Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 24.06.2021, Az.: 1 A 5987/20

ausschließliche Briefwahl; Briefwahl; Corona; Corona-Lockdown; Corona-Pandemie; Direktwahl; Ergebnisrelevanz bei Direktwahlen; Infektionsschutz; Verschiebung einer Stichwahl; Wahlergebnis; Wahlfehler; Wahlprüfungsklage; wesentlicher Einfluss auf das Wahlergebnis; Zulässigkeit eines Wahleinspruchs

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
24.06.2021
Aktenzeichen
1 A 5987/20
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2021, 71096
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Es liegt nicht in der Hand eines Wahleinspruchsführers, das "Prüfprogramm" des § 48 Abs. 1 NKWG im Klageverfahren durch eine beschränkte Antragstellung auf bestimmte Teilaspekte - etwa die Frage der Wesentlichkeit eines von der Vertretung bereits festgestellten Rechtsverstoßes - zu beschränken.
2. Die Anforderungen an die Begründung eines Wahleinspruchs dürfen nicht überspannt werden. Im Rahmen des durch den Einspruch begrenzten Anfechtungsgegenstandes bezieht sich die Amtsermittlungspflicht auch auf die Frage der Erheblichkeit eines geltend gemachten Wahlrechtsverstoßes.
3. Zur Frage, ob die aufgrund des ersten "Corona-Lockdowns" erfolgte Durchführung einer Stichwahl als ausschließliche Briefwahl einen Wahlfehler im Sinne des § 46 Abs. 1 NKWG begründet oder ob das im Zeitpunkt der Stichwahl geltende Kommunalwahlrecht aus Gründen des Infektionsschutzes bzw. des Infektionsschutzrechts modifiziert werden konnte.
4. Von einem wesentlichen Einfluss eines Wahlfehlers auf das Wahlergebnis ist nur bei einer konkreten, nach der Lebenserfahrung begründeten Wahrscheinlichkeit, dass der Wahlfehler zu einer Verfälschung des Wählerwillens geführt hat, auszugehen. Reine Spekulationen reichen für eine Wahlungültigkeitserklärung nicht aus. Fehlt es an konkreten Anhaltspunkten für eine wesentliche Verfälschung des Wählerwillens, genießt nach der gesetzlichen Konzeption des § 48 Abs. 1 Nr. 2 NKWG der Bestandsschutz des Wahlergebnisses den Vorrang.

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind erstattungsfähig.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand:

Der Kläger, ein Wahlberechtigter aus dem Landkreis L., wendet sich gegen die Gültigkeit der am 5. April 2020 aufgrund der Corona-Pandemie ausschließlich als Briefwahl durchgeführten Stichwahl zur Wahl des Landrates des Landkreises L., in welcher der Beigeladene zum Landrat gewählt wurde.

Nachdem der Amtsvorgänger des Beigeladenen auf seinen Antrag hin mit Wirkung zum 31. Oktober 2019 wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt worden war, bestimmte der Beklagte in seiner Sitzung vom 17. Dezember 2019 den 8. März 2020 als Wahltag für die Direktwahl eines neuen Landrates; als Termin für eine eventuelle Stichwahl wurde der 22. März 2020 festgelegt. In dem planmäßig am 8. März 2020 als Urnen- und Briefwahl (mit der Ausstellung von Briefwahlunterlagen nur auf Antrag) durchgeführten ersten Wahlgang erzielte bei einer Wahlbeteiligung von 40,51 % keiner der vier angetretenen Kandidaten die für einen Erfolg im ersten Wahlgang erforderliche Mehrheit von mehr als der Hälfte der abgegebenen gültigen Stimmen. Von den insgesamt abgegebenen 49.484 Stimmen waren 256 ungültig, die restlichen 49.228 gültig. 10.551 der abgegebenen Stimmen waren per Briefwahl abgegeben worden; 44 der per Briefwahl abgegebenen Stimmen waren ungültig. 16.748 der insgesamt abgegebenen gültigen Stimmen (34,02 %) entfielen auf den für die M. kandidierenden Beigeladenen, 15.773 Stimmen (32,04 %) auf den Kandidaten der N., X.. Die restlichen Stimmenanteile verteilten sich auf die beiden übrigen Kandidaten der Parteien O. und P.. Von den 38.722 in den Wahlbezirken per Urnenwahl abgegebenen gültigen Stimmen entfielen 13.286 (das sind nach Berechnung des Gerichts ca. 34,31 %) auf den Beigeladenen und 12.583 (nach Berechnung des Gerichts ca. 32,49 %) auf den Kandidaten der N.; von den 10.506 per Briefwahl abgegebenen gültigen Stimmen entfielen 3.462 (nach Berechnung des Gerichts ca. 32,95 %) auf den Beigeladenen und 3.190 (nach Berechnung des Gerichts ca. 30,36 %) auf den Kandidaten der N..

Die nach diesem Wahlergebnis erforderliche Stichwahl zwischen dem Beigeladenen und dem Kandidaten der N. war nach der öffentlichen Bekanntmachung des Kreiswahlleiters vom 11. März 2020 zunächst weiter für den 22. März 2020 angesetzt. Angesichts der dynamischen Entwicklung der Corona-Pandemie - ein erster offiziell bestätigter Infektionsfall im Landkreis L. war am 9. März 2020 bekannt geworden, ab Mitte März traten im Landkreis L. ebenso wie im Rest der Bundesrepublik zahlreiche Beschränkungen des privaten und öffentlichen Lebens zur Reduzierung von Kontakten und Verringerung von Infektionsrisiken in Kraft - stellte die Verwaltung des Landkreises L. nach einer Neubewertung der Situation am 16. März 2020 fest, dass die als Urnen- und Briefwahl geplante Stichwahl am 22. März 2020 nicht ohne ganz erhebliche Infektionsrisiken und das Risiko einer unkontrollierten Weiterverbreitung des SARS-CoV-2-Virus durchgeführt werden könne. Nach telefonischer Rücksprache des Kreiswahlleiters mit der Niedersächsischen Landeswahlleiterin sollte die Stichwahl daher - nach bayrischem Vorbild - als ausschließliche Briefwahl stattfinden und zur Ermöglichung der hierfür notwendigen organisatorischen Vorbereitungen um zwei Wochen nach hinten auf den 5. April 2020 verschoben werden. Noch am selben Tag erging eine entsprechende auf § 89 Satz 2 des Niedersächsischen Kommunalverfassungsgesetzes (NKomVG) gestützte Eilentscheidung des Ersten Kreisrates in Vertretung für den Landrat und der stellvertretenden Landrätin, mit welcher der Wahltag für die per Briefwahl durchzuführende Stichwahl des Landrates auf den 5. April 2020 verschoben wurde.

Unter dem 17. März 2020 machte der Kreiswahlleiter öffentlich bekannt, dass die Stichwahl zur Wahl des Landrates auf Sonntag, den 5. April 2020, verschoben worden sei und die Stimmabgabe aufgrund der Corona-Pandemie unter Verweis auf das Infektionsschutzgesetz ausschließlich per Briefwahl durchgeführt werde. Auf eine Einrichtung von Urnenwahlbezirken sowie Wahlräumen gemäß § 8 des Niedersächsischen Kommunalwahlgesetzes (NKWG) und § 6 der Niedersächsischen Kommunalwahlordnung (NKWO) werde verzichtet. Alle Wahlberechtigten, die noch keine Briefwahlunterlagen beantragt hätten, erhielten rechtzeitig vor dem Wahltermin von Amts wegen die Briefwahlunterlagen über den Postweg zugeschickt. Die Rücksendung des Wahlbriefs an die Gemeinde mit dem amtlichen gelben Umschlag sei portofrei. Die Wahlbriefe müssten bis Sonntag, den 5. April 2020, 18:00 Uhr, im Rathaus der jeweiligen Heimatkommune mit der auf den gelben Umschlägen angegebenen Adresse vorliegen. Auf eine Briefwahl vor Ort sei zu verzichten. Bereits erteilte Wahlscheine sowie die damit abgegebenen Stimmzettel seien gemäß § 70 Abs. 5 NKWO für den neuen Termin weiterhin gültig. Gemäß § 41 NKWG werde nach den Wahlvorschlägen und den Wählerverzeichnissen des ursprünglich geplanten Termins der Stichwahl gewählt. Die Stimmzettel mit dem Stichwahldatum 22. März 2020 behielten ihre Gültigkeit.

Mit Verfügung vom 24. März 2020 ordnete der Landkreis L. gegenüber seinen kreisangehörigen Gemeinden die Durchführung der Stichwahl als Briefwahl an und untersagte die Einrichtung und Nutzung von Wahllokalen. Weiter wurde den kreisangehörigen Gemeinden aufgegeben, in ihrem jeweiligen Rathaus durch geeignete Maßnahmen (a.) am Samstag, den 4. April 2020, von 08:00 bis 12:00 Uhr sicherzustellen, dass nicht erhaltene Briefwahlunterlagen den Wahlberechtigten ersetzt werden können und (b.) am Sonntag, den 5. April 2020, von 08:00 bis 18:00 Uhr zu gewährleisten, dass den Wahlberechtigten nicht zugestellte Briefwahlunterlagen ausgehändigt werden können; außerdem sicherzustellen, dass Briefwahlunterlagen abgegeben beziehungsweise in einen Briefkasten eingeworfen werden können und dass eine letzte Leerung dieses Briefkastens um 18:00 Uhr erfolgt. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt: Rechtsgrundlage für die Untersagung der Einrichtung und Nutzung von Wahllokalen sei § 28 Abs. 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) i. V. m. § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 3 des Niedersächsischen Gesetzes über den Öffentlichen Gesundheitsdienst (NGöGD). Das Verbot der Einrichtung und Nutzung von Wahllokalen sei erforderlich, um ein „in Kontakt kommen“ von Wählerinnen und Wählern und die damit einhergehenden Infektionsgefahren zu verhindern. Ohne die Anordnung der Briefwahl könne die Stichwahl nicht durchgeführt werden, da andernfalls die Einrichtung und der Betrieb von Wahllokalen unabdingbar für die Durchführung der Wahl sei. Angesichts des hohen verfassungsrechtlichen Stellenwertes der Direktwahl sei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in besonderem Maße zu berücksichtigen. Unter Berücksichtigung dieses Grundsatzes sei zu prüfen gewesen, ob die Grundsätze einer ordnungsgemäßen Wahl durch eine weniger einschneidende Verfügung als eine Wahlabsage gewahrt werden könnten. Die Briefwahl sei grundsätzlich geeignet, den Wählerwillen korrekt zu ermitteln. Sie sei auch nach dem Niedersächsischen Kommunalwahlgesetz als uneingeschränkt zulässige Form der Stimmabgabe geregelt und zugelassen. Die Anordnung der Briefwahl habe mithin keine Auswirkung auf das Wahlergebnis; die Briefwahl sei auch organisatorisch umsetzbar. Nach alledem sei die Anordnung der Briefwahl das mildeste aller geeigneten Mittel zur Fortführung der Wahl des Landrates. Dagegen sei eine Wahlabsage und eine komplette Neuwahl im Sinne einer Wiederholungswahl nach § 42 NKWG i. V. m. § 74 NKWO zu einem derzeit noch nicht absehbaren Zeitpunkt aufgrund der fortgeschrittenen Wahlvorbereitung der Stichwahl und angesichts der Durchführbarkeit einer Briefwahl unangemessen.

In einer Pressemitteilung des Landkreises L. vom 4. April 2020 wurde nochmals darauf hingewiesen, dass die Stichwahl zur Landratswahl aufgrund der Corona-Pandemie ausschließlich per Briefwahl stattfinde und dass der Wahlbrief spätestens am Sonntag, den 5. April 2020, um 18:00 Uhr im Briefkasten der auf dem gelben Umschlag angegebenen Anschrift eingegangen sein müsse, damit die Stimme bei der Auszählung berücksichtigt werde. Briefwahlunterlagen, die durch den Postdienstleister nicht hätten zugestellt werden können, würden bis Sonntag, 5. April 2020, 18:00 Uhr, bei den Wahlämtern ausgehändigt. Ob die Unterlagen nicht hätten zugestellt werden können, könne telefonisch bei dem zuständigen Wahlamt erfragt werden. Alle Wahlberechtigten, die am 2. April 2020 nach der Postzustellung noch keine Briefwahlunterlagen vorliegen hätten, könnten sich an das zuständige Wahlamt wenden. Bis Samstag, den 4. April 2020, 12:00 Uhr, könne ein neuer Wahlschein ausgestellt werden, wenn der von Amts wegen ausgestellte Wahlschein nicht zugegangen sei. Es werde in diesen Fällen empfohlen, die Briefwahlunterlagen direkt bei der zuständigen Kommune in Empfang zu nehmen. Vorab werde um eine telefonische Abstimmung mit dem Wahlamt gebeten.

