Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 01.06.2011, Az.: 11 PA 156/11
Erkennungsdienstliche Maßnahme kann bei rückfallgefährdetem Sexualstraftäter nur noch zur Gefahrenverhütung und nicht mehr zur Vorsorge für eine etwaige spätere Strafverfolgung angeordnet werden; Anordnung einer erkennungsdienstlichen Maßnahme zur Verhütung der von einem rückfallgefährdeten Sexualstraftäter ausgehenden Gefahren
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 01.06.2011
- Aktenzeichen
- 11 PA 156/11
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2011, 19298
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2011:0601.11PA156.11.0A
Rechtsgrundlage
Fundstelle
- NdsVBl 2011, 290
Amtlicher Leitsatz
Zum Umfang der erkennungsdienstlichen Behandlung eines rückfallgefährdeten Sexualstraftäters nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 Nds. SOG
Gründe
Die zulässige Beschwerde des i.S.d. § 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO bedürftigen Klägers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 27. April 2011, in dem dieses es abgelehnt hat, ihm für das erstinstanzliche Klageverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen, ist in dem aus dem Tenor ersichtlichem Umfang begründet, im Übrigen unbegründet.
Für die Anfechtungsklage bestehen nur in dem bezeichneten, geringfügigen Umfang nach § 166 VwGO i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO hinreichende Erfolgsaussichten.
Der 1980 geborene, wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern vorbestrafte, behinderte Kläger wendet sich nach vollständiger Verbüßung seiner Haftstrafe gegen den für sofort vollziehbar erklärten Bescheid der Antragsgegnerin vom 11. März 2011, mit dem gestützt auf § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 Nds. SOG seine erkennungsdienstliche Behandlung angeordnet worden ist.
Wie der Senat bereits in seinem Beschluss vom 16. September 2009 (- 11 ME 402/09 -, NVwZ 2010, 69 ff.) ausgeführt hat, kann auf der Grundlage des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Nds. SOG in seinem derzeitigen Wortlaut eine erkennungsdienstliche Maßnahme lediglich noch zur Verhütung von Gefahren und nicht mehr zur Vorsorge für eine etwaige spätere Strafverfolgung angeordnet werden. Die anzufertigenden erkennungsdienstlichen Unterlagen müssen also zur Abwehr einer ggf. zukünftig vom Betroffenen ausgehenden Gefahr geeignet, erforderlich sowie verhältnismäßig im engeren Sinne sein.
Dass bei dem Kläger eine latente Rückfallgefahr für die Begehung von Sexualdelikten zu Lasten von Kindern besteht, ist in dem auf der Grundlage des sog. K.U.R.S. (Konzeption zum Umgang mit rückfallgefährdeten Sexualstraftätern v. 25.6.2010, Nds. MBl. S. 651) - Erlasses für den Kläger erstellten, sorgfältigen und umfassenden Risikoprofil der K.U.R.S - Beauftragten im Prognosezentrum des Landes Niedersachsen bei der JVA Hannover vom Juni 2010 zutreffend ausgeführt worden.
Jedenfalls die Anfertigung von Lichtbildern sowie die Feststellung äußerer körperlicher Merkmale einschließlich Messungen erscheinen auch geeignet sowie im Übrigen verhältnismäßig, um den Kläger in bestimmten Situationen von der andernfalls drohenden Begehung weiterer einschlägiger Straftaten abzuhalten. Zum einen können diese Unterlagen dazu dienen, dass die Polizeibehörden mit ihrer Hilfe im Rahmen der §§ 12, 44 Nds. SOG gezielt gefährdete Personen oder Institutionen vor dem Kläger warnen, soweit er beispielsweise - wie in der Vergangenheit - eine ehrenamtliche Tätigkeit aufnimmt, für die von ihm kein "erweitertes" Führungszeugnis verlangt worden ist (vgl. dazu Pfeiffer, NJW 2010, 1109 f.), und dabei (unbeaufsichtigten) Kontakt mit Kindern hat oder haben kann. Zu anderen können die Unterlagen auch Kindern oder Eltern vorgelegt werden, die sich nach einer ihnen auffällig erscheinenden Kontaktaufnahme des Klägers ihnen bzw. ihren Kindern gegenüber selbst gezielt an die Polizei wenden, und der Polizei wiederum nach einer an Hand etwa der Lichtbilder erfolgten Identifizierung des Klägers weitere anlassabhängige Verhütungsmaßnahmen, wie sie beispielhaft in Teil B der Anlage 2 des o. a. K. U. R. S. - Erlasses angeführt sind, bis hin zur Observation des Klägers ermöglichen.
Hingegen ist von der Beklagten nicht dargelegt worden und auch für den Senat jedenfalls gegenwärtig nicht zu erkennen, wie darüber hinaus Finger- und Handflächenabdrücke insoweit gezielt zur Straftatenprävention dienen sollen.
Soweit sich die Beklagte stattdessen allgemein auf die abschreckende Wirkung auch dieser erkennungsdienstlichen Maßnahme beruft, überzeugt dieser Gesichtspunkt zumindest in der vorliegenden Fallgestaltung eines als rückfallgefährdet eingestuften und deshalb nach dem wiederholt genannten Erlass ohnehin engmaschig überprüften Sexualstraftäters wenig. Denn eine wesentliche, zusätzliche Abschreckungswirkung dürfte von der vorsorglichen Abnahme der bezeichneten Abdrücke kaum ausgehen, zumal keine konkreten Anhaltspunkte dafür bestehen, dass evtl. zukünftige Opfer des behinderten Klägers diesen nicht auch ohne diese Abdrücke zumindest mit Hilfe der anderen von ihm anzufertigenden erkennungsdienstlichen Unterlagen identifizieren könnten, der Kläger also im Wiederholungsfall ohnehin mit seiner Entdeckung und Bestrafung rechnen muss.
Der Senat hat in seinem o. a. Beschluss weiter ausgeführt, dass die anordnende Behörde im Rahmen des ihr in § 15 Nds. SOG eingeräumten Ermessens in dem Bescheid grundsätzlich darzulegen hat, inwieweit eine erkennungsdienstliche Anordnung ausschließlich zur Verhütung von Gefahren notwendig ist. Eine solche Darlegung war allerdings hier ausnahmsweise nicht erforderlich, da das der Beklagten als Polizeibehörde zustehende Ermessen vorliegend gebunden war. Denn nach Teil A der Anlage 2 zum K.U.R.S. - Erlass ist grundsätzlich eine Vervollständigung bzw. Aktualisierung der erkennungsdienstlichen Unterlagen vorzunehmen, d.h. die zuständige Polizeibehörde hat bei rückfallgefährdeten Sexualstraftätern das ihr insoweit zustehende Ermessen immer in diesem Sinne zu betätigen. Angesichts der hohen Bedeutung der zu schützenden körperlichen und seelischen Gesundheit von Kindern ist diese Ermessensleitlinie nicht zu beanstanden.
Die Entscheidung über die Beiordnung des Bevollmächtigten beruht auf § 166 VwGO i.V.m. §§ 121 Abs. 2 und 3 ZPO, die Kostenentscheidung auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, § 166 VwGO i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO. Da der Kläger nur zu einem geringen Teil Erfolg hat, ist die Gerichtsgebühr nach Nr. 5502 der Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG auch nicht auf die Hälfte ermäßigt worden.