Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 29.06.2021, Az.: 12 A 3583/21

Asylverfahrensrichtlinie; Griechenland; Sperrfrist; Untätigkeitsklage; Zusicherung

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
29.06.2021
Aktenzeichen
12 A 3583/21
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2021, 70702
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Die Beklagte wird verpflichtet, über den Asylantrag des Klägers vom 29. Januar 2020 zu entscheiden.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Verpflichtung der Beklagten zur Entscheidung über seinen Asylantrag.

Der 2008 geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volks- und yezidischer Religionszugehörigkeit. Er reiste im Dezember 2019 zusammen mit seinem älteren Bruder und Vormund, dem Kläger des Verfahrens 12 A 3584/21, in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 29. Januar 2020 stellte er beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag.

Am 30. Januar 2020 wurde der Bruder des Klägers vom Bundesamt zur Zulässigkeit des Asylantrages des Klägers angehört. Dabei gab der Bruder des Klägers an, dass der Kläger und er bereits in Griechenland internationalen Schutz erhalten hätten.

Daraufhin ersuchte das Bundesamt die griechischen Behörden mit E-Mails vom 13. Mai und 2. Juni 2020, eine individuelle Zusicherung zur Unterbringung des Klägers nach einer Rücküberstellung nach Griechenland abzugeben.

Mit anwaltlichem Schreiben vom 23. Februar 2021 bat der Kläger das Bundesamt um Mitteilung, bis wann voraussichtlich über seinen Asylantrag entschieden werde. Für den Fall, dass der Asylantrag bis zum 1. März 2021 noch nicht beschieden worden sein sollte, kündigte der Kläger an, Untätigkeitsklage zu erheben.

Unter dem 26. Februar 2021 teilte das Bundesamt dem Kläger mit, dass die Beurteilung der allgemeinen Lebensumstände für Personen, die - wie er - in Griechenland internationalen Schutz erhalten hätten, in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht komplexe Fragen aufwerfe, weshalb der Asylantrag des Klägers derzeit nicht entscheidungsreif sei.

Am 28. April 2021 hat der Kläger Untätigkeitsklage erhoben. Zur Begründung trägt er vor, die Klage sei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts als reine Bescheidungsklage zulässig. Auch die Dreimonatsfrist des § 75 Satz 2 VwGO, die weder durch § 24 Abs. 4 AsylG noch durch Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU (sog. Verfahrensrichtlinie) modifiziert werde, sei weit überschritten. Das Bundesamt habe darüber hinaus ohne zureichenden Grund nicht über seinen Asylantrag entschieden. Komplexe Fragen seien im Hinblick auf die Lebensumstände für anerkannt Schutzberechtigte in Griechenland weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht erkennbar. So sei obergerichtlich geklärt, dass diesen Personen im Falle ihrer Rückkehr nach Griechenland eine Verletzung des Art. 3 EMRK drohe. Auch eine eventuell noch ausstehende Antwort der griechischen Behörden auf die E-Mails vom 13. Mai und 2. Juni 2020 stelle keinen zureichenden Grund für eine Nichtbescheidung dar. Es sei bekannt, dass die griechischen Behörden keine individuellen Zusicherungen abgäben. Ein weiteres Zuwarten sei daher offensichtlich zwecklos.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte zu verpflichten, über den Asylantrag des Klägers vom 29. Januar 2020 zu entscheiden.

Die Beklagte beantragt,

das Verfahren auszusetzen und eine angemessene Frist für die Entscheidung festzusetzen.