Bei der am 5. April 2020 ausschließlich als Briefwahl durchgeführten Stichwahl erzielte bei einer gegenüber dem ersten Wahlgang um 5,22 Prozentpunkte auf 45,73 % gestiegenen Wahlbeteiligung der Beigeladene 51,14 % (28.254 Stimmen) und der Kandidat der N. 48,86 % (26.992 Stimmen) der insgesamt 55.246 abgegebenen gültigen Stimmen. Die absolute Stimmendifferenz belief sich mithin auf 1.262 Stimmen. 613 der insgesamt abgegebenen 55.859 Stimmen waren ungültig.

Nach Bekanntmachung des Wahlergebnisses erhob der Kläger mit beim Kreiswahlleiter am 14. April 2020 eingegangenen Schreiben vom 9. April 2020 Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl. Die Wahl sei nicht entsprechend den Vorschriften des NKWG und der NKWO vorbereitet und durchgeführt worden. Über die Verschiebung des Wahltermins hätte gemäß §§ 41 Abs. 2 und § 45b Abs. 2 und 3 NKWG nur der Beklagte beschließen können. Dass ein solcher Beschluss durch den Beklagten gefasst worden sei, sei weder der Bekanntmachung des Kreiswahlleiters vom 17. März 2020 zu entnehmen noch sonst bekannt gemacht worden. Durch die Anordnung einer ausschließlichen Briefwahl sei zudem gegen die Vorschriften der §§ 8, 19 Abs. 1 und 32 NKWG sowie gegen § 6 NKWO verstoßen worden, da Urnenwahlbezirke und Wahlräume nicht gebildet bzw. eingerichtet worden, Wahlscheine ohne Antrag ausgestellt worden, die Nutzung von Wahlurnen nicht möglich gewesen und Wahlräume während der Wahlzeit von 8:00 bis 18:00 Uhr geschlossen gewesen seien. Das Infektionsschutzgesetz stelle keine taugliche Rechtsgrundlage für diese Einschränkungen des Wahlrechts dar. Wenn Wahlen überhaupt eine Veranstaltung oder Ansammlung im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG darstellten, käme nach dieser Vorschrift allenfalls eine Beschränkung oder Untersagung der Wahl, nicht aber - wie hier erfolgt - die Auferlegung einer Pflicht zu einer bestimmten Handlung in Betracht. Jedenfalls stehe dem Eingriff der Exekutive in die Durchführung der Wahl der Vorbehalt des Gesetzes entgegen, der die wesentlichen Entscheidungen des Gemeinwesens - dazu gehörten zweifellos auch die grundsätzlichen Fragen der Wahlen - dem Gesetzgeber zuweise. Der Vorbehalt des Gesetzes habe Verfassungsrang (Art. 20 Abs. 3 GG) und gehe daher dem Infektionsschutzgesetz vor. Die Vorgehensweise bei der Stichwahl habe zu einer Einschränkung des Grundrechts auf allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahlen geführt, die das Wahlergebnis erheblich beeinflussen konnte.

Mit Beschlussvorlage vom 29. Juni 2020 (070/2020) empfahl der Kreiswahlleiter dem Beklagten, den Wahleinspruch des Klägers als unbegründet zurückzuweisen. In einer am 7. Juli 2020 durchgeführten Sitzung des Beklagten, in welcher auch der Kläger als Wahleinspruchsführer auf seinen Antrag gehört wurde, kam es noch nicht zu einer Beschlussfassung über den Wahleinspruch.

Unter Bezugnahme auf akustische Probleme während seiner Anhörung am 7. Juli 2020 übersandte der Kläger den Abgeordneten des Beklagten unter dem 18. Juli 2020 eine als „Erläuterungen zur Anhörung im Wahlprüfungsverfahren“ bezeichnete ergänzende Stellungnahme. In dieser führte er insbesondere aus, dass die Voraussetzungen für die auf § 89 Satz 2 NKomVG gestützte Eilentscheidung des Ersten Kreisrates und der stellvertretenden Landrätin zur Verschiebung der Wahl nicht vorgelegen hätten und legte erneut und vertieft dar, dass es der Exekutive auch auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes nicht zustehe, in geltendes Wahlrecht einzugreifen. Im Übrigen habe der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages unter dem 23. März 2020 (WD 3 - 3000 - 074/20) auf eine Anfrage, ob politische Wahlen als reine Briefwahlen durchgeführt werden könnten, festgestellt, dass „die reine Briefwahl den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Vorgaben für die Umsetzung und die Konkretisierung der Wahlgrundsätze nicht gerecht würde“. Durch die Festlegung auf eine reine Briefwahl sei die Chancengleichheit der Wähler und der Kandidaten verletzt worden. Insbesondere Analphabeten und Spontanwähler würden durch eine reine Briefwahl eingeschränkt. Der Anteil funktionaler Analphabeten in der Bevölkerungsgruppe zwischen 18 und 64 Jahren liege nach Schätzungen bei 12,1 Prozent (Quelle: Studie „LEO 2018 - Leben mit geringer Literalität“). Analphabeten hätten große Schwierigkeiten, Bedienungsanleitungen, Automaten- oder Behördenschreiben zu lesen. Während eine „Präsenzwahl“ für sie noch machbar sei, gelte dies nicht für das Verstehen der „Bedienungsanleitung“ einer Briefwahl. Es liege nahe, dass zumindest ein Großteil dieser möglichen Wähler aus Scham und Leidensdruck ganz auf die Wahl verzichtet habe. Die Wahlbeteiligung sei insoweit kein geeigneter Maßstab. Der Anteil der sogenannten Spontanwähler werde auf 30 Prozent der Wahlberechtigten geschätzt. Diese Spontanwähler, die schon oft das „Zünglein an der Waage“ gewesen seien, seien durch die Änderung des Wahlverfahrens in ihrem Wahlverhalten beeinflusst worden. Es sei auch realitätsfern zu glauben, dass es bei einer reinen Briefwahl nicht zu Einflussnahmen auf Wahlberechtigte im familiären Bereich komme. Gehe man von der realen Möglichkeit aus, dass 10 Prozent der Analphabeten bei einer Präsenzwahl ihre Stimme abgegeben hätten, ein Viertel der Spontanwähler anders gewählt hätte und der Anteil der ungültigen Stimmen auf dem Stand der Stichwahl, in der der Amtsvorgänger des Beigeladenen gewählt worden sei, geblieben wäre, käme man auf 10.285 „vakante Stimmen“, die dem anderen Stichwahlkandidaten hätten zufallen können (vgl. zur Berechnung des Klägers: Bl. 57 d. GA). Dies zeige deutlich, dass die Möglichkeit der Wahlbeeinflussung nicht nur abstrakt möglich gewesen sei, selbst wenn man die Beeinflussung von Wählern im Rahmen der Briefwahl, zu der es zweifellos gekommen sei, und Briefe, die zu spät im Wahlbüro eingetroffen seien, sowie weitere Möglichkeiten nicht berücksichtige.

Nach einer ergänzenden Stellungnahme des Kreiswahlleiters vom 15. September 2020 (Beschlussvorlage 070/2020-1) beschloss der Beklagte in seiner Sitzung vom 29. September 2020, den Wahleinspruch des Klägers zurückzuweisen. Die Wahlprüfungsentscheidung wurde dem Kläger in Gestalt eines vom Vorsitzenden des Beklagten unterzeichneten Bescheides vom 12. Oktober 2020 zugestellt. Zur Begründung der Zurückweisung des Wahleinspruchs wurde ausgeführt:

Nach dem Abstimmungsergebnis des Beklagten sei der Einspruch zwar zulässig und begründet, der Rechtsverstoß habe das Wahlergebnis aber auch im Zusammenhang mit anderen Rechtsverstößen nicht oder nur unwesentlich beeinflusst. Dabei könne offenbleiben, ob die - erst nach Ablauf der Einspruchsfrist erfolgten - Ausführungen des Klägers zu den Einschränkungen von Spontanwählern und Analphabeten in der unter dem 18. Juli 2020 übersandten ergänzenden Stellungnahme noch berücksichtigt werden dürften. In seinem Wahleinspruch vom 9. April 2020 habe der Kläger dazu, dass die von ihm geltend gemachten Rechtsverstöße einen wesentlichen Einfluss auf das Wahlergebnis gehabt hätten, nichts Erhebliches vorgetragen. In der Kommentarliteratur sei anerkannt, dass Wahleinsprüche, die über die Äußerung von Vermutungen nicht hinausgingen, als unsubstantiiert zurückgewiesen werden dürften. Von einem wesentlichen Einfluss auf das Wahlergebnis werde gemeinhin nur ausgegangen, wenn nach einer konkreten, nach der Lebenserfahrung begründeten Wahrscheinlichkeit angenommen werden könne, dass Wahlfehler im Hinblick auf die Sitzverteilung - hier das Ergebnis der Stichwahl - zu einer Verfälschung des Wählerwillens geführt hätten. Vorliegend hieße das, dass die Beeinflussung auf das Wahlergebnis so gravierend gewesen sein müsste, dass ohne den Wahlfehler der unterlegene Kandidat der N. die Stichwahl für sich entschieden hätte. Anhaltspunkte dafür, dass Analphabeten und Spontanwähler aufgrund der Durchführung der Stichwahl als ausschließliche Briefwahl nicht von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht hätten, lägen nicht vor - zumal die Wahlunterlagen von Amts wegen allen Wahlberechtigten übersandt worden seien. Ein Wahleinspruch könne sich nicht auf Vermutungen stützen. Andernfalls ließen sich auch Vermutungen in jede andere Richtung anstellen, zum Beispiel, dass Wählerinnen und Wähler bei Durchführung einer Urnenwahl von ihrem Wahlrecht zur Vermeidung von Gesundheitsgefahren in großem Maße keinen Gebrauch gemacht hätten. Auch hinsichtlich einer unzulässigen Wahlbeeinflussung seien durch den Kläger keine konkreten Anhaltspunkte genannt worden. Folgte man der pauschalen Argumentation des Klägers, könnten bei einem hohen Briefwahlaufkommen alle knappen Wahlergebnisse mit einem Wahleinspruch angefochten werden. Im Übrigen sei regelhaft davon auszugehen, dass die Auswirkung eines Wahlfehlers umso geringer sei, je mehr Wahlberechtigte von dem Wahlfehler betroffen seien. Denn je größer die Zahl der betroffenen Wahlberechtigten sei, desto mehr gleiche das Wahlergebnis, das sich bei Unterbleiben des Wahlfehlers ergeben hätte, dem tatsächlichen Wahlergebnis, weil auch das Wahlverhalten dieser großen Zahl von Wahlberechtigten in aller Regel ein Abbild des allgemeinen Wahlverhaltens der Gesamtzahl der Wähler darstelle. Wenn die hier in Rede stehende Stichwahl allein deswegen, weil sie als reine Briefwahl durchgeführt worden sei, an einem Wahlfehler litte, hätte sich dieser Wahlfehler auf alle Wahlberechtigten ausgewirkt, sodass jedenfalls regelhaft davon auszugehen sei, dass der Wahlfehler nicht durchgreifend zu einer „Verfälschung des Wählerwillens“ im Sinne einer Wesentlichkeit geführt hätte. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass diese Schlussfolgerung vorliegend nicht gezogen werden könne, seien weder vorgetragen noch ersichtlich.

