechnung anhand der letzten drei Monate sei nur möglich, wenn das Einkommen in allen drei Monaten vom vereinbarten Einkommen abweiche. Eine Berechnung anhand der letzten 12 Monate sei nur bei einer nicht kontinuierlichen Arbeitsverrichtung möglich, zudem sei dafür eine Satzungsregelung erforderlich, die nicht vorliege.

14

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung einer Arbeitgeberauskunft. Diese bestätigte, die Reduzierung der Arbeitszeit sei aus gesundheitlichen Gründen erfolgt und legte den Änderungsvertrag vor. Vor der Reduzierung sei die Klägerin zuletzt vom 7.7.-11.7.2008 arbeitsunfähig krank geschrieben gewesen. Das Gericht hat zudem Beweis erhoben durch Einholung eines Befundberichts des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. E.vom 09.05.2011.

Entscheidungsgründe

15

Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig. Teilweise waren die Auszahlungsbescheide über das Krankengeld wegen Ablaufs der Jahresfrist schon bestandskräftig. Insofern lag in dem Antrag auf Neuberechnung vom 23.08.2010 ein Antrag nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Soweit die Widerspruchsfrist noch nicht abgelaufen war, ist in dem Begehren ein Widerspruch zu sehen. Das Widerspruchsverfahren wurde in beiden Fällen eingehalten.

16

Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Neuberechnung des Krankengeldes anhand des Einkommens im Juli 2008. Nach § 47 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) ist für die Berechnung des Regelentgelts das von dem Versicherten im letzten vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit abgerechneten Entgeltabrechnungszeitraum, mindestens das während der letzten abgerechneten vier Wochen (Bemessungszeitraum) erzielte Entgelt maßgeblich.

17

In Ausnahmefällen können aber frühere Zeiten maßgeblich sein. So liegt der Fall hier. Die gesetzliche Fiktion des§ 47 SGB V, dass aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung grundsätzlich die letzte Lohnabrechnung vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit zugrunde gelegt wird, ist nicht ausnahmslos anzuwenden. Abweichungen sind möglich, um dem Sinn und Zweck des§ 47 SGB V gerecht zu werden - nämlich den erlittenen Lohnausfall wirtschaftlichen auszugleichen. So hat etwa auch das BSG mit Urt. v. 17.8.1982 (Az. 3 RK 28/81, zitiert nach [...]) eine Berechnung des Krankengeldes anhand früherer Zeiträume durchgeführt und eine kurze Zwischenbeschäftigung nach irrtümlicher Gesundschreibung für unschädlich gehalten.

18

Zur Überzeugung der Kammer ergibt sich der durch Krankheit auszugleichende Lohn nicht aus dem Gehalt der Klägerin im August 2008, sondern im Juli 2008. Denn wirtschaftlicher Bezugspunkt der Krankengeldzahlung ist das Entgelt, das der Versicherte ohne die Erkrankung ausüben würde. Ohne die Erkrankung hätte die Klägerin die Arbeitszeit nicht reduziert und weiterhin 1320 EUR monatlich verdient.

19

Die Reduzierung der Arbeitszeit ab August 2008 ist allein aus gesundheitlichen Gründen erfolgt. Es lag faktisch bereits im August 2008 Arbeitsunfähigkeit vor, auch wenn diese noch nicht bescheinigt wurde. Arbeitsunfähigkeit ist die auf Krankheit beruhende Unfähigkeit, die zuletzt verrichtete Beschäftigung fortzusetzen (BSG, Urt. v. 17.8.1982 - 3 RK 28/81). Der Hausarzt der Klägerin diagnostizierte auf orthopädischem Fachgebiet unter anderem eine Retropatellarthrose im linken Knie, ein Carpaltunnelsyndrom und Schmerzen an verschiedenen Stellen. Der Klägerin sei ihre Arbeit seit 2007 schwer gefallen, sie habe Schmerzmittel auch in Form von Betäubungsmitteln erhalten. Aus Furcht vor einer Entlassung habe sie keine Krankschreibung gewünscht. Im September 2007 habe sie einen Rentenantrag gestellt. Am 7. Juli 2008 sei sie wegen erheblicher Schmerzen im Bereich der Schulter, des Gesäßes, der Knie, der gesamten rechten Seite, des Fußgelenks und Taubheit der Hände krank geschrieben worden. Am 29.7.2008 hätte die Klägerin berichtet, die Schmerzmittel würden nicht helfen. Sie habe die Arbeitszeit aufgrund ihrer Beschwerden reduziert. Wegen nervlicher Belastungen erhielt sie das Antidepressivum Citalopram. Er halte die Klägerin für berufsunfähig. Aus diesen Schilderungen ergibt sich, dass bereits im August 2008 Arbeitsunfähigkeit für ihren Beruf als Altenpflegehelferin vorlag. Denn die Tätigkeit ist mit erheblichen körperlichen Belastungen verbunden. Die Arbeit erfolgt überwiegend im Gehen und Stehen und umfasst auch das Heben und Tragen schwerer Lasten, wie etwa bei dem Umbetten Bettlägeriger. Diese Tätigkeit war bei den orthopädischen Beeinträchtigungen der Klägerin nicht leidensgerecht. Da im August 2008 bereits Arbeitsunfähigkeit vorlag, ist für die Berechnung des Krankengeldes das Gehalt aus Juli 2008 zugrunde zu legen.

20

Dafür spricht auch, dass § 47 SGB V die Zugrundelegung des Entgelts beabsichtigt, das der Versicherte unter "normalen Verhältnissen" verdient hätte. Krankengeld hat Entgeltersatzfunktion im Falle der Krankheit. Maßgeblich soll also das Einkommen sein, dass der Versicherte in gesundem Zustand verdient hätte. Unter solchen "normalen Verhältnissen", hätte die Klägerin die Arbeitszeit nicht reduziert, sondern weiterhin 130 Stunden monatlich gearbeitet. Der Monat August 2008 spiegelt nicht wieder, was die Klägerin unter normalen Verhältnissen verdient hätte. Maßgeblich ist das Einkommen im Juli 2008, weil nur so der Entgeltersatzfunktion des§ 47 SGB V entsprochen werden kann. Der vorliegende Fall zeichnet sich dadurch aus, dass trotz eigentlich bestehender Arbeitsunfähigkeit ein Arbeitsversuch mit reduzierter Stundenzahl begonnen wurde. Ein solcher Arbeitsversuch, um eine gänzliche Einstellung der Arbeit zu verhindern, ist auch im Interesse der Krankenkasse, die dadurch vorerst und vielleicht auch dauerhaft kein Krankengeld zahlen muss.

21

Diese Auslegung, die Arbeitszeit im gesunden Zustand zugrunde zu legen, entspricht dem Sinn und Zweck der Norm. Aus dem Gesetzeswortlaut ist das Bestreben ersichtlich, die Höhe des Krankengeldes zwar typisiert aber trotzdem möglichst realistisch und gerecht festzulegen: So schreibt der Grundsatz des § 47 Abs. 1 S.1 SGB V fest, das Krankengeld betrage 70% des "regelmäßigen" Arbeitsentgelts. Daraus ergibt sich, dass Unregelmäßigkeiten ausgeglichen werden sollen. Nach § 47 Abs. 2 S.1 SGB V ist für die Berechnung "mindestens" das während der letzten abgerechneten vier Wochen erzielte Arbeitsentgelt zugrunde zu legen. Zweck dieser Mindestdauer ist es, möglichst zuverlässig das regelmäßige Arbeitsentgelt zu ermitteln und Zufallsergebnisse zu vermeiden. Nach § 47 Abs. 2 Satz 6 SGB V ist für die Berechnung des Regelentgelts der dreihundertsechzigste Teil des einmalig gezahlten Arbeitsentgelts, das in den letzten zwölf Kalendermonaten vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit nach § 23a des Vierten Buches der Beitragsberechnung zugrunde gelegen hat, ebenfalls zu berücksichtigen. Dadurch wirken sich einmalige Zahlungen wie etwa Boni krankengelderhöhend aus.

22

Die Rechtsprechung des BSG (etwa Urt. v. 25.06.1991 - 1/3 RK 6/90) steht dem nicht entgegen. Hier wurde zwar die kurz vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit reduzierte Stundenzahl als maßgeblich angesehen, die Reduzierung erfolgte dort jedoch nicht aus gesundheitlichen Gründen, sondern wegen Auftragsrückgangs. Die Reduzierung wäre also auch unter normalen - also gesunden - Verhältnissen erfolgt.

23

Nicht zu entscheiden war, welches Entgelt als regelmäßiges Einkommen zu berücksichtigen wäre, wenn die Klägerin schon seit längerer Zeit aus gesundheitlichen Gründen die Arbeitszeit reduziert hätte und nicht die Hoffnung gehabt hätte, die Arbeitszeit bald wieder aufzustocken. Dieser Fall unterscheidet sich insofern, als ein solcher Versicherter sich bereits mit einem niedrigeren Einkommen abgefunden hat und die Reduzierung der Arbeitzeit nicht zum Zwecke der Erholung erfolgt, um dann wieder Aufzustocken.

24

Die Beklagte ist verpflichtet, das Krankengeld anhand eines Einkommens von monatlich 1320 EUR brutto neu zu berechnen und das so berechnete Krankengeld abzüglich bereits erbrachter Krankengeldleistungen auszuzahlen.

25

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits.