Sozialgericht Hildesheim
Beschl. v. 22.03.2010, Az.: S 43 AS 420/10 ER

Rechtmäßigkeit der Zurückweisung einer Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) wegen einer verletzten Wohnsitzauflage

Bibliographie

Gericht
SG Hildesheim
Datum
22.03.2010
Aktenzeichen
S 43 AS 420/10 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2010, 32239
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGHILDE:2010:0322.S43AS420.10ER.0A

Fundstellen

  • ZfF 2011, 179-181
  • info also 2011, 284

Tenor:

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern vorläufig und vorbehaltlich einer Entscheidung über den Leistungsantrag vom 8. Februar 2010 für den Zeitraum ab dem 1. März 2010 bis zur Entscheidung über den Antrag vom 8. Februar 2010, längstens jedoch bis zum 30. Juni 2010, Leistungen nach Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) in Höhe von 1.300,00 Euro je Monat zu gewähren.

Der Antragsgegner hat den Antragstellern die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Den Antragstellern wird Prozesskostenhilfe gewährt unter Beiordnung von Rechtsanwalt K., L ...

Gründe

1

I.

Die Beteiligten streiten im gerichtlichen Eilverfahren um die Bewilligung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II), die der Antragsgegner wegen einer verletzten Wohnsitzauflage nicht gewährt.

2

Die 1984 geborenen und miteinander verheirateten Antragsteller zu 1 und 2 sind kosovarische Staatsangehörige und die Eltern der 2001 bis 2007 geborenen Antragsteller zu 3 bis 6. Die Antragsteller wohnen in einer 85 qm großen Dreizimmerwohnung in L., für die sie eine Kaltmiete i. H. v. 390 Euro sowie Betriebskosten i. H. v. 110 Euro je Monat entrichten müssen. In der Vergangenheit bezogen sie monatliche Kindergeldleistungen i. H. v. 693 Euro sowie in dem Zeitraum von Juli bis September Kinderzuschlag i. H. v. 560 Euro je Monat. Kindergeld wird auch derzeit gewährt.

3

Sie verfügen über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) mit der Erlaubnis, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Der Aufenthaltstitel ist zugleich mit einer Auflage verbunden, nach der die Antragsteller ihren Wohnsitz nur im Gebiet des Landkreises L. mit Ausnahme des Gebietes der Stadt L. nehmen dürfen.

4

Zum Jahreswechsel 2009/2010 zogen die Antragsteller vom Landkreisgebiet in die Stadt L.; infolgedessen beantragten sie am 5. Januar 2010 beim Landkreis L. die Änderung bzw. die Streichung der Wohnsitzauflage. Über den Antrag ist noch nicht entschieden, da im laufenden Verfahren zur Änderung der Wohnsitzauflage die Behörde des Zuzugsorts, die Stadt L., einbezogen ist.

5

Bis zum 15. Januar 2010 ging der Antragsteller zu 1 einer Erwerbstätigkeit nach, durch die er ein Einkommen in wechselnder Höhe von bis zu 1.250 Euro pro Monat erzielte; er verlor die Anstellung aufgrund arbeitgeberseitiger Kündigung.

6

Am 25. Januar 2010 beantragte der Antragsteller zu 1 bei der Bundesagentur für Arbeit, Arbeitsamt L., Arbeitslosengeld; über diesen Antrag ist soweit ersichtlich noch nicht entschieden. Kurz darauf sprachen die Antragsteller beim Antragsgegner vor, um Leistungen nach dem SGB II zu beantragen. Unter Hinweis auf den Verstoß gegen die Wohnsitzauflage wurden die Antragsteller vom Antragsgegner zurückgewiesen.

7

Am 8. März 2010 haben die Antragsteller den vorliegenden Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes beim Sozialgericht Hildesheim gestellt, um eine Verpflichtung des Antragsgegners zur Gewährung von Arbeitslosengeld II zu erreichen.

8

Ein Verwaltungsvorgang ist beim Antragsgegner wegen der Vorsprache bzw. eines derzeit zur Entscheidung ausstehenden Leistungsantrags nicht angelegt worden.