Der Kläger hat am 13. November 2020 Wahlprüfungsklage erhoben. Er wiederholt und vertieft seinen bisherigen Vortrag und führt im Wesentlichen aus: Bereits die Entscheidung über die Verschiebung der Stichwahl sei rechtswidrig erfolgt, da die Voraussetzungen für die getroffene Eilentscheidung nicht vorgelegen hätten. Eine Eilentscheidung auf der Grundlage des § 89 NKomVG dürfe nur ergehen, wenn die vorherige Entscheidung der Vertretung oder des Hauptausschusses nicht eingeholt werden könne. Hier hätte die Nachwahl bis zum 19. April 2020 angesetzt werden können. Die Ladungsfrist des Beklagten betrage in dringenden Fällen nur drei Tage, sodass eine außerordentliche Sitzung des Beklagten zum 21. bzw. 23. März 2020 möglich gewesen wäre. Auch die vom Gesetz geforderte unverzügliche Unterrichtung der Vertretung sei unterblieben. Hätte die Unterrichtung bis zur nächsten Sitzung Zeit, wäre dies auch so im Gesetz vorgesehen worden - wie etwa in § 88 Abs. 2 Satz 2 NKomVG. Die Stichwahl müsse auch nicht innerhalb der Sechs-Monatsfrist des § 80 Abs. 2 Satz 2 NKomVG erfolgen. Erforderlich sei insoweit nur, dass der Tag der ersten Wahl innerhalb dieser Frist liege. Die Anordnung der reinen Briefwahl allein unter Verweis auf das Infektionsschutzgesetz sei zudem rechtswidrig gewesen. Das Infektionsschutzgesetz könne nach § 54 IfSG nur vollzogen werden, wenn keine landesrechtliche Regelung bestehe. Mit § 41 NKWG und § 70 NKWO beständen für den Fall der höheren Gewalt, als welche eine Pandemie einzuordnen sei, abschließende Regelungen. Der Vollzug des Infektionsschutzgesetzes stehe auch nur den Ländern durch Verordnung zu; weder die Verwaltung des Landkreises L. noch der Wahlleiter seien berechtigt gewesen, dass Infektionsschutzgesetz anzuwenden und auf diese Weise die Regelungen des NKWG und der NKWO auszuhebeln. Eine Verordnung zu Wahlen in Pandemiezeiten habe weder die Landesregierung noch das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport erlassen. Selbst wenn man der Auffassung wäre, dass die Verwaltung oder der Wahlleiter sich auf § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG stützen könnten, seien Wahlen schon keine Veranstaltung oder Ansammlungen im Sinne dieser Regelung. Die Wahl sei auch nicht beschränkt oder abgesagt, sondern verschoben worden. Aufgrund des Vorbehaltes des Gesetzes hätte es hierfür einer legislativen Regelung bedurft, die es nicht gegeben habe. Eine ausschließliche Briefwahl verstoße gegen den in Art. 57 Abs. 2 der Niedersächsischen Verfassung und § 4 Abs. 1 NKWG festgelegten Grundsatz der allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl. Das NKWG und die NKWO gäben vor, wie die Wahlhandlung durchzuführen sei und bestimmten die Bildung von Urnenwahlbezirken und Wahlräumen (§ 8 NKWG), die Einrichtung von Wahlkabinen (§ 43 Abs. 1 NKWO), die Nutzung von Wahlurnen (§ 32 NKWG) sowie die Öffentlichkeit der Wahl (§ 33 Abs. 1 NKWG). Eine Briefwahl schränke den Grundsatz der geheimen und freien Wahl zugunsten der Allgemeinheit der Wahl ein. Dem Gesetzgeber stehe ein Ermessensspielraum bei der Gestaltung der Wahlrechtsgrundsätze zu; der Verwaltung stehe ein solcher Spielraum jedoch nicht zu. Eine reine Briefwahl trete mit dem verfassungsrechtlichen Leitbild der Urnenwahl, die die repräsentative Demokratie in besonderer Weise sichtbar und erfahrbar mache, in Konflikt. Die Regelung einer reinen Briefwahl durch die Verwaltung verstoße nicht nur gegen Art. 41 der Niedersächsischen Verfassung, sondern auch gegen Art. 20 Abs. 3 und Art. 28 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG). Soweit man der Auffassung sei, dass Art. 2 Abs. 2 GG Vorrang habe, hätte der dort formulierte Gesundheitsschutz auch auf andere Weise unter Einhaltung des NKWG und der NKWO sichergestellt werden können. So hätten die Wahl verschoben werden können und Infektionsrisiken in den Wahllokalen - ähnlich wie in Lebensmittelmärkten oder an Arbeitsplätzen - durch Trennscheiben, Einhaltung von Abständen, Desinfektionsmittel und das Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen auf ein vertretbares Maß reduziert werden können. Eine Briefwahl auf Antrag wäre als Alternative ebenfalls möglich geblieben. Die Anordnung einer reinen Briefwahl sei nach alledem unverhältnismäßig gewesen. Die vom Beklagten in seiner Wahlprüfungsentscheidung bereits festgestellten Rechtsverstöße der Anordnung einer ausschließlichen Briefwahl und des Verzichts auf die Bildung von Urnenwahlbezirken und Wahlräumen seien auch geeignet gewesen, dass Wahlergebnis nicht nur unwesentlich zu beeinflussen. § 48 Abs. 1 Nr. 2 NKWG verlange nicht, dass mit absoluter Gewissheit feststehe, dass sich der Verstoß auf das Wahlergebnis ausgewirkt habe. Ein solcher Nachweis sei schließlich nie zu führen, da die Gründe für ein Wählerverhalten nicht zu ermitteln seien. Ein Rechtsverstoß beeinflusse das Ergebnis daher bereits mehr als unwesentlich, wenn nach der Lebenserfahrung eine konkrete Möglichkeit bestehe, dass der Verstoß für das Wahlergebnis von entscheidendem Einfluss gewesen sein könne. Der geringe Stimmenabstand von 1.262 Stimmen (1,03 % der Wahlberechtigten) sowie der für Stichwahlen hohe Anteil von ungültigen Stimmen (613 Stimmen) spreche für eine nicht nur unwesentliche Beeinflussung des Wahlergebnisses. Hätten sich nur 632 Wähler (0,6 % der Wahlberechtigten) ohne die Rechtsverstöße für den anderen Kandidaten entschieden oder gültig gewählt, hätte der Beigeladene keine Stimmenmehrheit erreicht. Wie bereits vorgetragen, schränke eine Briefwahl die Analphabeten und Spontanwähler ein. Ihm, dem Kläger, seien persönlich Fälle bekannt, bei denen sich gerade Personen der älteren Generation mit den Modalitäten der Briefwahl überfordert gefühlt hätten. Denkbar sei darüber hinaus auch eine Beeinflussung durch Familienangehörige oder Angehörige des Hausstandes. Zudem zählten bei einer Briefwahl auch Stimmen von Bürgern mit, die zum Zeitpunkt der Wahl bereits verstorben seien. Aufgrund der kurzfristigen Anordnung der Briefwahl bestehe auch die Möglichkeit, dass Wahlbriefe nicht oder zu spät eingegangen seien. Da über diesen Sachverhalt keine Erhebungen bekannt seien, sei auch dieser Punkt nicht überprüfbar. Nach der Lebenserfahrung bestehe nach alledem die konkrete Möglichkeit, dass gerade die Durchführung der ausschließlichen Briefwahl für das Wahlergebnis von entscheidendem Einfluss gewesen sein könnte. Schließlich sei die Begründung der Zurückweisung des Wahleinspruchs nicht in der in § 49 Abs. 1 NKWG festgelegten Frist von zwei Wochen nach Beschlussfassung erfolgt und könne daher nicht berücksichtigt werden.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung seiner am 29. September 2020 beschlossenen und unter dem 12. Oktober 2020 als Bescheid umgesetzten Wahlprüfungsentscheidung zu verpflichten, die am 8. März 2020 und 5. April 2020 durchgeführte Direktwahl zum Landrat des Landkreises L. für ungültig zu erklären.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er macht im Wesentlichen geltend: Es beständen bereits Zweifel, ob der vom Kläger erhobene Wahleinspruch überhaupt zulässig sei. Zwar habe der Kläger im Rahmen seines Einspruchs substantiiert vorgetragen, dass die Durchführung einer reinen Briefwahl aus Gründen des Infektionsschutzes (jedenfalls abstrakt betrachtet) einen beachtlichen Wahlfehler im Sinne des § 46 Abs. 1 Satz 2 NKWG begründen könne. Allerdings fehle jeglicher Vortrag zur Erheblichkeit des geltend gemachten Wahlfehlers. Insoweit finde sich im Einspruch lediglich die bloße und durch nichts belegte, daher unsubstantiierte Behauptung, die „Vorgehensweise“ habe das Wahlergebnis erheblich beeinflussen können. Aus der Gesamtschau der gesetzlichen Regelungen des NKWG, insbesondere der §§ 46 und 48 NKWG, folge, dass im Wahleinspruch auch mit Substanz vorgetragen werden müsse, inwieweit der Fehler nach Auffassung des Einspruchsführers das Wahlergebnis wesentlich beeinflusst habe. Da es an einem solchen Vortrag im Einspruch fehle, sei der Einspruch unter diesem Gesichtspunkt unzulässig und die Klage bereits aus diesem Grunde unbegründet. Hinsichtlich der Frage der Begründetheit des Einspruchs werde auf die Ausführungen in den Vorlagen des Kreiswahlleiters (070/2020 und 070/2020-1) verwiesen. Jedenfalls habe ein etwaiger Wahlrechtsfehler das Wahlergebnis nur unwesentlich beeinflusst. Von einer Ergebnisrelevanz im Sinne von § 48 Abs. 1 Nr. 2 NKWG sei bei einer Direktwahl von Einzelpersonen nur dann auszugehen, wenn es bei einer fehlerfreien Durchführung der Wahl zum „Umkippen“ der Wahl im Sinne eines anderen gewählten Kandidaten gekommen wäre, sich also der Wahlausgang geändert hätte. Hier bestehe keine reale Möglichkeit, dass die Wahl bei ordnungsgemäßem Ablauf zu einem anderen Ergebnis (im Sinne eines Obsiegens des unterlegenen Bewerbers) geführt hätte. Vielmehr sei nach der Lebenserfahrung aufgrund der konkreten Umstände des Falles so gut wie auszuschließen, völlig fernliegend und höchst unwahrscheinlich, dass sich die gerügten Unregelmäßigkeiten auf die Wahl des Beigeladenen ausgewirkt haben könnten. Das Wahlergebnis sei klar ausgefallen. Der Beigeladene habe mit 1.262 Stimmen einen erheblichen Stimmenvorsprung erzielt; von einem äußerst knappen Wahlausgang könne nicht die Rede sein. Es sprächen auch überhaupt keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür, dass es durch die Durchführung der Stichwahl zu einer Benachteiligung bestimmter Wählergruppen gekommen sei. Eine Einschränkung von Spontanwählern und Analphabeten sei nicht ersichtlich und werde durch den Kläger nur vollkommen pauschal behauptet. Zur Veranschaulichung der Durchführung der Briefwahl habe die Wahlleitung eigens für die Stichwahl ein sehr anschauliches Video produziert und dieses im Vorfeld auf die Homepage des Landkreises gestellt und es auch über seinen Facebook-Account geteilt. Sollte ein Wahlfehler hier überhaupt vorliegen, sei von einer tendenzlosen Unregelmäßigkeit auszugehen. Eine wie auch immer messbare Bevor- oder Benachteiligung eines Kandidaten sei nicht feststellbar.

Der Beigeladene beantragt ebenfalls,

die Klage abzuweisen.

Er trägt im Wesentlichen vor: Der Wahleinspruch des Klägers sei zu Recht zurückgewiesen worden. In seinem Einspruch trage der Kläger zwar zu einem möglichen Wahlfehler vor, behaupte aber lediglich ins Blaue hinein, dass dieser das Wahlergebnis mehr als nur unwesentlich beeinflusst habe. Etwas umfangreicherer diesbezüglicher Vortrag des Klägers sei erst mit dem Schreiben vom 18. Juli 2020, also nach Ablauf der Einspruchsfrist, erfolgt. Es beständen daher bereits Zweifel, ob der Einspruch innerhalb der Einspruchsfrist ausreichend begründet worden sei. Jedenfalls sei der Einspruch unbegründet. Es liege kein Wahlfehler vor. Ein solcher ergebe sich zunächst nicht aus der Verschiebung der Stichwahl. Die Entscheidung hierzu sei ordnungsgemäß getroffen, der Beklagte, der die Eilentscheidung mit Beschluss vom 7. Juli 2020 nachträglich zustimmend zur Kenntnis genommen habe, entsprechend den gesetzlichen Vorgaben beteiligt worden. Auf die Frage, ob die Voraussetzungen für die Eilentscheidung vorgelegen hätten, komme es aus diesem Grund schon nicht mehr an. Die Voraussetzungen für eine Eilentscheidung auf Grundlage von § 89 Satz 2 NKomVG hätten zudem aber auch vorgelegen. Ohne die am 16. März 2020 getroffene Entscheidung über die Verschiebung der Stichwahl auf den 5. April 2020 wäre eine ordnungsgemäße Organisation und Vorbereitung der Stichwahl nicht mehr möglich gewesen. Selbst bei einer Einberufung des Beklagten oder des Kreisausschusses mit verkürzter Ladungsfrist wäre die notwendige Wahlvorbereitung nicht mehr im erforderlichen Maße sichergestellt gewesen. Wenn der Kläger meine, die Stichwahl hätte auch zwei Wochen später stattfinden können, verkenne er die Regelungssystematik des NKWG. Ein Wahlfehler ergebe sich auch nicht aus der Durchführung der Stichwahl als reine Briefwahl. § 28 Abs. 1 IfSG stelle insoweit eine taugliche Rechtsgrundlage dar. Hielte man eine auf § 28 Abs. 1 IfSG gestützte Anordnung im Rahmen des Kommunalwahlrechts für nicht möglich, entstünde ein rechtliches Vakuum. Nach geltendem Wahlrecht dürfte die Wahl aus infektionsschutzrechtlichen Gründen nicht durchgeführt werden. Andererseits bestünde keine Möglichkeit, zumindest für eine Übergangszeit eine infektionsschutzrechtlich unbedenkliche Wahlregelung an die Stelle zu setzen. Wahlen könnten auf absehbare Zeit nicht durchgeführt werden. Es entstünde ein Zustand, der vom Leitbild der periodischen Legitimation durch Wahlen noch weiter entfernt wäre als der einer Anordnung einer wahlrechtlich möglichen Lösung auf infektionsschutzrechtlicher Grundlage. In der konkreten Situation sei es unmöglich gewesen, alle kommunalwahl- und kommunalverfassungsrechtlichen Vorgaben einzuhalten. Durch die Dienstunfähigkeit des Amtsvorgängers des Beigeladenen, den bereits durchgeführten ersten Wahlgang und das sich rasant ausbreitende Corona-Virus sei eine Notsituation entstanden, die der Gesetzgeber nicht bedacht und geregelt gehabt hätte. Mangels gesetzlicher Grundlage hätten sich die Verantwortlichen in einem Dilemma befunden. Gegenüber einer solchen absoluten Ausnahmesituation könne die Rechtsordnung nicht gleichgültig bleiben und müsse vielmehr in der Lage sein, unter Abwägung aller Umstände die am wenigsten belastende Lösung zu finden, die für eine Übergangszeit ermögliche, eine wahlfreie Zeit zu vermeiden und zugleich die Anforderungen des Infektionsschutzes bei der Durchführung der Wahl zu wahren. Die Anordnung der ausschließlichen Briefwahl und damit verbundene Übersendung von Wahlunterlagen von Amts wegen habe auch auf Rechtsfolgenseite auf § 28 Abs. 1 IfSG gestützt werden können. Unter Abwägung aller Umstände erweise sich die isolierte Durchführung der Briefwahl auch als angemessene Lösung, der gegenüber allen anderen in Betracht kommenden Varianten klar der Vorzug zu geben gewesen sei. Selbst wenn man aber davon ausginge, dass § 28 Abs. 1 IfSG nicht als Rechtsgrundlage herangezogen werden könnte, sei die Durchführung der Stichwahl als reine Briefwahl dennoch zulässig gewesen. Denn auch hier bleibe der Rechtsgedanke richtig, dass die Rechtsordnung in exzeptionellen Notlagen eine Lösung zulassen müsse, die unter den gegebenen Umständen immer noch näher an dem gesetzlichen Leitbild orientiert sei als die Lösung, die sich bei Vollzug der im Normalfall und nicht am Notstand orientierten rechtlichen Regeln ergäbe. Schließlich könne der Wahleinspruch des Klägers selbst dann keinen Erfolg haben, wenn er zulässig und begründet sei, da der hilfsweise zu unterstellende Rechtsverstoß das Wahlergebnis nicht oder nur unwesentlich beeinflusst habe. Mit „Ergebnis der Wahl“ sei der Wahlausgang gemeint; es komme maßgeblich darauf an, ob ohne den unterstellten Wahlfehler ein anderer Kandidat hätte gewählt werden können. Vorliegend stelle der unterstellte Wahlfehler einer reinen Briefwahl eine tendenzlose und bewerberneutrale Unregelmäßigkeit dar. Bei einer derartigen tendenzlosen bzw. bewerberneutralen Unregelmäßigkeit bedürfe es konkreter Anhaltspunkte dafür, dass sie sich auf das Ergebnis ausgewirkt haben könnte. Eine reine Spekulation reiche für die Bejahung der Ergebnisrelevanz nicht aus. Zusätzlich sei bei tendenzlosen bzw. bewerberneutralen Wahlfehlern in Rechnung zu stellen, dass die Auswirkungen auf das Ergebnis desto geringer seien, je mehr Wahlberechtigte von dem Wahlfehler betroffen seien. Da hier alle abgegebenen Stimmen von dem unterstellten Wahlfehler betroffen seien, bestehe kein Anhaltspunkt dafür, dass das Ergebnis dennoch zugunsten bzw. zulasten eines Bewerbers beeinflusst worden sei. Gewichtig gegen einen ergebnisrelevanten Wahlfehler spreche zudem, dass der Gesetzgeber mittlerweile in § 52c NKWG genau die Verfahrensregelung normiert habe, die vorliegend praktiziert worden sei. Der Gesetzgeber habe damit zum Ausdruck gebracht, dass es sich bei dieser Vorgehensweise gerade nicht um eine solche handele, die das Wahlergebnis wesentlich beeinflusse; andernfalls hätte er dieses Verfahren nicht normieren dürfen. Der Kläger selbst stelle sowohl in seinem Einspruch als auch in seiner Klagebegründung lediglich allgemeine Vermutungen an, die keinen Bezug zum konkreten Sachverhalt aufwiesen. Die von ihm beschriebenen Einschränkungen von Analphabeten und Spontanwählern hätten so schon nicht vorgelegen. Auch der Vortrag, dass Familienangehörige bei der Wahlausübung beeinflusst worden seien, und Wahlbriefe nicht oder zu spät eingegangen sein könnten, gehe über bloße Behauptungen und Vermutungen nicht hinaus. Weiter übersehe der Kläger die Regelung in § 30a Abs. 3 NKWG, nach welcher Briefwahlstimmen von Personen, die zum Zeitpunkt des Wahltags bereits verstorben seien, gültig blieben und mitzuzählen seien. Schließlich könne auch die bei der Stichwahl höhere Wahlbeteiligung als üblich nicht zu einer wesentlichen Beeinflussung des Wahlergebnisses geführt haben. Ein Wahlverfahren, das zu einer möglichst hohen Wahlbeteiligung führe, entspreche vielmehr gerade den Vorgaben des Demokratieprinzips. Ferner sei der Stimmenabstand zwischen dem Beigeladenen und seinem Mitbewerber auch nicht so knapp, dass nur wenige Einzelstimmen einen anderen Wahlausgang hätten bewirken können.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage hat keinen Erfolg.

Die auf Verpflichtung des Beklagten zur Ungültigerklärung der am 8. März und 5. April 2020 durchgeführten Direktwahl zur Wahl des Landrats gerichtete Verpflichtungsklage ist zwar statthaft (vgl. zur richtigen Klageart einer Wahlprüfungsklage: Nds. OVG, Urt. v. 26.03.2008 - 10 LC 203/07 -, juris Rn. 22; zu den früher vertretenen Sichtweisen: Thiele/Schiefel, Niedersächsisches Kommunalwahlrecht, 4. Aufl., § 49 Erl. 2 m. w. N.) und auch im Übrigen zulässig; insbesondere ist der Kläger unabhängig von einer subjektiven Rechtsposition nach § 49 Abs. 2 NKWG als Wahleinspruchsführer klagebefugt (vgl. zur Klagebefugnis: Thiele/Schiefel, a. a. O., § 49 Erl. 3).

Die Klage ist jedoch unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, dass der Beklagte die angefochtene Wahl zum Landrat des Landkreises L. für ungültig erklärt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Beklagte hat den Wahleinspruch des Klägers mit seiner Wahlprüfungsentscheidung vom 29. September 2020 in Gestalt des Bescheides vom 12. Oktober 2020 zumindest im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen. Nach § 48 Abs. 1 NKWG wird ein Wahleinspruch zum einen zurückgewiesen, wenn er unzulässig ist, zum anderen, wenn er zulässig, aber unbegründet ist (§ 48 Abs. 1 Nr. 1 NKWG) oder, wenn er zwar zulässig und begründet ist, aber der Rechtsverstoß auch im Zusammenhang mit anderen Rechtsverstößen das Wahlergebnis nicht oder nur unwesentlich beeinflusst hat (§ 48 Abs. 1 Nr. 2 NKWG). Hier kann es die Kammer, die an die vom Beklagten in seiner Wahlprüfungsentscheidung getroffene Feststellung, dass der Wahleinspruch zulässig und begründet ist, nicht gebunden ist (dazu 1.), in letzter Hinsicht dahingestellt lassen, ob der zulässige Einspruch (dazu 2.) - wie vom Beklagten in seiner Wahlprüfungsentscheidung angenommen - begründet ist (dazu 3.). Denn ein angenommener Wahlfehler hat das Wahlergebnis jedenfalls nicht wesentlich beeinflusst (dazu 4.).

1. Die vom Beklagten in seiner Wahlprüfungsentscheidung getroffene Feststellung, dass der Wahleinspruch zulässig und begründet ist, ist nicht etwa deshalb in Bestandskraft erwachsen, weil der Kläger, der die Ungültigerklärung der durchgeführten Direktwahl erreichen will, die Wahlprüfungsentscheidung nur in dem Umfang angegriffen hat, in dem sie seinem Klageziel entgegensteht. Es liegt nicht in der Hand eines Wahleinspruchsführers, das „Prüfprogramm“ des § 48 Abs. 1 NKWG im Klageverfahren durch eine beschränkte Antragstellung auf bestimmte Teilaspekte - etwa die Frage der Wesentlichkeit eines bereits festgestellten Rechtsverstoßes - zu beschränken. Die Wahlprüfungsentscheidung der Vertretung stellt einen Verwaltungsakt dar (Thiele/Schiefel, a. a. O, § 49 Erl. 2 m. w. N.). Der Regelungsgehalt dieses Verwaltungsaktes beschränkt sich jedoch auf die Zurückweisung des Einspruchs und ist nicht in dem Sinne - mit der Folge einer isolierten Anfechtbarkeit - teilbar, dass einzelne Begründungselemente der Entscheidung - wie hier die vom Beklagten verneinte Wesentlichkeit des festgestellten Rechtsverstoßes - isoliert angefochten werden könnten. Dieses Verständnis trägt auch dem primär objektivrechtlichen Charakter des Wahlprüfungsverfahrens Rechnung, bei welchem der Wahleinspruch nur den „Anstoß“ für die gerade im öffentlichen Interesse liegende Wahlprüfung gibt. Denn das öffentliche Interesse erfordert es, dass das Wahlprüfungsgericht die mit einem den Anforderungen des § 46 Abs. 3 NKWG genügenden Einspruch geltend gemachten Wahleinwendungen überprüfen und die objektiv gebotene Wahlprüfungsentscheidung unabhängig von der vorherigen rechtlichen Einschätzung der beklagten Vertretung treffen kann (vgl. zum objektivrechtlichen Charakter des Wahlprüfungsverfahrens: OVG Brandenburg, Urt. v. 20.09.2001 - 1 A 15/00 -, juris Rn. 44 m. w. N.). Eine andere Sichtweise könnte bei Lichte betrachtet schließlich sogar zu dem paradoxen - vom Gesetzgeber sicher nicht gewollten - Ergebnis führen, dass ein Wahlprüfungsgericht eine Wahl, die aus seiner Sicht gar nicht fehlerhaft war, von der Vertretung aber als fehlerhaft eingestuft wurde, für ungültig erklären müsste, wenn nämlich der (aufgrund der Feststellung der Vertretung) zu unterstellende Wahlfehler das Wahlergebnis nach Auffassung des Gerichts wesentlich beeinflusst hätte.

2. Der Wahleinspruch des Klägers ist zulässig. Entgegen der Auffassung des Beklagten und des Beigeladenen genügt er den Anforderungen, die nach § 46 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 NKWG an die Begründung eines Wahleinspruchs zu stellen sind.

Nach § 46 Abs. 1 Satz 2 NKWG kann der Wahleinspruch nur damit begründet werden, dass die Wahl nicht den Vorschriften des NKWG oder der NKWO entsprechend vorbereitet oder durchgeführt oder in unzulässiger Weise in ihrem Ergebnis beeinflusst worden ist. Gem. § 46 Abs. 3 Satz 1 NKWG ist der Wahleinspruch innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses zu begründen. Dieser Begründungspflicht genügt der Einspruchsführer, wenn er den vermeintlichen Wahlfehler innerhalb der Einspruchsfrist substantiiert geltend macht (Thiele/Schiefel, a. a. O., § 46 Erl. 4). Wahlbeanstandungen dagegen, die über nicht belegte Vermutungen oder die bloße Andeutung einer Möglichkeit von Wahlfehlern nicht hinausgehen und einen konkreten, der Überprüfung zugänglichen Tatsachenvortrag nicht enthalten, dürfen als unsubstantiiert zurückgewiesen werden (BVerfG, Beschl. v. 24.08.1993 - 2 BvR 1858/92 -, juris Rn. 17 f.). Ein Nachschieben von Einspruchsgründen nach Ablauf der Einspruchsfrist ist nicht möglich, wohl aber die Präzisierung und sachliche Erweiterung der Begründung oder das nachträgliche Beibringen von Tatsachen, die den fristgerecht bezeichneten Einspruchsgrund stützen und belegen sollen (Thiele/Schiefel, a. a. O.). Das sogenannte Anfechtungsprinzip soll nur die Einbeziehung neuer, abgrenzbarer, eigenständiger Sachverhalte ausschließen, die zur Überprüfung weiterer, bisher nicht geltend gemachter Wahlrechtsverstöße und damit voraussichtlich zu einer Verzögerung der Wahlprüfungsentscheidung führen würden. Die Anforderungen daran, was ein Einspruchsführer innerhalb der Einspruchsfrist substantiiert vortragen muss, dürfen nicht überspannt werden (Nds. OVG, Urt. v. 21.04.2009 - 10 LC 85/08 -, V. n. b.). Er muss keinesfalls einen abgeschlossenen Sachverhalt präsentieren, den das Wahlprüfungsorgan nur noch unverändert zu übernehmen und auf seinen Wahrheitsgehalt zu prüfen hat. Im Rahmen des durch den Einspruch begrenzten Anfechtungsgegenstandes hat die Vertretung und im Falle einer Wahlprüfungsklage das Gericht vielmehr den Tatbestand von Amts wegen zu erforschen und alle rechtserheblichen Tatsachen zu berücksichtigen (Nds. OVG, a. a. O.; VG Oldenburg, Urt. v. 22.01.2008 - 1 A 5201/06 -, juris Rn. 23 m. w. N.).

Hiervon ausgehend bestehen an der Zulässigkeit des vom Kläger mit Schreiben vom 9. April 2020 erhobenen Wahleinspruchs keine Zweifel; die unter dem 18. Juli 2020 an die Abgeordneten des Beklagten übersandten „Erläuterungen zur Anhörung im Wahlprüfungsverfahren“ und die Ausführungen des Klägers in seiner Klagebegründung stellen nach Auffassung der Kammer eine zulässige Präzisierung und Ergänzung der bisherigen Begründung und nicht ein unzulässiges Nachschieben neuer Einspruchsgründe dar. Der Kläger hat die von ihm geltend gemachten Wahleinwendungen - die Verschiebung der Stichwahl auf Grundlage einer Eilentscheidung nach § 89 Satz 2 NKomVG und die Anordnung einer reinen Briefwahl - in seinem Wahleinspruch hinreichend substantiiert dargetan. Dass der Kläger zur Erheblichkeit dieser geltend gemachten Wahlrechtsverstöße in seinem Einspruchsschreiben außer der nicht weiter belegten Aussage, dass die genannten Verstöße das Wahlergebnis erheblich beeinflussen konnten, nichts vorgetragen hat, ist unschädlich. Den Begründungsanforderungen des § 46 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 NKWG ist genügt, wenn der geltend gemachte Wahlrechtsverstoß substantiiert benannt wird. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 46 Abs. 1 Satz 2 NKWG. Darüber hinaus zu verlangen, dass ein Wahleinspruchsführer bereits im Einspruch auch die Erheblichkeit des von ihm geltend gemachten Wahlrechtsverstoßes substantiiert darlegt, würde die Begründungsanforderungen überspannen. Der Sinn und Zweck der Begründungspflicht besteht darin, Verfahrensverzögerungen durch die Geltendmachung weiterer, völlig neuer Einspruchsgründe nach Ablauf der Einspruchsfrist zu verhindern. Diese Gefahr besteht ersichtlich nicht, wenn ein Einspruchsführer nach Ablauf der Einspruchsfrist sein Vorbringen lediglich im Hinblick auf die Erheblichkeit bereits geltend gemachter Wahlrechtsverstöße erweitert. Denn im Rahmen dieses durch die geltend gemachten Wahlrechtsverstöße begrenzten Anfechtungsgegenstandes hat das zuständige Wahlprüfungsorgan ohnehin den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen und alle rechtserheblichen Tatsachen zu berücksichtigen. Diese Amtsermittlungspflicht bezieht sich auch auf die Frage der Erheblichkeit eines geltend gemachten Wahlrechtsverstoßes.

3. Die Kammer lässt offen, ob der Wahleinspruch begründet ist. Ein Wahleinspruch ist begründet, wenn die Wahl nicht den Vorschriften des Niedersächsischen Kommunalwahlgesetzes oder der Niedersächsischen Kommunalwahlordnung entsprechend vorbereitet oder durchgeführt oder in unzulässiger Weise in ihrem Ergebnis beeinflusst worden ist (§ 46 Abs. 1 Satz 2 NKWG).

a) Ein Wahlfehler in diesem Sinne ergibt sich entgegen der Auffassung des Klägers nicht daraus, dass die Entscheidung über die Verschiebung der Stichwahl als Eilentscheidung gem. § 89 Satz 1 und 2 NKomVG durch den Ersten Kreisrat und die stellvertretende Landrätin getroffen worden ist. Zwar bestimmt, wenn eine Wahl - wie vorliegend - aufgrund höherer Gewalt nicht durchgeführt werden kann, gem. §§ 41 Abs. 2 Satz 2, 45a, 45b Abs. 3 Satz 2 NKWG grundsätzlich die Vertretung den Tag der Nachwahl (vgl. Thiele/Schiefel, a. a. O., § 45b Erl. 3). Vorliegend konnte die Entscheidung gestützt auf § 89 Satz 1 und 2 NKomVG aber durch den Ersten Kreisrat und die stellvertretende Landrätin ergehen, da weder eine Entscheidung des Beklagten noch eine Entscheidung des Kreisausschusses rechtzeitig eingeholt werden konnte und ohne die Entscheidung erhebliche Nachteile gedroht hätten.

Die Bestimmung eines zeitnahen Nachwahltermins war erforderlich, um einen Komplettabbruch der begonnenen Direktwahl und den damit einhergehenden Verlust des im ersten Wahlgang geäußerten Wählerwillens zu verhindern. Soweit der Kläger geltend macht, der Termin für die Nachwahl hätte bis zum 19. April 2020 angesetzt werden können, weshalb eine Eilentscheidung nicht erforderlich gewesen sei, verkennt er die Regelungssystematik des NKWG. Zwar bestimmt § 41 Abs. 2 NKWG, dass die Nachwahl spätestens vier Wochen nach der Hauptwahl stattfinden muss. Versteht man diese Regelung - wozu die Kammer neigt - dahingehend, dass mit „Hauptwahl“ der jeweils abgesagte Wahltermin, im Falle einer Stichwahl also der abgesagte Stichwahltermin, gemeint ist, so ist dem Kläger zwar zuzugeben, dass hiernach vorliegend ein Nachwahltermin am 19. April 2020 grundsätzlich möglich gewesen wäre. Die Vier-Wochen-Frist des § 41 Abs. 2 Satz 2 NKWG stellt allerdings eine Höchstfrist dar. Bei der Auslegung der Regelung ist zu berücksichtigen, dass sie aus einer Zeit stammt, in der es noch keine Direktwahlen gab. Im Falle der Verschiebung einer Stichwahl ist daher zusätzlich immer auch die speziellere Regelung des § 45b Abs. 3 NKWG in den Blick zu nehmen, nach welcher eine etwaige Stichwahl grundsätzlich am zweiten Sonntag nach dem ersten Wahlgang und nur unter besonderen Umständen an einem anderen Sonntag durchzuführen ist. Auf die aus dieser Regelung hervorgehende enge zeitliche Verknüpfung zwischen erstem Wahlgang und Stichwahl ist auch bei der Verschiebung einer Stichwahl Bedacht zu nehmen. Denn Stichwahl und erster Wahlgang gehören zusammen; eine zu lange Zeitdauer zwischen ihnen kann zu einer Verletzung der Chancengleichheit der Bewerber führen (vgl. Thiele/Schiefel, a. a. O., § 45b Erl. 4). Die Höchstfrist des § 41 Abs. 2 NKWG, die zu einem zeitlichen Abstand von mindestens sechs Wochen zwischen erstem Wahlgang und Stichwahl führen würde, ist bei der Verschiebung einer Stichwahl daher nach Möglichkeit nicht auszuschöpfen. Dass der Stichwahltermin vorliegend nicht auf den 19. April 2020, sondern auf den 5. April 2020 und damit auf den organisatorisch wohl frühestmöglichen Termin verschoben worden ist, ist nach alledem nicht zu beanstanden.

Es liegt auch auf der Hand und bedarf keiner weiteren Erörterung, dass die kurzfristig angesetzte ausschließliche Briefwahl - insbesondere durch den zusätzlichen Druck und die Übersendung von Briefwahlunterlagen - mit einem hohen organisatorischen Vorbereitungsaufwand verbunden war. Da mit diesen Vorbereitungen ersichtlich erst begonnen werden konnte, nachdem der Termin zur Nachwahl bestimmt worden war, war eine sofortige Entscheidung über die Terminverschiebung erforderlich. Die rechtzeitige Einholung einer Entscheidung des Beklagten oder des Kreisausschusses war angesichts dieser Umstände - selbst bei Einberufung einer außerordentlichen Sitzung - nicht möglich. Im Übrigen ist zu konstatieren, dass die pandemiebedingten Einschränkungen im fraglichen Zeitraum ohnehin auch die vorübergehende Aussetzung der Sitzungstätigkeit des Beklagten zur Folge hatten, sodass bereits aus diesem Grunde wohl allenfalls eine Entscheidung des Kreisausschusses im schriftlichen Umlaufverfahren hätte eingeholt werden können, welche aufgrund der beschriebenen Dringlichkeit jedoch ebenfalls nicht abgewartet werden konnte (vgl. zur Absage einer Sitzung d. Bekl. am 24.03.2020 und der beabsichtigten Beschlussfassung im Umlaufverfahren: Q., abgerufen am 17.06.2021). Die gem. § 89 Satz 3 NKomVG erforderliche unverzügliche Unterrichtung des Beklagten und des Kreisausschusses ist durch Unterrichtung des Kreisausschusses am 26. Mai 2020 und Unterrichtung des Beklagten am 7. Juli 2020 erfolgt.

b) Die vom Kläger gerügte Durchführung der Stichwahl als ausschließliche Briefwahl hingegen entsprach nicht den zum maßgeblichen Zeitpunkt der Wahl geltenden Vorschriften des Niedersächsischen Kommunalwahlrechts.

aa) Die Möglichkeit der Briefwahl wurde im Niedersächsischen Kommunalwahlrecht erst 1967 eingeführt. Zunächst war die briefliche Stimmabgabe, die gewissen Missbrauchs- und Manipulationsmöglichkeiten ausgesetzt ist, nur in bestimmten Ausnahmefällen zulässig und unterlag strengen Verfahrensregelungen zur Wahrung des Wahlgeheimnisses und des Grundsatzes der persönlichen Wahl. Erst durch das Gesetz zur Änderung kommunalwahlrechtlicher Bestimmungen vom 10. November 2010 (GVBl. S. 510) ist die Briefwahl dadurch erleichtert worden, dass - in Übereinstimmung mit dem Bundestagswahlgesetz und dem Europawahlgesetz - Briefwahlunterlagen auf Antrag ohne die Angabe und Glaubhaftmachung von Hinderungsgründen erteilt werden (Thiele/Schiefel, a. a. O., Einführung, Erl. 7 u. § 5 Erl. 4).

Grundsätzlich gilt, dass bei der Briefwahl die öffentliche Kontrolle der Stimmabgabe zurückgenommen ist. Auch ist die Integrität der Wahl nicht gleichermaßen gewährleistet wie bei der Urnenwahl im Wahllokal. Die Zulassung der Briefwahl dient aber dem Ziel, eine möglichst umfassende Wahlbeteiligung zu erreichen und damit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl Rechnung zu tragen. Jedenfalls im Zusammenhang mit der Briefwahl stellt der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl eine zu den Grundsätzen der Freiheit, Geheimheit und Öffentlichkeit der Wahl gegenläufige verfassungsrechtliche Grundentscheidung dar, die grundsätzlich geeignet ist, Einschränkungen anderer Grundentscheidungen der Verfassung zu rechtfertigen. In diesem Zusammenhang ist es in erster Linie Sache des Gesetzgebers, bei der Ausgestaltung des Wahlrechts die genannten, bei der Briefwahl kollidierenden Wahlrechtsgrundsätze einem angemessenen Ausgleich zuzuführen. Dabei muss er dafür Sorge tragen, dass keiner der vor allem das Demokratieprinzip konkretisierenden Wahlrechtsgrundsätze unverhältnismäßig eingeschränkt wird oder in erheblichem Umfang leer zu laufen droht (BVerfG, Beschl. v. 09.07.2013 - 2 BvC 7/10 -, juris Rn. 13 m. w. N.).

Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen und dem verfassungsrechtlichen Leitbild der Urnenwahl (vgl. hierzu BVerfG, a. a. O., Rn. 16), hat der niedersächsische Kommunalwahlgesetzgeber insbesondere durch die Regelungen in § 19 Abs. 1 und Abs. 2 NKWG Rechnung getragen, nach welchen ein (für die Briefwahl erforderlicher) Wahlschein nur auf Antrag einer wahlberechtigten Person ausgestellt wird. Durch das in

§ 19 Abs. 1 und 2 NKWG normierte Antragserfordernis hat der Gesetzgeber den Ausnahmecharakter und die Freiwilligkeit der Briefwahl sichergestellt sowie in der Sache ein Recht auf Urnenwahl festgelegt. Auch die Regelungen in §§ 8 Abs. 1 und 2 NKWG (Einrichtung von Wahlbezirken und Wahlräumen), 32 NKWG (Nutzung von Wahlurnen) und §§ 43, 44 NKWO (Einrichtung von Wahlkabinen und Wahlurnen) sowie § 47 Abs. 3 NKWO (Stimmabgabe durch Legen des gefalteten Stimmzettels in die Wahlurne) machen deutlich, dass im niedersächsischen Kommunalwahlrecht - jedenfalls im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Stichwahl (die aufgrund der Corona-Pandemie erlassene Neuregelung des § 52c NKWG war zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Kraft) - eine ausschließliche Briefwahl nicht vorgesehen war. Dass in § 31 NKWG - abweichend vom Regelfall - auch die Möglichkeit einer Briefwahl vorgesehen ist, ändert an diesem Befund nichts.

bb) Ob die Durchführung der Stichwahl als ausschließliche Briefwahl einen Wahlfehler im Sinne des § 46 Abs. 1 Satz 2 NKWG begründet oder ob das im Zeitpunkt der Stichwahl geltende Kommunalwahlrecht aus Gründen des Infektionsschutzes bzw. des Infektionsschutzrechts modifiziert werden konnte, muss die Kammer nicht abschließend bewerten. Es handelt sich insoweit letztlich um eine rechtshistorische Frage, die im vorliegenden Fall aus den Gründen unter 4. dahingestellt bleiben kann, und auf die es - aufgrund der Neuregelung in § 52c NKWG - auch in künftigen Fällen nicht mehr ankommen wird. Die Kammer macht insoweit dennoch folgende Anmerkungen:

(1) Die hier erfolgte Anordnung einer ausschließlichen Briefwahl auf Grundlage der infektionsschutzrechtlichen Generalklausel des § 28 Abs. 1 IfSG begegnet nicht unerheblichen rechtlichen Bedenken. Gegen die Rechtmäßigkeit einer solchen Anordnung spricht zunächst bereits der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG), nach welchem die Verwaltung an geltendes Recht gebunden ist, ein Verwaltungsakt also grundsätzlich in jeder Hinsicht mit bestehendem Gesetzesrecht in Einklang stehen muss. Die Anordnung einer reinen Briefwahl stand mit dem im Zeitpunkt der Stichwahl geltenden Kommunalwahlrecht aber - wie oben dargelegt - gerade nicht im Einklang, da dieses durch das in § 19 Abs. 1 und 2 NKWG normierte Antragserfordernis gerade den Ausnahmecharakter und die Freiwilligkeit der Briefwahl sicherstellt und in der Sache ein grundsätzliches Recht auf Urnenwahl begründet. Auch eine Sonderregelung - wie nunmehr in § 52c NKWG - existierte zum damaligen Zeitpunkt noch nicht. Zwar ließen sich diese Hürden möglicherweise überwinden, wenn man von einem derogierenden Spezialitätsverhältnis zwischen IfSG und Kommunalwahlrecht ausginge oder annähme, dass die Infektionsschutzbehörde aufgrund des in Art. 31 GG verankerten Grundsatzes „Bundesrecht bricht Landesrecht“ von der Beachtung des Kommunalwahlrechtes entbunden war (vgl. ausführlich zu diesen Überlegungen und zur Frage der „Infektionsschutzrechtsfestigkeit“ des Wahlrechts: Prof. Dr. Lindner in: Wahlen in Zeiten von Corona, Teil 2, https://verfassungsblog.de/wahlen-in-zeiten-von-corona-teil-2/). Eine derartige Sichtweise erscheint jedoch nicht unproblematisch, da das Kommunalwahlrecht eine ureigene Materie der Landesgesetzgebung darstellt, in die aufgrund bundesgesetzlicher Regelungen kaum eingegriffen werden kann (vgl. dazu, dass § 28 Abs.1 IfSG den Gesundheitsbehörden keine Befugnis vermittelt, in Kompetenzen und Funktionsfähigkeit von Verfassungsorganen des Bundes und der Länder und in das Wahlrecht einzugreifen: Thüringer VGH, Urt. v. 01.03.2021 - 18/20 -, juris Rn. 391; Kersten/Rixen, Der Verfassungsstaat in der Corona-Krise, 2. Aufl., S. 52 ff.). Dafür, dass auch der Bundesgesetzgeber eine (bundes-)infektionsschutzrechtliche Regelung auf dem Gebiet des Wahl- und Kommunalwahlrechtes nicht für möglich gehalten hat, spricht aus Sicht der Kammer auch der Umstand, dass trotz der zahlreichen in § 28a IfSG geschaffenen spezifischen Neuregelungen - etwa für Freizeit-, Kultur- und Sportveranstaltungen, Gastronomie, Einzelhandel und Gemeinschaftseinrichtungen - für die Durchführung von Wahlen gerade keine spezifischen infektionsschutzrechtlichen Regelungen getroffen worden sind. Übereinstimmend mit diesem Befund kann aus der vom Landesgesetzgeber in § 52c NKWG geschaffenen Neuregelung geschlossen werden, dass der Landesgesetzgeber die Generalklausel des § 28 Abs. 1 IfSG auf dem Gebiet des Wahlrechts nicht für ausreichend erachtet hat und seine Zuständigkeit zur Schaffung einer spezifischen Regelung gegeben sah. Etwas Anderes lässt sich nach Auffassung der Kammer auch nicht aus § 52c Abs. 5 NKWG herleiten. Zwar zeigt diese Regelung, dass der Landesgesetzgeber vor Inkrafttreten der Spezialregelung des § 52c NKWG die Untersagung einer Wahl auf Grundlage des IfSG offenbar für möglich hielt. Dass er auch die Anordnung einer ausschließlichen Briefwahl, also eine Modifizierung des Wahlrechtes, gestützt auf das IfSG für möglich hielt, ergibt sich hieraus aber nicht, zumal die Schaffung des § 52c NKWG bei einer solchen Sichtweise überflüssig gewesen wäre. Wie der Kläger hat im Übrigen auch die Kammer Zweifel, ob die Anordnung einer ausschließlichen Briefwahl auf Rechtsfolgenseite vom Wortlaut des § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG gedeckt ist. Hiernach kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten. Es erscheint bereits fraglich, ob eine (Urnen)Wahl als Veranstaltung oder sonstige Ansammlung von Menschen eingestuft werden kann. Zudem dürfte die Anordnung einer ausschließlichen Briefwahl über eine bloße Beschränkung hinausgehen und - da es sich nicht um eine Untersagung, sondern um eine Modifizierung der sonst geltenden Regelungen zur Wahlhandlung handelt - auch nicht ohne weiteres als „Verbot“ einzustufen sein.

(2) Auch eine denkbare Rechtfertigung der angeordneten ausschließlichen Briefwahl über einen allgemeinen Notstandsgedanken erscheint zumindest problematisch. Zwar verkennt die Kammer nicht, dass sich Kreiswahlleitung und Kreisverwaltung vorliegend aufgrund der erforderlich gewordenen Direktwahl eines neuen Landrats, des bereits durchgeführten ersten Wahlgangs und der sich ausbreitenden Corona-Pandemie in einem Dilemma, einem nicht auflösbaren Normenkonflikt, befanden. Die Durchführung der Stichwahl als „klassische“ Urnenwahl war unter infektionsschutzrechtlichen Gesichtspunkten nicht verantwortbar. Ein Komplettabbruch der Direktwahl und eine Neudurchführung zu einem späteren, unbestimmten Zeitpunkt, hätte zu einem Verlust des im ersten Wahlgang geäußerten Wählerwillens geführt und ist im Niedersächsischen Kommunalwahlrecht, das insoweit mit §§ 42, 45m und 45n NKWG abschließende Regelungen enthält, ebenso wenig wie eine reine Briefwahl vorgesehen. Auch die in § 80 Abs. 2 Satz 2 NKomVG festgelegte Frist zur Wahl eines neuen Hauptverwaltungsbeamten hätte bei einem Komplettabbruch der begonnenen Wahl voraussichtlich nicht eingehalten werden können. Eine Absage und Verschiebung nur der Stichwahl auf unbestimmte Zeit schließlich hätte einen Verstoß gegen die in § 41 Abs. 2 Satz 1 NKWG für die Nachwahl normierte Vierwochen-Frist sowie den in § 45b Abs. 3 Satz 1 NKWG niederlegten Grundsatz der engen zeitlichen Verknüpfung zwischen erstem Wahlgang und Stichwahl bedeutet.

Eine allen gesetzlichen Vorgaben entsprechende Lösung war mithin nicht möglich. Die getroffene Anordnung einer ausschließlichen Briefwahl erscheint bei Abwägung aller in Rechnung zu stellenden Rechtsgüter und Vorschriften als die „beste“ und „vernünftigste“ Lösung, da sie mit der in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verankerten staatlichen Pflicht zum Gesundheitsschutz und den wahlrechtlichen Anforderungen zweifellos eher vereinbar war als es eine „normale“ Durchführung oder Absage der Wahl gewesen wäre (vgl. in diesem Sinne - allerdings von einer infektionsschutzrechtlichen Anordnung als Rechtsgrundlage ausgehend - auch den Erlass des Nds. Ministeriums für Inneres und Sport v. 31.03.2020). In Anlehnung an die Praxis des Bundesverfassungsgerichts, die einstweilige befristete Fortgeltung eines als verfassungswidrig eingestuften Gesetzes anzuordnen, wenn andernfalls - bis zum Erlass eines neuen Gesetzes durch den Gesetzgeber - ein Zustand entstünde, der von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt wäre als die bisherige Lage (vgl. etwa BVerfG, Beschl. v. 27.05.2020 - 1 BvR 1873/13 und 1 BvR 2618/13 -, juris Rn. 263 sowie Beschl. v. 15.01.2019 - 2 BvL 1/09 -, juris Rn. 82), ließe sich vor diesem Hintergrund der Gedanke entwickeln, dass die getroffene Anordnung einer ausschließlichen Briefwahl als mit der Gesamtrechtsordnung am ehesten vereinbare Lösung jedenfalls gerechtfertigt und damit nicht rechtswidrig war. Auch eine solche „Rechtfertigungslösung“ begegnet aber nicht unerheblichen rechtlichen Bedenken. Zum einen würde sie den in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Vorbehalt des Gesetzes, der gerade in so wesentlichen Fragen wie der Ausgestaltung des Wahlrechts eine Entscheidung des Gesetzgebers verlangt, quasi leerlaufen lassen, da - anders als in der beschriebenen Praxis des Bundesverfassungsgerichts - nicht bloß eine bereits bestehende Regelung fortgelten, sondern eine neue, auf die Notstandssituation angepasste Regelung hinzugedacht werden würde. Zum anderen differenziert § 46 Abs. 1 Satz 2 NKWG nicht zwischen gerechtfertigten und nicht gerechtfertigten Wahlfehlern. Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift ist ein Wahleinspruch vielmehr dann begründet, wenn die Wahl nicht den Vorschriften des Niedersächsischen Kommunalwahlrechts entsprechend vorbereitet oder durchgeführt worden ist. Eine Prüfung, ob ein etwaiger Verstoß gerechtfertigt oder ungerechtfertigt bzw. vermeidbar oder unvermeidbar war, sieht die Vorschrift nicht vor.

