Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 24.09.2002, Az.: 8 K 30/00
Kindergeld und behinderungsbedingter Mehrbedarf bei teilstationärer Unterbringung
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 24.09.2002
- Aktenzeichen
- 8 K 30/00
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2002, 14083
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2002:0924.8K30.00.0A
Fundstellen
- EFG 2003, 470
- NWB 2003, 488
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Wird ein zu 100 v.H. schwerbehindertes Kind, das werktags von Montags bis Freitags eine Werkstatt für Behinderte der Lebenshilfe besucht, im Übrigen im Haushalt seiner Eltern versorgt und lebt dort, muss von den Einkünften und Bezügen des Kindes der behinderungsbedingte Mehrbedarf (ggf. in Höhe des Behindertenpauschbetrages) abgezogen werden.
- 2.
Leistungen der Kommune für die Eingliederungshilfe in einer Behindertenwerkstatt sind nicht als Bezüge anzusetzen. Diese im Rahmen der Sozialhilfe geleisteten Beträge zählen nicht zu den anrechenbaren anderen Bezügen, da sie zweckgebunden gewährt werden und daher nicht zur Bestreitung des Unterhalts bestimmt oder geeignet sind.
Tatbestand
Streitig ist, ob bei der Ermittlung der eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes Eingliederungshilfe für die teilstationäre Tätigkeit in der Werkstatt für Behinderte dem Abzug des behinderungsbedingten Mehrbedarfs in Höhe des Pauschbetrages gem.§ 33 b Abs. 1 bis 3 EStG entgegensteht.
Die am...geborene Tochter des Klägers, K, ist seit ihrer Geburt zu 100 % schwerbehindert und hilflos (Merkzeichen G, H, RF lt. Schwerbehindertenausweis). Sie lebt im Haushalt ihrer Eltern und wird dort versorgt und verpflegt. Von Montags bis Freitags besucht sie tagsüber die Werkstatt für Behinderte der Lebenshilfe...in .... Nach Mitteilung der Stadt...handelt es sich hierbei um eine Arbeitsstätte für behinderte Menschen, in der eine teilstationäre Betreuung erfolgt. Nach Feierabend kehrt die Tochter in den elterlichen Haushalt zurück. Die Stadt...hat die Werkstattkosten (monatlich DM 1.700,-- im Jahr 1999, DM 1.740, im Jahr 2000) im Rahmen der Eingliederungshilfe für Behinderte gemäß § 40 Abs. 1 Nr. 6 BSHG übernommen; bei diesen Kosten handelt es sich ausschließlich um Betreuungskosten, in denen weder Taschengeld, Arbeitsentgelt noch Verpflegung enthalten sind (Schreiben der Stadt...an die Beklagte vom...und ...).
Der von der Werkstatt an die Tochter gezahlte Arbeitslohn betrug im Jahr 1.999,00 DM 1.900,--, im Jahr 2.000,00 DM 1.900,-- und im Jahr 2.001,00 DM 2.300,--. In den Monaten Januar bis August 2002 erhielt die Tochter monatlich Euro 100,-- Arbeitslohn. Ferner erhielt die Tochter Erwerbsunfähigkeitsrente in Höhe von DM 17.000, im Jahr 1999, DM 17.200,-- im Jahr 2000, DM 17.400,-- im Jahr 2001, jeweils Euro 750,-- in den Monaten Januar bis Juni 2002 und Euro 770,-- im Monat August 2002.
Mit Bescheid vom...hob der Beklagte die Kindergeldfestsetzung für die Tochter K mit Wirkung ab 1. Dezember 1999 auf. Die Eingliederungshilfe für die teilstationäre Unterbringung in der Behindertenwerkstatt betrage mehr als DM 7.200,-- im Jahr. Der Behindertenpauschbetrag in Höhe von DM 7.200,-- erhöhe deshalb nicht den Grenzbetrag der Einkünfte und Bezüge der Tochter. Die Einkünfte und Bezüge überstiegen daher den Grenzbetrag.
Den Einspruch des Klägers vom...wies die Beklagte mit Bescheid vom...zurück. Die von der Stadt...gewährte Eingliederungshilfe sei auf den Behindertenpauschbetrag anzurechnen. Da sie DM 7.200,-- übersteige, könne der Pauschbetrag nicht mehr zu einer Erhöhung des Grenzbetrages führen. Die Bezüge aus der Erwerbsunfähigkeitsrente überstiegen nach Abzug des Werbungskostenpauschbetrages von DM 200,-- und einer Kostenpauschale von DM 360,-- den Grenzbetrag.
Dagegen richtet sich die Klage. Der Kläger macht geltend, der Pauschbetrag gem. § 33 b EStG sei neben der Eingliederungshilfe von den Einkünften und Bezügen der Tochter abzuziehen, weil seine Tochter nicht vollstationär untergebracht sei, sondern zu Hause bei den Eltern wohne. Dadurch entstehe behinderungsbedingter Mehrbedarf. Es entstünden zusätzliche Aufwendungen durch erforderliche Hilfeleistungen, z.B. Betreuungen und Fahrtkosten, die im Falle der Nichtbehinderung nicht anfallen würden. Weiterhin könne - beispielhaft -seine Tochter nicht allein Ausflugsfahrten oder Urlaube durchführen. Hier sei immer eine zusätzliche Hilfestellung erforderlich, wobei auch nur bestimmte Urlaubsorte geeignet seien und dort aufgrund der besonderen Leistungen auch zusätzliche Kosten anfielen. Konkret könnten derartige Aufwendungen, die ständig anfielen, kaum beziffert werden. Aus diesem Grunde habe der Gesetzgeber den Abzug von Pauschbeträgen vorgesehen, um eine möglichst sachgerechte Behandlung zu gewährleisten.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom...in Form des Einspruchsbescheides vom...aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihm für die Tochter K ab Dezember 1999 weiterhin Kindergeld zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hält an seiner Auffassung fest.
Wegen des weiteren Sachverhalts und Vorbringens wird auf den Inhalt der Kindergeldakten und der gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet.
Bei der Kindergeldfestsetzung werden gem.§ 63 EStG Kinder im Sinne des § 32 Abs. 1 EStG als Kinder berücksichtigt; § 32 Abs. 3 bis 5 EStG gilt entsprechend. Gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG wird ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, berücksichtigt, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist ein behindertes Kind "dann imstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es über eine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt, die zur Bestreitung seines gesamten notwendigen Lebensbedarfs ausreicht." (BFH, Urteil vom 15. Oktober 1999, VI R 40/98, BStBl. II 2000, S. 75 ff., Ziffer II 1 c der Entscheidungsgründe). Mithin ist der Lebensbedarf des Kindes seinen finanziellen Mitteln gegenüber zu stellen. Der Lebensbedarf des behinderten Kindes setzt sich nach der Entscheidung des BFH typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf), der entsprechend dem Grenzbetrag in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG zu beziffern ist, und dem behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen. Zum behinderungsbedingten Mehrbedarf "gehören alle mit einer Behinderung unmittelbar und typisch zusammen hängenden Belastungen, z.B. Wäsche, Hilfeleistungen, Erholung, typische Erschwernisaufwendungen...Erfolgt insoweit seitens des Steuerpflichtigen kein Einzelnachweis, so kann der maßgebliche Behindertenpauschbetrag (§ 33 b Abs. 1 bis 3 EStG) als Anhalt für den betreffenden Mehrbedarf dienen." (BFH, a.a.O., Ziffer II 1 d) der Entscheidungsgründe). Nach dem Urteil des BFH gilt dies "jedoch regelmäßig nicht bei vollstationärer Unterbringung des Kindes. Denn in den Heimkosten sind verschiedene Kostenbestandteile enthalten, die von dem Pauschbetrag des § 33 b Abs. 3 EStG typisierend mit erfasst werden. Der Ansatz der Heimkosten entspricht deshalb einem Einzelnachweis, sodass daneben für diesen Pauschbetrag kein Raum ist." Dieser Auffassung entspricht die Neuregelung in § 40 a BSHG, wonach die Eingliederungshilfe in einer vollstationären Einrichtung der Behindertenhilfe auch die in der Einrichtung gewährten Pflegeleistungen umfasst.
