Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 09.06.2021, Az.: 5 B 1118/21

Anomaliequotient; Beleihung: Widerruf; Deuteranomalie; Grünsehschwäche; Luftsicherheitsassistent; norminterpretierende Verwaltungsvorschrift; Widerspruchsverfahren Bundesrecht

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
09.06.2021
Aktenzeichen
5 B 1118/21
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2021, 70764
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Der Antrag wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen den Widerruf seiner Beleihung als Luftsicherheitsassistent.

Der Antragsteller ist 1974 geboren und bei der F. tätig. Mit Urkunde vom TT. MMMM 2010 belieh ihn die Antragsgegnerin gem. § 16a des Luftsicherheitsgesetzes vom 11. Januar 2005 (BGBl. I 2005, 78, zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.4.2020 (BGBl. I 2020, 840); hier in der Fassung des Gesetzes vom 29.7.2009 (BGBl. I 2009,2424) – LuftSiG – als Luftsicherheitsassistenten mit der Durchführung der Aufgaben nach § 5 Abs. 1 bis 3 LuftSiG an den Flughäfen G. und H.. Zuletzt war der Antragsteller mit der Personen- und Handgepäckkontrolle und der Reisegepäckkontrolle betraut. Seit dem TT. Mai 2019 ist er durchgehend arbeitsunfähig erkrankt.

Am 1. Dezember 2020 erhielt die Antragsgegnerin von der Arbeitgeberin des Antragstellers den Hinweis, dass der Antragsteller am 12. August 2020 arbeitsmedizinisch untersucht worden und nach dem Ergebnis der Untersuchung für die Tätigkeit als Luftsicherheitsassistent gesundheitlich nicht mehr geeignet sei. Nach dem Ergebnis der ärztlichen Untersuchung, die im Wesentlichen die Befunde weiterer Ärzte auswertet, liegt bei ihm eine genetisch bedingte Farbfehlsichtigkeit (Deuteranomalie, Grünsehschwäche) vor. In einem Arztbrief an den arbeitsmedizinischen Dienst wird mitgeteilt, dass der Antragsteller nach einem auffälligen Ishihara-Farbtafeltest überwiesen worden sei. Eine Anomaloskopie habe keine konsistenten Ergebnisse gezeigt, so dass ein Anomaliequotient nicht habe ermittelt werden können. Der Antragsteller sei daraufhin zur weiteren Abklärung in einer Augenklinik angemeldet worden. In einem weiteren Attest vom 8. September 2020 wird dem Antragsteller durch Augenärztin Dr. med. I. eine „grenzwertige“ Deuteranomalie mit einem Anomaliequotienten von 2,15 attestiert. Eine augenärztliche Bescheinigung vom 23. September 2020 durch Dr. med. J. beziffert den Anomaliequotienten auf 6,1.

Die Antragsgegnerin bat die Arbeitgeberin des Antragstellers um ergänzende Stellungnahme, ob der Antragsteller langfristig ungeeignet sei oder die Eignung wieder hergestellt werden könne. Die Arbeitgeberin teilte daraufhin mit, dass der Arbeitsmediziner die Einschätzung geäußert habe, dass der Antragsteller perspektivisch nicht mehr tauglich sei, sich ansonsten aber auf seine ärztliche Schweigepflicht berufen habe.

Die Antragsgegnerin wies die Arbeitgeberin des Antragstellers sodann mit Schreiben vom 9. Oktober 2020 an, den Antragsteller nicht mehr als Luftsicherheitsassistenten in der Personen- und Handgepäckkontrolle einzusetzen. Mit Bescheid vom 28. Oktober 2020 suspendierte die Antragsgegnerin die Beleihung des Antragstellers und hörte ihn unter Bezugnahme auf die arbeitsmedizinisch festgestellte Untauglichkeit zu der Absicht an, die Beleihung zu widerrufen. Der Antragsteller äußerte sich darauf nicht.

Mit Bescheid vom 20. Januar 2021 widerrief die Antragsgegnerin unter Anordnung der sofortigen Vollziehung die Beleihung des Antragstellers. Zur Begründung führte sie aus, dass der Antragsteller nach ärztlicher Bescheinigung dauerhaft gesundheitlich ungeeignet sei, die Tätigkeit eines Luftsicherheitsassistenten auszuüben.

Der Antragsteller hat am 18. Februar 2021 Widerspruch gegen den Widerrufsbescheid eingelegt, über den noch nicht entschieden ist.

Am 22. Februar 2021 hat der Antragsteller im Hinblick auf seinen Widerspruch vorläufigen Rechtsschutz beantragt. Er hält den Widerruf der Beleihung und dessen sofortige Vollziehung für rechtswidrig. Es bestehe keine Eilbedürftigkeit, die die Anordnung der sofortigen Vollziehung rechtfertige, weil er gegenwärtig arbeitsunfähig erkrankt und eine alsbaldige Genesung nicht absehbar sei. Er nehme deshalb gegenwärtig keine Funktionen in der Luftsicherheitskontrolle wahr. Entsprechend sei auch nicht zu erwarten, dass ohne die sofortige Vollziehung des Widerrufs eine Gefahr für den Luftverkehr oder die öffentliche Sicherheit drohe.

Sein Widerspruch habe greifbare Erfolgsaussichten. Der Widerruf sei rechtswidrig erfolgt, weil die betriebsärztliche Einschätzung, dass er gesundheitlich für die Luftsicherheitskontrolle ungeeignet sei, ohne nähere Begründung gegeben worden sei. Es sei lediglich ein Kreuz auf einem Formularvordruck angebracht worden. Die ärztliche Einschätzung sei daher nicht nachvollziehbar; es sei unklar, ob die Antragsgegnerin überhaupt Kenntnis von seinen konkreten Einschränkungen habe. Er habe seine Tätigkeit in der Personen-Handgepäckkontrolle und der Reisegepäckkontrolle bisher beanstandungsfrei durchgeführt, insbesondere noch nie verbotene Gegenstände übersehen. Die ärztliche Einschätzung sei angesichts dessen spekulativ. Die im gerichtlichen Verfahren vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen wiesen stark unterschiedliche Anomaliequotienten auf und seien daher kein tauglicher Anhaltspunkt, um seine Ungeeignetheit als Luftsicherheitsassistent anzunehmen. Ihm drohe durch den Widerruf der Beleihung der Verlust seiner wirtschaftlichen Existenz.

Der Antragsteller beantragt,

die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 18. Februar 2021 gegen die Verfügung der Antragsgegnerin vom 20. Januar 2021 wiederherzustellen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Sie verteidigt den Widerruf der Beleihung und deren sofortige Vollziehung. Maßgeblich für den Widerruf der Beleihung sei die arbeitsmedizinische Einschätzung, dass der Antragsteller für die Tätigkeit, für die er beliehen sei, nicht geeignet sei und perspektiv auch nicht wieder geeignet sein werde. Ob der Antragsteller darüber hinaus arbeitsunfähig erkrankt sei oder bei seiner Arbeitgeberin in anderer Verwendung weiter beschäftigt sein könne, sei für den Widerruf unerheblich und entziehe sich ihrer Kenntnis.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen. Der Inhalt sämtlicher Akten war Gegenstand der Entscheidungsfindung.

II.

Der Antrag ist zulässig, aber unbegründet.

Die Antragsgegnerin hat das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes im Sinne von § 80 Abs. 3 VwGO ausreichend begründet. Die Begründung erfolgte schriftlich und bezogen auf den konkreten Fall, indem dargelegt wurde, dass der Antragsteller infolge mangelnder Eignung die in der Luftverkehrskontrolle vorgesehen Aufgaben nicht mit der erforderlichen Intensität und Qualität durchführen könne. Dies berge das Risiko, dass verbotene Gegenstände bei den Kontrollen übersehen würden und Gefahren für den Luftverkehr nicht erkannt und abgewehrt werden könnten. Ob die gegebene Begründung inhaltlich trägt, ist nicht Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung der Einhaltung des Formerfordernisses. Vielmehr trifft das Gericht in der Sache eine eigene Abwägungsentscheidung.

Die bei einem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO durch das Gericht zu treffende Ermessensentscheidung setzt eine Abwägung der einander gegenüberstehenden Interessen voraus, in die auch die Erfolgsaussichten des eingelegten Rechtsbehelfs in der Hauptsache mit einzubeziehen sind. Bei einem nach summarischer Prüfung offensichtlich Erfolg versprechenden Rechtsbehelf überwiegt im Hinblick auf die Art. 19 Abs. 4 GG zu entnehmende Garantie effektiven Rechtsschutzes das Suspensivinteresse des Betroffenen jedes öffentliche Vollzugsinteresse, so dass die aufschiebende Wirkung grundsätzlich wiederherzustellen ist. Ergibt eine summarische Einschätzung des Gerichts hingegen, dass der Rechtsbehelf in der Hauptsache erfolglos bleiben wird, ist der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz unbegründet, denn ein begründetes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung entfällt nicht dadurch, dass der Verwaltungsakt offenbar zu Unrecht angegriffen wird.

Ausgehend von diesen Abwägungsgrundsätzen überwiegt das öffentliche Interesse das Aussetzungsinteresse des Antragstellers, denn bei summarischer Prüfung bleibt der Widerspruch voraussichtlich ohne Erfolg.

Rechtsgrundlage des Widerrufs der Beleihung des Antragstellers ist § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwVfG i. V. m. 16a Abs. 3, Abs. 2 LuftSiG. Danach kann die Beleihung jederzeit – auch nachdem sie unanfechtbar geworden ist – ganz oder teilweise zurückgenommen, widerrufen oder mit Nebenbestimmungen versehen werden. Die Voraussetzungen für einen solchen Widerruf müssen, da sie nicht ausdrücklich in dem gesetzlichen Widerrufsvorbehalt in § 16a Abs. 3 LuftSiG genannt werden, aus der gesetzlichen Systematik gewonnen und eingehalten werden. Insofern ist es naheliegend und geboten, den Widerruf an den Voraussetzungen des § 16a Abs. 2 LuftSiG zu prüfen, die auch für die Erteilung der Beleihung gelten würden. Die Beleihung kann danach jedenfalls dann widerrufen werden, wenn sie, wäre sie zum Zeitpunkt der Entscheidung der Behörde über den Widerruf noch nicht erteilt, zu versagen wäre. Nach diesem Maßstab kann die Beleihung unter anderem dann widerrufen werden, wenn der Beliehene für die übertragene Aufgabe nicht (mehr) geeignet ist. Wie die Beleihung als solche steht auch ihr Widerruf im Ermessen der zuständigen Luftsicherheitsbehörde, die ihre Aufgaben gem. § 16 Abs. 2, Abs. 3a LuftSiG im Auftrage des Bundes oder in bundesunmittelbarer Verwaltung wahrnehmen.

Die Ausübung dieses Ermessens ist nur im Umfang des § 114 Satz 1 VwGO der gerichtlichen Kontrolle zugänglich. Zu überprüfen ist danach lediglich, ob die Behörde sich in den gesetzlichen Grenzen ihres Ermessens gehalten und von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat.

Maßgeblich und für die Antragsgegnerin bindend sind insofern die fachlichen Anforderungen, die das Bundesministerium des Innern der Antragsgegnerin in den Richtlinien über die Anforderungen an Luftsicherheitsassistenten zum Vollzug des § 5 LuftSiG auf deutschen Flughäfen festgehalten hat. Nach Nr. 1 c dieser Richtlinien sind zur Wahrnehmung der Tätigkeit als Luftsicherheitsassistent Personen aus gesundheitlichen Gründen ungeeignet, die eine Grünsehschwäche mit einem Anomaliequotienten von mehr als 1,4 aufweisen. Das ist bei dem Antragsteller nach allen vorliegenden ärztlichen Bescheinigungen der Fall; ihm wird in zwei ärztlichen Bescheinigungen eine Deuteranomalie mit einem Anomaliequotienten von 2,15 bzw. 6,1 attestiert. Dass die beiden Bewertungen sich dabei voneinander nicht unerheblich unterscheiden, steht der Annahme der Ungeeignetheit des Antragstellers nicht entgegen, weil beide Werte ungeachtet ihrer Varianz deutlich oberhalb des maximal zulässigen Anomaliequotienten von 1,4 liegen. Dass dieser Wert bei dem Antragsteller entgegen beider Messungen tatsächlich unterhalb dieser Schwelle liegt, ist jedenfalls mit dem im Verfahren um vorläufigen Rechtsschutz anzulegenden Grad an Gewissheit hinreichend unwahrscheinlich.

Als norminterpretierende Verwaltungsvorschrift sind diese Richtlinien zwar für das Gericht nicht bindend, sondern grundsätzlich Gegenstand der gerichtlichen Kontrolle. Sie binden jedoch die Antragsgegnerin bei ihrer Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers und sind deshalb der Prognose der Erfolgsaussichten des Widerspruchs uneingeschränkt zu Grunde zu legen. Im Übrigen sind die Richtlinien, jedenfalls die hier maßgeblichen Regelungen, nachvollziehbar und zur Überzeugung des Gerichts geeignet und auch sonst angemessen, um den Begriff der gesundheitlichen Eignung von Luftsicherheitsassistenten zu konkretisieren. Das folgt aus den besonderen Anforderungen an die visuelle Wahrnehmung von Farben, die die Verwendung von Röntgenscannern zur Kontrolle ungeöffneter Gepäckstücke erfordert. Denn diese Geräte kodieren in der Regel in der bildlichen Darstellung unterschiedliche Materialien in Gepäckstücken anhand ihrer physischen Ordnungszahlen in unterschiedlichen Farben, zeigen also bestimmte sicherheitsrelevante Materialien in bestimmten Farben an, um sie leichter erkennbar zu machen.

Der Widerruf der Beleihung ist auch verhältnismäßig und insbesondere gegenüber der zunächst ausgesprochenen vorübergehenden Aussetzung angemessen. Dass der Antragsteller die gesundheitliche Eignung (wieder) gewinnt, ist angesichts der dauerhaften gesundheitlichen Einschränkung nicht zu erwarten.

Davon unabhängig und die Entscheidung selbständig tragend ginge auch dann, wenn man den Ausgang des Widerspruchsverfahrens als offen ansehen wollte, eine reine Interessenabwägung zu Lasten des Antragstellers aus. Das öffentliche Interesse, vor Gefahren zu schützen, die von einem möglicherweise ungeeigneten Luftsicherheitsassistenten und einer ungenauen Kontrolle des Personen- und Reisegepäcks auf Flughäfen ausgehen, überwiegt das Interesse des Antragstellers, bis zur endgültigen Entscheidung über seinen Widerspruch gegen den Widerruf seiner Beleihung und den damit verbundenen Beeinträchtigungen verschont zu bleiben. Der mit dem Sofortvollzug verbundene Ausschluss des Antragstellers von seiner bisherigen Funktion ist dem Antragsteller zumutbar, zumal dadurch keine irreversiblen Zustände geschaffen werden und er infolge seiner krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit von der Beleihung gegenwärtig ohnehin keinen Gebrauch machen kann. Demgegenüber besteht ein vorrangiges öffentliches Interesse, den Antragsteller bis zur Entscheidung über seinen Widerspruch auch dann von der Ausübung der Funktion als Luftsicherheitsassistent auszuschließen, wenn er kurzfristig die Arbeitsfähigkeit im allgemein-medizinischen Sinne wiedererlangt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung ergeht aufgrund von § 63 Abs. 2 Satz 1 VwGO. Die Höhe des Streitwerts beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2 i. V. m. § 52 Abs. 1 GKG und folgt Nrn. 1.5, 26.5 der Streitwertempfehlungen für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11).