4. Die Wahlprüfungsklage bleibt letztlich ohne Erfolg, weil ein angenommener Wahlfehler das Wahlergebnis jedenfalls nicht wesentlich beeinflusst hat (§ 48 Abs. 1 Nr. 2 NKWG).

a) Von einem wesentlichen Einfluss auf das Wahlergebnis wird gemeinhin (nur) ausgegangen, wenn die Verteilung der Sitze einer gewählten Körperschaft ohne die Verstöße gegen das Wahlrecht anders ausgefallen wäre oder anders hätte ausfallen können. Dabei reicht für eine solche Prognose eine theoretisch-abstrakte Möglichkeit nicht aus; vielmehr bedarf es einer konkreten, nach der Lebenserfahrung begründeten Wahrscheinlichkeit, dass Wahlfehler im Hinblick auf die Sitzverteilung zu einer Verfälschung des Wählerwillens geführt haben. Eine nur ganz fernliegende Möglichkeit eines Einflusses auf das Wahlergebnis genügt hingegen für eine Wahlungültigkeitserklärung nicht. Die Stimmenverhältnisse und die Verhältnisse des Wahlkampfes sind dabei zu berücksichtigen (vgl. Urt. d. Kammer v. 09.02.2016 - 1 A 12763/14 -, juris Rn. 44 m. w. N.)

Zur Frage der Ergebnisrelevanz bei Direktwahlen von Einzelpersonen hat die Kammer mit Urteil v. 09.02.2016 - 1 A 12763/14 -, juris a. a. O. - ausgeführt:

„Einer Modifikation bedarf indes das in der Rechtsprechung zunächst für und anhand von Gremienwahlen entwickelte[n] Kriterium der "Mandatsrelevanz" (mögliche Änderung der Sitzverteilung) für Direktwahlen von Einzelpersonen. Es ist nicht überzeugend, eine Wesentlichkeit des Rechtsverstoßes i. S. v. § 48 Abs. 1 Nr. 2 NKWG immer erst dann anzunehmen, wenn es bei einwandfreier Durchführung der Wahl zum "Umkippen" im Sinne eines anderen gewählten Kandidaten gekommen wäre, sich also der Wahlausgang geändert hätte (vgl. zur Konstellation des Nichterreichens einer absoluten Mehrheit bei Hinwegdenken eines Wahlfehlers: BVerwG, Urt. v. 18.04.1997 - 8 C 5/96 -, juris Rn. 22). Das so auch auf Direktwahlen angewandte Kriterium der Mandatsrelevanz erwiese sich als offenkundig ungeeignet für die Beurteilung der Frage, ob das Wahlergebnis nicht oder nur unwesentlich beeinflusst worden ist. Selbst klar quantifizierbare gewichtige Verschiebungen bei den Stimmenzahlen könnten dann nämlich in nicht zu rechtfertigender Weise folgenlos bleiben. Bei Gremienwahlen kann sich eine solche Problematik schon deshalb nicht ergeben, weil gewichtige Verschiebungen bei den Stimmenzahlen aufgrund der Proportionalität der Stimmenzahlen zu den Sitzzahlen (vgl. zum Auszählverfahren § 36 Abs. 2 bis 7 NKWG) stets auch zu Verschiebungen bei den Sitzzahlen im Gremium führen. Gerade bei Direktwahlen mit Stichwahlen, bei denen dann nur noch zwei Kandidaten übrig bleiben, können hingegen selbst gewichtige Verschiebungen bei den Stimmenzahlen ohne Auswirkungen für die Person des letztlich gewählten Bewerbers bleiben. Gleichwohl wird dann bei einem Wahlfehler das Wahlergebnis zu korrigieren sein. Unter "Wahlergebnis" i. S. d. sowohl für die Wahlen der kommunalen Vertretungen als auch für die Direktwahlen anwendbaren Regelung des § 48 NKWG ist auch nicht etwa die Sitzverteilung im Gremium oder die Wahl eines bestimmten Kandidaten anzusehen, sondern die Summe der auf jeden Wahlvorschlag entfallenden Stimmenzahlen. Dies ist in §§ 36 Abs. 1, 37 Abs. 1 NKWG für die Wahlen der Vertretung und in § 45g Abs. 1 NKWG für die Direktwahlen ausdrücklich geregelt. Es ist jeweils die Feststellung der jeweiligen Stimmenzahlen als Wahlergebnis vorgesehen; bei der Direktwahl handelt es sich nach § 45g Abs. 2 bzw. § 45l Abs. 2 NKWG bei der Feststellung der gewählten Person um eine neben dem eigentlichen Wahlergebnis zu treffende weitere Feststellung. Es ist auch in Rechnung zu stellen, dass die heutige Regelung des § 48 Abs. 1 Nr. 2 NKWG Vorläuferbestimmungen hatte, die für einen erfolgreichen Wahleinspruch bei hypothetisch fehlerfreier Durchführung der Wahl schon immer ein wesentlich anderes Wahlergebnis gefordert hatten. Dies galt auch bereits vor Einführung der Direktwahlen im Jahre 1996, ohne dass sich normativ in diesem Punkt Maßgebliches verändert hätte. Auch dies zeigt, dass die in der Rechtsprechung für Gremienwahlen entwickelten Kriterien für die Wesentlichkeit eines Wahlfehlers nicht unterschiedslos auf Direktwahlen übertragen werden können. Jedenfalls ein gewichtiges und klar berechenbares Absinken der "Obsiegensquote" des gewählten Kandidaten einer Direktwahl muss zur Folge haben, dass dieses Absinken durch Neufeststellung oder Berichtigung des Wahlergebnisses auch festgestellt wird. Dies setzt indessen voraus, dass der zugrundeliegende Wahlfehler nicht schon auf Tatbestandsebene als unwesentlich für das Wahlergebnis angesehen wird.“

An diesen Ausführungen - auf die es im vorliegenden Fall allerdings nicht entscheidungserheblich ankommt - hält die Kammer weiter fest. Der von Beklagtem und Beigeladenem vertretenen Auffassung, Wahlergebnis einer Stichwahl sei nur die Feststellung desjenigen Kandidaten, der die meisten gültigen Stimmen erhalten und damit im Ergebnis die Wahl für sich entschieden hat, vermag sich die Kammer nicht anzuschließen. Zwar mögen Überschrift und Wortlaut des § 45l Abs. 1 Satz 1 NKWG für diese Sichtweise sprechen. § 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3a i. V. m. Nr. 1d NKWO sieht jedoch ausdrücklich vor, dass bei einer Stichwahl mit zwei Bewerbern als Wahlergebnis nicht nur die gewählte Person, sondern (unter anderem) auch die Zahl der für die einzelnen Wahlvorschläge abgegebenen gültigen Stimmen festzustellen ist. Zumindest in Fällen eines gewichtigen und klar berechenbaren Absinkens dieser mithin als Teil des Wahlergebnisses festzustellenden „Obsiegensquote“, muss dieses Absinken auch durch eine Neufeststellung oder Berichtigung des Wahlergebnisses amtlich festgestellt werden können. Denn für die demokratische Legitimation eines gewählten Kandidaten erscheint es durchaus nicht ohne Belang ist, ob er eine Wahl „gerade so“ mit knapper Mehrheit oder mit einem deutlich überwiegenden Stimmenanteil gewonnen hat. Eine Ungültigkeitserklärung der Wahl wäre entgegen der Auffassung des Beklagten in einer solchen Situation gerade nicht erforderlich, da § 48 Abs. 2 Nr. 1 NKWG für derartige Fälle das „mildere“ Mittel der Neufeststellung oder Berichtigung des Wahlergebnisses bereithält.

b) Gemessen an den vorstehend skizzierten Maßstäben ist hier von einem allenfalls unwesentlichen Einfluss auf das Wahlergebnis auszugehen. Soweit sich der Kläger gegen die Verschiebung der Stichwahl auf Grundlage einer Eilentscheidung nach § 89 Satz 1 und 2 NKomVG wendet, ist schon im Ansatz nicht ersichtlich, wie sich dieses Verfahren der Terminsfindung auf das Wahlergebnis ausgewirkt haben soll. Soweit sich der Kläger gegen die Anordnung einer reinen Briefwahl wendet, bewegen sich die Auswirkungen eines unterstellten Wahlfehlers nach Auffassung der Kammer allenfalls im Bereich des abstrakt Möglichen, haben aber die Schwelle zu einer konkreten Wahrscheinlichkeit der Verfälschung des Wählerwillens eindeutig nicht überschritten. Im Einzelnen:

aa) Für den Haupteinwand des Klägers, Analphabeten und Spontanwähler seien durch die reine Briefwahl eingeschränkt worden, bestehen keinerlei stichhaltige Anhaltspunkte. Gegen die Einschränkung der genannten Wählergruppen spricht bereits die in der Stichwahl gegenüber dem ersten Wahlgang deutlich, nämlich um 5,22 Prozentpunkte, gestiegene Wahlbeteiligung. Denn der Wegfall bestimmter Wählergruppen hätte sich naheliegenderweise in einem Absinken der Wahlbeteiligung und nicht in einem Anstieg bemerkbar gemacht. Auch im Rahmen einer weiteren Betrachtung erscheint es nicht konkret wahrscheinlich, dass die vom Kläger benannten Gruppen durch die durchgeführte Briefwahl eingeschränkt worden sind. Für Personen, die des Lesens unkundig sind, die aber an einer herkömmlichen Urnenwahl teilnehmen würden, stellt nach Auffassung der Kammer auch eine Briefwahl keine unüberwindbare Hürde dar. Ebenso wie bei einer Urnenwahl (vgl. insoweit § 30 Abs. 1 Satz 2 NKWG) können sich des Lesens unkundige Personen auch bei einer Briefwahl einer Hilfsperson bedienen (vgl. § 31 Abs. 2 Satz 2 NKWG). Es kann daher davon ausgegangen werden, dass des Lesens unkundige Wahlberechtigte, die an einer Wahlteilnahme interessiert waren, ihre Stimme auch im Rahmen der reinen Briefwahl abgeben konnten. Eine gewisse Mühewaltung für die Stimmabgabe ist dem Wahlberechtigten durchaus zumutbar (vgl. LVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 03.05.2021 - LVG 5/21 -, juris Rn. 53). Auch hinsichtlich der Spontanwähler erschließt sich eine nennenswerte Einschränkung nicht. Ähnlich wie bei einer klassischen Urnenwahl bestand für kurz entschlossene Wähler auch hier die Möglichkeit, den Wahlbrief am Wahltag bis 18:00 Uhr in den Briefkasten der jeweiligen Heimatkommune einzuwerfen. Eine Stimmabgabe „bis zur letzten Minute“ war also grundsätzlich genauso möglich wie bei einer herkömmlichen Urnenwahl. Wahlberechtigte, deren Briefwahlunterlagen durch den Postdienstleister nicht zugestellt werden konnten, konnten sich diese beim zuständigen Wahlamt ebenfalls noch bis 18:00 Uhr des Wahltages aushändigen lassen. Lediglich diejenigen Wahlberechtigten, deren Briefwahlunterlagen nicht als unzustellbar zurückgesandt worden waren, den betroffenen Wahlberechtigten mit der Post aber auch nicht zugegangen waren, konnten sich nur bis Sonnabend, den 4. April 2020, 12:00 Uhr, einen neuen Wahlschein ausstellen lassen. Da auf diese Modalitäten in der Pressemitteilung des Landkreises L. vom 4. April 2020 aber nochmals ausdrücklich hingewiesen worden war, stellte auch dies nach Auffassung der Kammer keine unzumutbare Hürde dar.