Im Streitfall liegt eine vollstationäre Unterbringung, die dem Abzug des Pauschbetrages für den typischerweise bei der Unterbringung im Haushalt des Klägers entstehenden behinderungsbedingten Mehrbedarf entgegenstehen würde, nicht vor. Vielmehr ist die Tochter des Klägers in seinem Haushalt untergebracht und wird dort täglich versorgt. Durch diese Versorgung und Betreuung liegen die vom BFH angeführten und vom Kläger dargelegten mit der Behinderung unmittelbar und typischerweise zusammenhängenden Belastungen für Wäsche, Hilfeleistungen, Erholung, sonstige Erschwernisaufwendungen vor (vgl. das rechtskräftige Urteil des FG Sachsen-Anhalt vom 3. April 2002, 2 K 131/99, Entscheidungen der Finanzgerichte 2000, S. 875 f.). Die Abwesenheit der Tochter während des Tages aufgrund ihrer Tätigkeit in der Behindertenwerkstatt von Montags bis Freitags (abzüglich der Urlaubs- und Krankheitstage) unterscheidet sich insoweit nicht von einer sonstigen Berufstätigkeit, die der Berücksichtigung des Pauschbetrages für behinderungsbedingten Mehrbedarf nicht entgegenstehen würde. Von den Einkünften und Bezügen des Kindes ist deshalb der Behindertenpauschbetrag abzuziehen. Dieser beträgt, worüber zwischen den Beteiligten kein Streit besteht, DM 7.200,-- in den Jahren 1999 bis 2001 und Euro 3.700,-- im Jahr 2002 (§ 33 b Abs. 3 Satz 3 EStG).
Nach Abzug des behinderungsbedingten Mehrbedarfs in Höhe des Behindertenpauschbetrages reichen die Einkünfte und Bezüge des Kindes nicht aus, um seinen Grundbedarf zu decken. Die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit betragen nach Abzug des Arbeitnehmerpauschbetrages (§ 9 a Nr. 1 EStG) vom Arbeitslohn in den Jahren 1999 und 2.000,00 DM 0,--, im Jahr 2.001,00 DM 300,-- und voraussichtlich im Jahr 2002 Euro 150,--. Die Einkünfte und Bezüge aus der Erwerbsunfähigkeitsrente betragen im Jahr 1.999,00 DM 16.500,--, wie vom Beklagten im Einspruchsbescheid dargelegt, und entsprechend berechnet DM 16.700,-- im Jahr 2000, DM 16.900,-- im Jahr 2001 und voraussichtlich Euro 8.800,-- im Jahr 2002. Die Leistungen der Stadt...für die Eingliederungshilfe in der Behindertenwerkstatt sind nicht als Bezüge anzusetzen. Diese im Rahmen der Sozialhilfe geleisteten Beträge gehören nach der Rechtsprechung des BFH nicht zu den anrechenbaren anderen Bezügen, weil sie zweckgebunden gewährt werden und deshalb nicht zur Bestreitung des Unterhalts bestimmt oder geeignet sind (Urteile vom 22. Juli 1988, III R 253/83, BStBl. II 1988, S. 830 ff. und III R 175/86, BStBl. II 1988 S. 939 ff. zur insoweit gleichlautenden Regelung der Ermittlung der anrechenbaren eigenen Einkünfte und Bezüge in § 33 a Abs. 1 EStG.); die von der Stadt...geleistete Eingliederungshilfe wird gem. § 40 Abs. 1 Nr. 6 BSHG "zur Ausbildung für eine sonstige angemessene Tätigkeit" geleistet. Die nach Abzug des Behindertenpauschbetrages von DM 7.200,-- bzw. Euro 3.700,-- verbleibenden Beträge liegen folglich in den Jahren 1999 bis 2001 und voraussichtlich im Jahr 2002 unter dem in Höhe des Grenzbetrages gem.§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG zu beziffernden Grundbedarf.
Ab dem Kalenderjahr 2000 ist für die Berücksichtigung eines behinderten Kindes zusätzlich Voraussetzung, dass die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist; diese Voraussetzung liegt im Streitfall vor.
Die Bescheide über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung waren deshalb aufzuheben, sodass der Beklagte dem Kläger weiterhin Kindergeld für die Tochter K zu leisten hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 FGO.
Die Entscheidungen über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruhen auf den §§ 151, 155 FGO i.V.m.§§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung.