Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 29.12.2003, Az.: 17 W 107/03

Inhalt des Anspruchs eines Bürgers auf rechtliches Gehör; Zweck der persönlichen Anhörung eines Betroffenen; Begriff des Freizügigkeitsberechtigten

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
29.12.2003
Aktenzeichen
17 W 107/03
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 34762
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2003:1229.17W107.03.0A

Verfahrensgang

vorgehend
AG Hannover - 21.10.2003 - AZ: 44 XIV 494/03
LG Hannover - 02.12.2003 - AZ: 28 T 126/03

Fundstelle

  • InfAuslR 2004, 165-166 (Volltext mit red. LS)

In der Abschiebehaftsache
...
hat der 17. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle
durch
die Richterin am Oberlandesgericht ...,
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ... und
den Richter am Oberlandesgericht ...
am 29. Dezember 2003
beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Auf die sofortige weitere Beschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 28. Zivilkammer des Landgerichts Hannover vom 2. Dezember 2003 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung über die sofortige Beschwerde des Betroffenen an das Landgericht zurückverwiesen, das auch über die Kosten der sofortigen weiteren Beschwerde zu entscheiden hat.

  2. 2.

    Dem Betroffenen wird unter Beiordnung von Rechtsanwalt ... in Hannover Prozesskostenhilfe für das Verfahren der weiteren sofortigen Beschwerde bewilligt.

  3. 3.

    Beschwerdewert: 3.000 EUR.

Gründe

1

I.

Auf Antrag der Beteiligten vom 29. Oktober 2003 (Bl.1 d.A.) hat das Amtsgericht Hannover mit Beschluss vom 31. Oktober 2003 (Bl.12 d.A.) gegen den Betroffenen Abschiebehaft angeordnet. Die sofortige Beschwerde der Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen vom 5. November 2003 (Bl.20 d.A.) hat die 28. Zivilkammer des Landgerichts Hannover mit Beschluss vom 2. Dezember 2003 (Bl.33 d.A.) zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die weitere sofortige Beschwerde des Betroffenen vom 16. Dezember 2003 (Bl.43 d.A.). Der Betroffene ist zwischenzeitlich am 17. Dezember 2003 (Bl.42 d.A.) nach Frankreich abgeschoben worden.

2

II.

1.

Die sofortige weitere Beschwerde ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben. Sie führt auch insoweit zum Erfolg, als die Entscheidung des Landgerichts Hannover aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen ist, denn die angefochtene Entscheidung beruht auf der Verletzung des Gesetzes (§§ 27 FGG, 550, 575 ZPO).

3

2.

Zu Recht beanstandet die sofortige Beschwerde, dass durch die angefochtene Entscheidung das Recht des Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzt wird (Art. 103 Abs. 1 GG). Der Anspruch des Bürgers auf rechtliches Gehör umfasst nicht nur sein Recht, vor einer gerichtlichen Entscheidung zum Sachverhalt und zur Rechtslage gehört zu werden (BVerfG NJW 1994, 1210). Die Gerichte sind vielmehr auch gehalten, das tatsächliche und rechtliche Vorbringen einer Partei zur Kenntnis zu nehmen und bei ihrer Entscheidungsfindung erkennbar zu berücksichtigen und zu würdigen (BVerfG FamRZ 1998, 606 m.w.N.). Zwar ist ein Gericht nicht verpflichtet, sich mit dem Vorbringen eines Betroffenen in allen Einzelheiten auseinander zu setzen. Es muss aber erkennbar sein, dass es dessen Vortrag zur Kenntnis genommen und sich damit auseinander gesetzt hat. Eine derartige Vorgehensweise lässt sich dem angefochtenen Beschluss nicht hinreichend entnehmen. Der angefochtene Beschluss lässt nicht erkennen, dass sich die Kammer mit dem Argument, die Beantragung einer Sicherungshaft sei vor Ablauf der dem Ausländer in der Ausweisung zugebilligten Ausreisefrist (hier am 16. November 2003) nicht zulässig, beschäftigt hat. Der insoweit im Beschluss enthaltene Hinweis, dass der Betroffene nicht wegen des Sicherungshaftbefehls, sondern wegen eines anderweitigen Haftbefehls (nach § 230 StPO vom 7. August 2003) festgenommen worden sei, führt insoweit nicht weiter und enthält keinerlei Feststellungen über die Rechtsmäßigkeit des hier lange vor Ablaufs der Ausreisefrist erlassenen Abschiebehaftbefehls.

4

3.

Dem Vorbringen der weiteren sofortigen Beschwerde ist zudem darin zuzustimmen, dass das Landgericht es rechtsfehlerhaft unterlassen hat, den Betroffenen anzuhören und sich von ihm einen persönlichen Eindruck zu verschaffen. Der Senat hat vielfach entschieden, dass die Verpflichtung, die Betroffene persönlich anzuhören, nicht nur für die erste Tatsacheninstanz, sondern auch für das Beschwerdegericht gilt. Die persönliche Anhörung soll das rechtliche Gehör und eine sorgfältige Sachaufklärung gewährleisten, indem sich das zur Entscheidung berufene Gericht den für seine Entscheidung bedeutsamen unmittelbaren Eindruck von dem Betroffenen verschafft. Auch die Wiederholung der persönlichen Anhörung eines Betroffenen in Abschiebehaftsachen im Beschwerdeverfahren ist insbesondere im Hinblick auf die Schwere des freiheitsentziehenden Eingriffes in aller Regel geboten. Auch der Umstand, dass die Beschwerdebegründung sich vordergründig nur auf rechtliche Aspekte stützt, führt nicht zu einer anderen Beurteilung. Im Beschwerdeverfahren ist die angefochtene Entscheidung in vollem Umfang und nicht nur hinsichtlich der mit der Beschwerde geltend gemachten Aspekte zu überprüfen (vgl. Sternal in Keidel/Kuntze/Winkler, 15. Aufl., § 25, Rdnr.6 ff.). Dies gilt im vorliegenden Fall umso mehr, als es hier ganz ersichtlich (vgl. Ausführungen im Antrag der Beteiligten von 29. Oktober 2003, Bl.2 X d.A.) entscheidend darauf ankommt, ob der Betroffenen nach Maßgabe des § 1 AufenthG/EWG Freizügigkeitsberechtigter ist oder nicht. Sollte das nämlich der Fall sein, würde gemäß § 12 Abs.9 AufentG/EWG § 72 Abs. 1 AuslG keine Anwendung finden, so dass dem von dem Betroffenen gegen den Ausweisungsbescheid eingelegten Widerspruch aufschiebende Wirkung zukäme. Ob der Betroffene jedoch Freizügigkeitsberechtigter i.S. von § 1 AufentG/EWG ist oder nicht, hängt - worauf der Betroffene in der Begründung seiner weiteren sofortigen Beschwerde zu Recht hinweist - davon ab, ob z.B. der Betroffene arbeitssuchend war oder ob er z.B. regelmäßige Unterhaltsleistungen seiner in Deutschland lebenden Mutter erhalten hat. Der bisher aus der Akte ersichtliche Sachverhalt reicht für Feststellungen zu diesen Fragen nicht aus. Aus dem Antrag der Beteiligten ergeben sich zu diesen Fragen keinerlei tatsächliche Feststellungen. Zu diesem Aspekt ist der Betroffene in seiner Anhörung vor dem Amtsgericht Hannover auch nicht befragt worden.

5

4.

Um der 28. Zivilkammer des Landgerichts die Gelegenheit zu geben, die weiteren notwendigen Ermittlungen nachzuholen und sodann auf ausreichender Tatsachengrundlage erneut zu entscheiden, ist die angefochtenen Entscheidung aufzuheben und das Verfahren zurückzuverweisen.

6

III.

Aus dem Vorstehenden zu Ziffer II folgt schließlich, dass dem Betroffenen für das Verfahren der weiteren sofortigen Beschwerde Prozesskostenhilfe zu bewilligen ist.