Sie trägt vor, einer Entscheidung über den Asylantrag des Klägers stehe derzeit noch die Notwendigkeit einer weiteren Sachaufklärung entgegen. In Verfahren, in denen die Asylantragsteller bereits über einen Schutzstatus in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union verfügten, sei die Lage der Rückkehrer in diesem Mitgliedstaat und eine mögliche Verletzung garantierter Rechtsgüter sorgfältig in den Blick zu nehmen. Die Tatsache, dass die Europäische Kommission bislang kein Vertragsverletzungsverfahren gegen Griechenland eingeleitet habe, lasse den Schluss zu, dass diese die Situation dort nach wie vor als angemessen beurteile. Angesichts der Dynamik der Versorgungssituation und der Lage auf dem Arbeitsmarkt - auch unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Corona-Pandemie - sei das Bundesamt auf eine aktuelle Erkenntnislage angewiesen. Besondere Schwierigkeiten der Sachaufklärung, die sich aus der notwendigen Mitwirkung eines anderen Staates ergäben, stellten einen zureichenden Grund im Sinne von § 75 Satz 1 VwGO dar. Wann das Bundesamt eine Entscheidung über den Asylantrag des Klägers treffen könne, sei derzeit nicht absehbar.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs des Bundesamtes Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage, über die das Gericht im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 VwGO), hat Erfolg.

1. Die Klage ist als Verpflichtungsklage in Form der Untätigkeitsklage (§ 75 VwGO) zulässig.

a) Nach § 75 Satz 1 VwGO ist eine Verpflichtungsklage abweichend von § 68 VwGO zulässig, wenn über einen Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsaktes ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden ist. Nach Satz 2 der Vorschrift kann die Klage nicht vor Ablauf von drei Monaten seit dem Antrag auf Vornahme des Verwaltungsaktes erhoben werden, außer wenn wegen besonderer Umstände des Falles eine kürzere Frist geboten ist. Die Einhaltung der Frist des § 75 Satz 2 VwGO ist eine besondere Prozessvoraussetzung, nach deren Ablauf eine daraufhin erhobene Klage unabhängig davon zulässig ist, ob sich die Verzögerung der Verwaltungsentscheidung als unzureichend begründet erweist oder nicht (BVerwG, Urt. v. 11.07.2018 - 1 C 18.17 -, juris Rn. 14, und Urt. v. 23.03.1973 - 4 C 24.92 -, juris Rn. 26).

Die dreimonatige Sperrfrist gilt auch im Bereich des Asylrechts (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.02.1994 - 5 C 24.92 -, juris Rn. 12; VG München, Urt. v. 08.02.2016 - M 24 K 15.31419 -, juris Rn. 27). Sie wird weder durch § 24 Abs. 4 AsylG noch durch Art. 31 Abs. 3 und 5 der Asylverfahrensrichtlinie modifiziert.

§ 24 Abs. 4 AsylG, wonach das Bundesamt dem Ausländer auf Antrag nach sechs Monaten mitzuteilen hat, bis wann voraussichtlich über seinen Asylantrag entschieden wird, normiert lediglich einen Auskunftsanspruch des Asylantragstellers gegenüber dem Bundesamt im Rahmen des Verwaltungsverfahrens. Eine Bedeutung für das gerichtliche Verfahren kommt ihr nach ihrem Wortlaut und nach ihrer systematischen Stellung in dem vierten Abschnitt („Asylverfahren“) - und nicht in dem das Gerichtsverfahren betreffenden fünften Abschnitt - des Asylgesetzes nicht zu; auch die Gesetzesgebegründung (BT-Drs. 16/5065, S. 216) gibt insoweit nichts her (vgl. VG Hannover, Beschl. v. 11.01.2016 - 7 A 5037/15 -, juris Rn. 14; VG Magdeburg, Urt. v. 11.02.2021 - 9 A 363/20 -, juris Rn. 20; VG Osnabrück, Urt. v. 14.10.2015 - 5 A 390/15 -, juris Rn. 17-19).

Auch der Asylverfahrensrichtlinie liegt eine strikte Trennung von Verwaltungsverfahren (Kapitel III, Art. 31 ff.) und gerichtlichem Verfahren (Kapitel V, Art. 46 ff.) zugrunde (vgl. auch VG München, Urt. v. 08.02.2016 - M 24 K 15.31419 -, juris Rn. 27). Aus Art. 31 Abs. 3 und 5 der Richtlinie, wonach die Mitgliedstaaten sicherzustellen haben, dass das Prüfungsverfahren grundsätzlich binnen sechs (Abs. 3 UAbs. 1), in bestimmten Ausnahmefällen innerhalb von 15 (Abs. 3 UAbs. 3) Monaten, in jedem Fall aber innerhalb von 21 Monaten (Abs. 5) nach förmlicher Antragstellung zum Abschluss gebracht wird, lässt sich eine von § 75 Satz 2 VwGO abweichende Sperrfrist daher ebenfalls nicht herleiten (so im Ergebnis auch VG Osnabrück, Urt. v. 07.04.2021 - 5 A 515/20 -, V.n.b.).

Die dreimonatige Sperrfrist ist hier auch gewahrt; zwischen dem Zeitpunkt der förmlichen Asylantragstellung und der Klageerhebung lagen mehr als 14 Monate.

b) Der Kläger hat darüber hinaus das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis für eine auf Bescheidung beschränkte Untätigkeitsklage. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hat ein Asylantragsteller, über dessen Asylantrag nicht in angemessener Frist entschieden worden ist, jedenfalls dann ein Rechtsschutzbedürfnis für eine Untätigkeitsklage mit dem Ziel, das Bundesamt zur Bescheidung seines Antrages zu verpflichten, wenn er vom Bundesamt bisher nicht zu seinen Asylgründen angehört worden ist (BVerwG, Urt. v. 11.07.2018 - 1 C 18.17 -, juris Rn. 32 ff.). So liegt der Fall hier. Eine - über die Zulässigkeit des Asylantrages hinausgehende - persönliche Anhörung des Klägers im Sinne von § 25 AsylG hat bisher nicht stattgefunden.

2. Die Beklagte hat ohne zureichenden Grund nicht über den Asylantrag des Klägers entschieden, sodass das Verfahren nicht nach § 75 Satz 3 VwGO unter Setzung einer Entscheidungsfrist auszusetzen, sondern die Beklagte - ohne weitere Entscheidungsvorgaben - zur Entscheidung über den Asylantrag zu verpflichten ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.07.2018 - 1 C 18.17 -, juris Rn. 56 f.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 18.03.2019 - OVG 2 L 32.18 -, juris Rn. 3).

Ob ein zureichender Grund für die Verzögerung vorliegt, ist nach objektiven Gesichtspunkten zu beurteilen. Neben den vielfältigen Umständen, die eine verzögerte behördliche Entscheidung dem Grunde nach rechtfertigen können, ist auch eine etwaige besondere Dringlichkeit der Angelegenheit für den Kläger zu berücksichtigen. Zureichende Gründe sind dabei nur solche, die mit der Rechtsordnung in Einklang stehen. Als mögliche zureichende Gründe für eine Verzögerung sind u.a. anerkannt worden ein besonderer Umfang und besondere Schwierigkeiten der Sachaufklärung oder die außergewöhnliche Belastung einer Behörde, auf die durch organisatorische Maßnahmen nicht kurzfristig reagiert werden kann (vgl. zum Vorstehenden BVerwG, Urt. v. 11.07.2018 - 1 C 18.17 -, juris Rn. 16 m.w.N.).

Gemessen daran rechtfertigen die von der Beklagten vorgebrachten Gründe die Nichtbescheidung des Asylantrages des Klägers nicht.

Richtig ist, dass in Verfahren, in denen die Asylantragsteller bereits über einen Schutzstatus in einem anderen Mitgliedstaat verfügen, die Lage der Rückkehrer in diesem Mitgliedstaat und eine mögliche Verletzung garantierter Rechtsgüter sorgfältig zu prüfen ist. Der Einschätzung des Bundesamtes, dass sich die allgemeinen Lebensumstände für Personen, die - wie der Kläger - in Griechenland internationalen Schutz erhalten haben und dorthin zurückkehren, auf der Grundlage der gegenwärtig zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel nicht ausreichend beurteilen ließen, folgt das Gericht jedoch nicht (vgl. auch VG Halle, Urt. v. 18.02.2021 - 6 A 316/20 HAL -, V.n.b.; VG Magdeburg, Urt. v. 11.02.2021 - 9 A 363/20 -, juris Rn. 25 ff.; VG Osnabrück, Urt. v. 07.04.2021 - 5 A 515/20 -, V.n.b.). Vielmehr lässt sich diesen Erkenntnismitteln entnehmen, dass für Rückkehrer nach Griechenland vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalls die ernsthafte Gefahr besteht, ihre elementarsten Bedürfnisse für einen längeren Zeitraum nicht befriedigen zu können und damit in ihren Rechten aus Art. 4 GR-Charta und Art. 3 EMRK verletzt zu werden (vgl. Nds. OVG, Urt. v. 19.04.2021 - 10 LB 244/20 -, juris; OVG NRW, Urt. v. 21.01.2021 - 11 A 1564/20.A -, juris; VG Hannover, Urt. v. 05.03.2021 - 12 A 107/21 -, n.v.). Soweit die Beklagte einwendet, es fehle an aktuellen Erkenntnissen über die Versorgungssituation und die Lage auf dem Arbeitsmarkt - auch im Hinblick auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie - trifft dies nicht zu (vgl. Nds. OVG, Urt. v. 19.04.2021 - 10 LB 244/20 -, juris Rn. 52 ff. [zur Arbeitsmarktsituation] und Rn. 72 [zur Versorgungssituation]). Die Beklagte legt auch nicht näher dar, welche „besonderen Schwierigkeiten“ sich im Hinblick auf die Sachaufklärung ergeben sollen.

Der Umstand, dass die Beklagte versucht hat, eine individuelle Zusicherung der griechischen Behörden im Hinblick auf eine angemessene Unterbringung des Klägers zu erhalten, stellte zwar zunächst einen zureichenden Grund für die Nichtbescheidung des Asylantrages dar. Aufgrund des für das Asylverfahren bestehenden Beschleunigungsgebots (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.07.2018 - 1 C 18.17 -, juris Rn. 19) kann die Beklagte jedoch nicht unbegrenzte Zeit auf die Abgabe einer solchen individuellen Zusicherung warten. Erhält die Beklagte auf eine entsprechende Anfrage über mehrere Monate keine Antwort und ist auch nicht absehbar, dass sie demnächst eine solche erhalten wird, hat sie eine Entscheidung über den Asylantrag auf der Grundlage der vorhandenen Erkenntnisse zu treffen. Dies ist - in Orientierung an der Frist des § 24 Abs. 4 AsylG bzw. des Art. 31 Abs. 3 UAbs. 1 der Verfahrensrichtlinie (vgl. auch BVerwG, Urt. v. 11.07.2018 - 1 C 18.17 -, juris Rn. 19 f.) - jedenfalls dann der Fall, wenn sechs Monate nach der ersten Anfrage der Beklagten noch keine Antwort der Behörden des betreffenden Drittstaates eingegangen ist oder diese zu erkennen gegeben haben, dass sie die Abgabe einer individuellen Zusicherung nicht für erforderlich halten (so überzeugend VG Magdeburg, Urt. v. 11.02.2021 - 9 A 363/20 -, juris Rn. 27; ebenso VG Osnabrück, Urt. v. 07.04.2021 - 5 A 515/20 -, V.n.b.). Im Fall des Klägers hatte das Bundesamt die griechischen Behörden bereits mit E-Mail vom 13. Mai 2020 um die Abgabe einer individuellen Zusicherung ersucht; unter dem 2. Juni 2020 erfolgte eine Erinnerung. Eine Antwort der griechischen Behörden steht somit sei mehr als einem Jahr aus. Die Beklagte hat daher nunmehr über den Asylantrag des Klägers zu entscheiden, ohne den Eingang einer individuellen Zusicherung bzw. einer Antwort der griechischen Behörden abzuwarten.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.