Sozialgericht Oldenburg
Urt. v. 05.09.2011, Az.: S 61 KR 151/11
Nach dem Wegfall von Sozialleistungen i.S.d. §§ 41 ff. SGB XII besteht eine Pflichtversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung und Pflegeversicherung; Pflichtversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung und Pflegeversicherung nach dem Wegfall von Sozialleistungen i.S.d. §§ 41 ff. SGB XII
Bibliographie
- Gericht
- SG Oldenburg
- Datum
- 05.09.2011
- Aktenzeichen
- S 61 KR 151/11
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2011, 26983
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGOLDBG:2011:0905.S61KR151.11.0A
Rechtsgrundlagen
- § 5 SGB V
- § 13 Abs. 1 Nr. 13 SGB V
- § 20 SGB XII
Fundstelle
- ZfF 2013, 105-106
Tenor:
- 1.
Der Bescheid der Beklagten vom 16.02.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.05.2011 wird aufgehoben.
- 2.
Es wird festgestellt, dass die Klägerin pflichtversichert in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung ist.
- 3.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass sie seit November 2010 pflichtversichert in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung ist.
Die am D. 1959 geborene Klägerin erhält Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) von der Stadt E ... Für sie ist ein gesetzlicher Betreuer bestellt, unter anderem für die Gesundheitssorge sowie für Rechts-, Antrags- und Behördenangelegenheiten. Im Zusammenhang mit der Grundsicherung erhielt die Klägerin bisher von dem Sozialhilfeträger Hilfe zur Gesundheit. Die Stadt E. übernahm die Behandlungskosten und nahm in der Folge die Eltern der Klägerin gem. 94 Abs. 1 SGB XII aus übergegangenem Recht in Anspruch.
Nachdem die Eltern der Klägerin sich gegenüber der Stadt E. bereit erklärt hatten, für den Lebensunterhalt der Klägerin ab dem 01.11.2010 aufzukommen, stellte die Stadt E. die Sozialhilfeleistungen mit Bescheid vom 07.10.2010 ab dem 01.11.2010 ein.
Die Klägerin beantragte daraufhin am 18.10.2010 bei der Beklagten die Aufnahme in die gesetzliche Krankenversicherung.
Am 10.11.2010 stellte die Klägerin erneut einen Antrag auf Grundsicherung im Alter und Erwerbsminderung nach dem SGB XII bei dem Sozialhilfeträger. Die Eltern der Klägerin führten zur Begründung aus, die finanzielle Situation der Familie habe sich durch die erhöhte Pflegebedürftigkeit des Vaters unerwartet verschlechtert, daher könne die Tochter nicht mehr unterstützt werden. Dementsprechend erhält die Klägerin seit dem 01.12.2010 wieder Grundsicherungsleistungen.
Die Beklagte lehnte den Antrag auf Aufnahme in die gesetzliche Krankenversicherung mit Bescheid vom 16.02.2011 ab. Sie vertrat die Ansicht, die Klägerin sei durch die Unterbrechung des Bezugs von Grundsicherungsleistungen nicht pflichtversichert in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung geworden. Es liege eine unverhältnismäßig kurze Unterbrechung des Bezugs der Grundsicherungsleistungen vor, gem. § 5 Abs. 8 Satz 2 und 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V). Die Norm diene dem Erhalt des Vorrangs der Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers für die Erbringung von Hilfen zur Gesundheit. Dieser Vorrang solle nicht unterlaufen werden.
Die Klägerin legte am 16.03.2011 Widerspruch ein. Der Bezug von Grundsicherungsleistungen sei nicht weniger als einen Monat unterbrochen gewesen. Die Klägerin habe sich einen Monat lang anderweitig finanziert, sie sei deshalb versicherungspflichtig in der gesetzlichen Krankenversicherung geworden.
Mit Widerspruchsbescheid vom 19.05.2011 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Es sei nicht nachvollziehbar, warum die Eltern der Klägerin bei unveränderten Einkommensverhältnissen, die Klägerin für genau einen Monat hätten unterhalten können. Der Sachverhalt erwecke den Anschein, gesteuert zu sein, um durch eine kurzzeitige Leistungsunterbrechung krankenversicherungspflichtig zu werden und fortan den Vorrang der Krankenhilfe durch den Sozialhilfeträger zu unterlaufen. Dies entspreche nicht dem Sinn und Zweck der Versicherungspflicht.
Die Klägerin hat, vertreten durch ihren Betreuer, am 10.06.2011 Klage erhoben. Die Eltern der Klägerin seien ab Dezember 2010 nicht mehr in der Lage gewesen, den Unterhalt für die Tochter zu bezahlen, da die gesundheitliche Situation des Vaters sich verschlechterte und die Familie in der Folge Aufwendungen für seine Pflege hatte. Anfang 2011 sei der Vater dann verstorben.
Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen sinngemäß,
- 1.
den Bescheid der Beklagten vom 16.02.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.05.2011 aufzuheben und
- 2.
festzustellen, dass die Klägerin pflichtversichert in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung ist.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Widerspruchsbescheid. Ergänzend führt sie aus, § 5 Abs. 8a SGB V diene dazu, den Vorrang der Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers für Gesundheitskosten im Falle einer verhältnismäßig kurzen Unterbrechung des SGB XII-Leistungsbezugs aufrecht zu erhalten. Es könne keinen Unterschied machen, ob die Leistungsunterbrechung für einen Zeitraum unter einem Monat oder genau für einen Monat erfolge, wenn für die kurzzeitige Leistungsunterbrechung keine nachvollziehbaren Gründe vorlägen und sie den Anschein habe, gesteuert zu sein.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten, denn die Klägerin ist pflichtversichert in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Die Beklagte ist verpflichtet, zu Gunsten der Klägerin die Pflichtversicherung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V durchzuführen.
Nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V sind Personen versicherungspflichtig, die keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall haben und zuletzt gesetzlich krankenversichert waren oder bisher nicht gesetzlich oder privat krankenversichert waren.
Diese Voraussetzungen liegen bei der Klägerin vor. Sie hatte bis zum November 2010 im Falle einer Krankheit Schutz durch die Hilfe zur Gesundheit im Zusammenhang mit den Grundsicherungsleistungen im Alter und bei Erwerbsminderung des Sozialamtes nach §§ 41 ff. SGB XII. Dieser Schutz fiel mit Aufhebung der Grundsicherungsleistungen zum 01.11.2010 weg. Da die Klägerin fortan ohne Krankenversicherungsschutz war, greift die Pflichtversicherung des § 13 Abs. 1 Nr. 13 SGB V in der gesetzlichen Krankenversicherung.
Für die Pflegeversicherung gilt dies entsprechend. Denn Versicherungspflichtig in der sozialen Pflegeversicherung sind nach § 20 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) die versicherungspflichtigen Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung. Dazu gehören gem. § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 12 SGB XI ausdrücklich auch die nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V versicherungspflichtigen.
Der Ausschlusstatbestand des § 5 Abs. 8a S. 1 SGB V greift hier nicht. Danach ist nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V nicht versicherungspflichtig, ( ) wer Empfänger laufender Leistungen nach dem Dritten, Vierten, Sechsten und Siebten Kapitel des Zwölften Buches ist. Die Klägerin war aber im November 2010 nicht mehr Empfängerin von Sozialhilfeleistungen.
Auch der Ausschlusstatbestand des § 5 Abs. 8a S. 2 SGB V führt zu keinem anderen Ergebnis. Danach ist eine Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V ausgeschlossen, wenn der Anspruch auf diese Leistungen nach dem SGB XII für weniger als einen Monat unterbrochen wird. Dieser Ausschlussgrund, bei dem die Versicherungspflicht der Klägerin entfallen würde, ist hier nicht erfüllt. Denn der Bezug von Grundsicherungsleistungen wurde vorliegend für einen vollen Monat (den Monat November 2010) unterbrochen, nicht für "weniger als einen Monat", wie in der Ausnahmeregelung des § 5 Abs. 8a S. 2 SGB V ausdrücklich gefordert. Nach dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes tritt im Falle einer Unterbrechung von mindestens einem Monat die Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V ein.
Es besteht auch kein Anlass für eine erweiternde Auslegung des § 5 Abs. 8a SGB V, um so die Frist von "weniger als einem Monat" über den klaren Wortlaut hinaus zulasten der Versicherten auszudehnen. Für diese strikte Handhabung spricht neben dem klaren Wortlaut auch die Systematik des Gesetzes, denn der Abs. 8a stellt eine Ausnahme zum Grundsatz der Versicherungspflicht dar. Ausnahmeregelungen sind grundsätzlich eng auszulegen. Zudem spricht auch die Gesetzeshistorie für die strenge Handhabung der Norm. Denn dem Gesetzgeber war die Möglichkeit bewusst, dass durch eine Unterbrechung des Leistungsbezugs von Grundsicherungsleistungen die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherungspflicht absichtlich herbeigeführt werden kann, wodurch die Kostentragung im Rahmen der Hilfe zur Gesundheit durch den Sozialhilfeträger dauerhaft beendet wird. Wie es in der Bundestagsdrucksache 16/4247 auf S. 29 heißt, soll "die Vorrangregelung der Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers nach § 5 Abs. 8a Satz 2 für die Erbringung von Hilfen zur Gesundheit nicht dadurch unterlaufen werden können, dass für eine unverhältnismäßig kurze Zeit der Leistungsbezug unterbrochen wird".
Diese "unverhältnismäßig kurze Zeit" hat der Gesetzgeber sodann im Gesetz legal definiert mit einem Zeitraum von "weniger als einem Monat". Diese Frist ist starr zu verstehen, sonst hätte der Gesetzgeber sie nicht genau beziffert oder weitere Ausnahmen - wie etwa bei bewusstem Vorgehen des Versicherten zur Beendigung der Hilfe zur Gesundheit - vorgesehen.
Es kann dahin stehen, ob die einmonatige Übernahme der Unterhaltskosten durch die Eltern der Klägerin bewusst erfolgte, um der Klägerin die Mitgliedschaft in der Krakenversicherung zu ermöglichen. Denn selbst wenn die Unterhaltszahlung nur den Zweck gehabt haben sollte, die Klägerin krankenversicherungspflichtig werden zu lassen, damit die Eltern fortan von Regressforderungen des Sozialhilfeträgers verschont bleiben, würde dies nicht zu einem Ausschluss der Krankenversicherungspflicht führen. Denn der Gesetzgeber hatte genau diesen Fall der Umgehung des Vorrangs der Hilfe zur Gesundheit vor der Pflichtversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung vor Augen, als er die Ausnahmevorschrift des § 5 Abs. 8a S. 2 SGB V einführte. Gleichwohl führte er die verhältnismäßig kurze Frist von unter einem Monat ein und sah sich nicht veranlasst, Ausnahmeregelung für den Fall der Umgehungsabsicht einzuführen.
Raum für eine Analogie besteht ebenfalls nicht, denn es liegt keine gesetzliche Regelungslücke vor, sondern eine vom Gesetzgeber bewusst festgelegte, starre und abschließende Frist.
Da eine einmal begründete Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung auch dann bestehen bleibt, wenn später (wieder) Grundsicherungsleistungen bezogen werden, ist die Klägerin seit November 2010 fortlaufend versicherungspflichtig. Dies wirkt unabhängig davon fort, dass die Klägerin seit Dezember 2010 wieder Grundsicherungsleistungen bezieht. Zu den Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zählt nach § 42 Nr. 5 SGB XII auch die Übernahme von Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).