Unabhängig von Vorstehendem bestehen auch keinerlei tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass die Stimmen von Spontanwählern und Analphabeten - wären sie denn aufgrund des Modus einer reinen Briefwahl weggefallen - einseitig gerade auf den unterlegenen Stichwahlkandidaten entfallen wären. Für ein solches bestimmtes Wählerverhalten der genannten Wählergruppen ist nichts ersichtlich. Auch wenn sich hierüber letztlich nur spekulieren lässt, wäre mangels gegenteiliger Anhaltspunkte eher davon auszugehen, dass potentielle Wähler beider Stichwahlkandidaten in etwa gleichermaßen von den Einschränkungen betroffen gewesen wären, sodass sich etwaige Auswirkungen auch auf diese Weise wieder ausgeglichen hätten.

bb) Soweit der Kläger geltend macht, der Anteil der ungültigen Stimmen sei gegenüber der Stichwahl im Jahr 2013, in der der Amtsvorgänger des Beigeladenen gewählt worden sei, deutlich gestiegen, trifft dies in der Sache zwar zu. Während bei der Stichwahl im Jahr 2013 von 55.263 abgegebenen Stimmen 282 Stimmen ungültig waren (vgl. https://votemanager.kdo.de/20130922/03252000(html5/Stichwahl_des Landrats_NDS_174_Kreis_Landkreis_HamelnPyrmont.html, abgerufen am 18.06.2020), waren bei der hier in Rede stehenden Stichwahl von den abgegebenen 55.859 Stimmen 613 Stimmen ungültig. Es erscheint auch zumindest möglich, dass dieser gestiegene Anteil ungültiger Stimmen tatsächlich der durchgeführten reinen Briefwahl geschuldet war. Es bestehen aber auch insoweit keinerlei tragfähige Anhaltspunkte dafür, dass die auf diese Weise weggefallenen Stimmen - wären sie in gültiger Weise abgegeben worden - einseitig gerade auf den unterlegenen Stichwahlkandidaten entfallen wären. Auch wenn auch hierüber letztlich nur spekuliert werden kann, wäre bei lebensnaher Betrachtung vielmehr anzunehmen, dass diese Stimmen (bei gültiger Abgabe) mindestens anteilig - wenn nicht etwa sogar in gleichem Maße - auch dem Beigeladenen zugutegekommen wären. Selbst wenn man aber davon ausginge, dass die Differenz der bei der hiesigen Stichwahl und der bei der Stichwahl im Jahr 2013 abgegebenen ungültigen Stimmen, nämlich 331 Stimmen (613 Stimmen - 282 Stimmen), bei gültiger Abgabe vollständig auf den unterlegenen Kandidaten entfallen wären, hätte dies aufgrund der bestehenden Stimmendifferenz von 1.262 Stimmen ebenfalls nicht zu einem Obsiegen des unterlegenen Stichwahlkandidaten geführt.

cc) Aufgrund der vorstehenden Ausführungen vermag auch die vom Kläger in seinen ergänzenden Erläuterungen vom 18. Juli 2020 angestellte Berechnung die Annahme einer wesentlichen Beeinflussung des Wahlergebnisses nicht zu begründen. Die Hypothesen des Klägers stellen sich bei Lichte betrachtet vielmehr als reine Spekulationen und Gedankenspiele dar, für die es keinerlei konkrete Anhaltspunkte gibt. Derartige Spekulationen reichen für eine Wahlungültigkeitserklärung jedoch gerade nicht aus. Fehlt es - wie hier - an konkreten Anhaltspunkten für eine wesentliche Verfälschung des Wählerwillens, genießt nach der gesetzlichen Konzeption des § 48 Abs. 1 Nr. 2 NKWG der Bestandsschutz des Wahlergebnisses den Vorrang.

Auch der weitere Vortrag des Klägers im Wahlprüfungs- und Klageverfahren führt zu keiner anderen Bewertung:

Soweit der Kläger auf mögliche Beeinflussungen von Wählern im familiären und häuslichen Umfeld verweist, kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dass es in Einzelfällen zu solchen Einflussnahmen gekommen sein mag. Es ist allgemein anerkannt und bedarf keiner weiteren Erörterung, dass bei einer Briefwahl die geheime Stimmabgabe nicht in gleicher Weise sichergestellt ist wie bei einer Urnenwahl und aus diesem Grund naturgemäß auch die Freiheit der Wahl eher eingeschränkt sein kann. Dass dieser Umstand - auch in Verbindung mit den weiteren vom Kläger angeführten Punkten - den Ausgang der Stichwahl wesentlich beeinflusst haben könnte, erscheint aber schon angesichts des - deutlich über wenige Einzelstimmen hinausgehenden - Stimmenabstandes von 1.262 Stimmen zwischen beiden Stichwahlkandidaten fernliegend. Im Übrigen ist festzustellen, dass auch eine Urnenwahl nicht frei von - wenn auch der eigentlichen Stimmabgabe vorgelagerten - Einflussmöglichkeiten ist. Gegenüber einem möglichen sozialen Druck aus seinem Umfeld muss und kann es bei der Briefwahl - nicht anders als bei einer Urnenwahl - in erster Linie vom Wähler selbst erwartet werden, dass er von seiner Freiheit zur eigenen Wahlentscheidung Gebrauch macht und für eine geheime und freie Abgabe der eigenen Stimme sorgt. Das kann bei der Briefwahl mehr an eigener Aktivität erfordern, ist aber stets nicht weniger möglich (LVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 03.05.2021 - LVG 5/21 -, juris Rn. 58). Schließlich beweisen die Neuregelung in § 52c NKWG sowie die bereits 2010 getroffene Entscheidung des Niedersächsischen Kommunalwahlgesetzgebers, eine Briefwahl auf Antrag ohne Angabe und Glaubhaftmachung von Hinderungsgründen zuzulassen, dass auch der Gesetzgeber nicht davon ausgeht, dass eine reine Briefwahl oder ein hoher Anteil an Briefwahlstimmen grundsätzlich zu einer Verfälschung des Wählerwillens führt. Durch diese Regelungen hat der Gesetzgeber die Briefwahl vielmehr als uneingeschränkt zulässige Form der Stimmabgabe anerkannt und zum Ausdruck gebracht, dass sie grundsätzlich ebenso wie die Urnenwahl geeignet ist, den Wählerwillen korrekt zu ermitteln.

Der Hinweis des Klägers, dass bei einer Briefwahl auch Stimmen von Wählern mitzählten, die am Wahltag bereits verstorben oder weggezogen seien, ist schon im Ansatz nicht geeignet, die Annahme einer Verfälschung des Wählerwillens zu begründen. Die demokratische Legitimierungsfunktion einer Wahl ist nicht von der exakten Gleichzeitigkeit der Stimmabgabe abhängig. Es mindert den demokratischen Legitimationswert einer Stimme prinzipiell nicht, wenn der Wähler nach der Stimmabgabe seinen Wohnsitz wechselt oder stirbt (LVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 03.05.2021 - LVG 5/21, juris Rn. 57). Dementsprechend bestimmt auch § 30a Abs. 3 NKWG, dass eine per Briefwahl abgegebene Stimme nicht dadurch ungültig wird, dass die wählende Person vor dem Wahltag stirbt oder aus dem Wahlgebiet verzieht.

Für den Vortrag des Klägers, Wahlbriefe seien möglicherweise zu spät eingegangen und Personen der älteren Generation durch die Modalitäten der Briefwahl überfordert gewesen, fehlt es bereits an hinreichenden konkreten Anhaltspunkten. Hinsichtlich der angeführten Einschränkungen älterer Personen ist im Übrigen zu konstatieren, dass, soweit körperliche Einschränkungen das Erreichen eines Briefkastens erschwert haben sollten, diese Schwierigkeiten bei einer Urnenwahl mit dem hiermit verbundenen Aufsuchen eines Wahllokals ebenfalls bestanden hätten, gerade bei einer Briefwahl allerdings problemlos dadurch umgangen werden konnten, dass eine Hilfsperson den Wahlbrief auf den Postweg befördern konnte. Bei Schwierigkeiten aufgrund anderer Einschränkungen bestand wie bei einer Urnenwahl (vgl. insoweit § 30 Abs. 1 Satz 2 NKWG) auch bei einer Briefwahl die Möglichkeit, sich für die Stimmabgabe einer Hilfsperson zu bedienen (vgl. § 31 Abs. 2 Satz 2 NKWG).

Insgesamt verkennt der Kläger bei seiner Argumentation, dass alle Wahlberechtigten von den Besonderheiten der Briefwahl gleichermaßen betroffen waren, was grundsätzlich - wenn nicht konkrete Anhaltspunkte für eine gegenteilige Einschätzung bestehen - dagegenspricht, dass sich die Briefwahl gerade nur für einen der beiden Stichwahlkandidaten positiv oder negativ ausgewirkt hat (vgl. insoweit auch zur Rechtsfigur der sog. „tendenzlosen Unregelmäßigkeit“: Hessischer VGH, Urt. v. 10.07.2003 - 8 UE 2947/01 -, juris Rn. 120 ff.; allerdings zur eingeschränkten Übertragbarkeit auf das Nds. Landesrecht: Urt. d. Kammer v. 09.02.2016 - 1 A 12763/14 -, juris Rn. 45). Solche konkreten Anhaltspunkte bestehen hier gerade nicht.

dd) Auch die gegenüber dem ersten Wahlgang um 5,22 Prozentpunkte gestiegene Wahlbeteiligung vermag die Annahme einer wesentlichen Beeinflussung des Wahlergebnisses nicht zu begründen. Zwar ist die gestiegene Wahlbeteiligung mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die durchgeführte ausschließliche Briefwahl und die hiermit verbundene Übersendung der Briefwahlunterlagen von Amts wegen zurückzuführen. Über die Frage, ob die - im Sinne einer höheren demokratischen Legitimation ja grundsätzlich positive - gestiegene Wahlbeteiligung zu einer Veränderung der Stimmenrelation geführt und sich damit möglicherweise auf den Wahlausgang ausgewirkt hat, lässt sich aber wiederum nur spekulieren. Konkrete Anhaltspunkte für eine solche Annahme bestehen nicht. Auch insoweit bewegen sich die Auswirkungen der angeordneten reinen Briefwahl daher zwar im Bereich des abstrakt Möglichen, haben aber die Schwelle zu einer konkreten Wahrscheinlichkeit nicht überschritten.

ee) Die Einschätzung, dass die durchgeführte reine Briefwahl den Wahlausgang nicht wesentlich beeinflusst hat, wird schließlich auch durch einen zahlenmäßigen Vergleich der Stimmenverteilung im ersten Wahlgang und der Stichwahl bestätigt. Bereits ein „schlichter“ Vergleich der Stimmenverteilung zeigt auf, dass der Beigeladene bereits im ersten Wahlgang sowohl unter den Urnen- als auch unter den Briefwählern die meisten der abgegebenen gültigen Stimmen erhalten hat. Diese Tendenz hat sich mit dem Stichwahlergebnis letztendlich lediglich fortgesetzt, was bereits gegen die Annahme einer Verfälschung des Wählerwillens spricht.

Nimmt man bei einer zahlenmäßigen Betrachtung nur die auf den Beigeladenen und seinen Stichwahlkonkurrenten entfallenen Stimmen (zu 100 %) in den Blick, rechnet also im ersten Wahlgang die auf die Kandidaten von O. und P. entfallenen Stimmen heraus, ergibt sich folgendes Zahlenwerk:

Stimmenanteil Beigeladener

Stimmenanteil X.

Erster Wahlgang gesamt
(Urnen- u. Briefwähler)

 51,5 %

 48,5 %

Erster Wahlgang, Brief-wähler

 52,0 %

 48,0 %

Stichwahl

51,1 %

48,9 %

Diese Zahlen zeigen, dass der unterlegene Stichwahlkandidat, X., durch den Wahlmodus einer ausschließlichen Briefwahl letztlich sogar noch profitiert hat, während sich die ausschließliche Briefwahl für den Beigeladenen eher ungünstig ausgewirkt hat. Der Stimmenzuwachs des unterlegenen Stichwahlkandidaten in der Stichwahl lässt sich nach Auffassung der Kammer auch zumindest nicht ohne Weiteres durch eine „Wählerwanderung“ erklären. Denn es erscheint nicht etwa naheliegend, dass Wähler, die zuvor die Kandidaten von O. und P. gewählt hatten, sich in der Stichwahl überwiegend für den Kandidaten der N. entschieden haben. Die dargestellten Zahlen bieten damit für die Annahme, dass der Ausgang der Stichwahl durch die durchgeführte reine Briefwahl wesentlich beeinflusst worden ist, keinen Raum.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind für erstattungsfähig zu erklären, weil der Beigeladene einen Antrag gestellt und sich damit einem Kostenrisiko (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO) ausgesetzt hat.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.