9

Unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung vom 3. März 2010 tragen die Antragsteller vor, sie seien - bis auf die Kindergeldleistungen - mittellos und hätten bereits die Miete für die Monate Februar und März 2010 nicht entrichten können. Die Bescheidung des Antrags auf Gewährung von Arbeitslosengeld für den Antragsteller zu 1 stehe noch aus; der zu erwartende Leistungsbezug werde jedoch nicht reichen, um den Lebensunterhalt der Familie zu bestreiten. Neben der persönlichen Vorsprache beim Antragsgegner hätten die Antragsteller am 8. Februar 2010 mit einem aus dem Internet heruntergeladenen Antragsformular beim Antragsgegner Arbeitslosengeld II beantragt, bislang jedoch noch keine Rückmeldung über den Verfahrensstand erhalten. Zur Glaubhaftmachung haben die Antragsteller eine Kopie des Antragsformulars und ihres Mietvertrags vom 20. November 2009 sowie eine Betriebskostenabrechnung für das Jahr 2008 zur Gerichtsakte gereicht. Sie sind der Auffassung, dass der Antragsgegner trotz Verletzung der Wohnsitzauflage Leistungen nach dem SGB II zu erbringen habe.

10

Die Antragsteller beantragen schriftsätzlich,

wegen der Eilbedürftigkeit der Sache im Wege der einstweiligen Anordnung den Antragsgegner ohne mündliche Verhandlung zu verpflichten, den Antragstellern Leistungen gemäß SGB II zu bewilligen.

11

Der Antragsgegner beantragt schriftsätzlich,

den Antrag abzulehnen.

12

Er ist der Auffassung, dass den Antragstellern wegen des Verstoßes gegen die Wohnsitzauflage Leistungen nach dem SGB II nicht zu erbringen seien. Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Ausländerakte des Landkreises L. verwiesen. Ein Verwaltungsvorgang des Antragsgegners aus früheren Zeiten hat bei Beschlussfassung nicht vorgelegen.

13

II.

Der zulässige Antrag ist begründet.

14

Gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer solchen Regelungsanordnung ist das Vorliegen eines die Eilbedürftigkeit der Entscheidung rechtfertigenden Anordnungsgrundes sowie das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs aus dem materiellen Leistungsrecht. Sowohl der Anordnungsanspruch als auch der Anordnungsgrund müssen gem. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft gemacht werden.

15

Der Antrag ist auch vor Klageerhebung zulässig, § 86b Abs. 3 SGG.

16

Nach diesen Maßgaben haben die Antragsteller sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

17

Das der gerichtlichen Anordnung zugängliche Streitverhältnis der Beteiligten besteht in dem noch nicht beschiedenen Antrag der Antragsteller auf Bewilligung von Arbeitslosengeld II vom 8. Februar 2010. Nach den übereinstimmenden Angaben der Beteiligten und des in der Ausländerakte des Landkreises L. enthaltenen Schreibens der Stadt L. vom 18. Februar 2010 haben die Antragsteller - nach Beantragung des Arbeitslosengeldes - auch beim Antragsgegner vorgesprochen und sind von diesem mit der Auskunft zurückgewiesen worden, dass sie wegen des Verstoßes gegen die Wohnsitzauflage keine Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende beanspruchen könnten. Gemäß der eidesstattlichen Versicherung vom 3. März 2010 erachtet das Gericht den Vortrag der Antragsteller als glaubhaft, dass sie danach am 8. Februar 2010 einen Formantrag beim Antragsgegner abgegeben haben. Die Frage, ob den Antragstellern nicht bereits für den Zeitraum ab Vorsprache Leistungen zu gewähren sind, muss im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht beantwortet werden; der Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II ist nicht formabhängig. Zur Überwindung der gegenwärtigen Notlage erfolgt jedoch die gerichtliche Anordnung beschränkt auf den Zeitraum ab dem Monat des Eingangs des Antrags bei Gericht.

18

Nach diesen Ausführungen steht dem Leistungsanspruch der Antragsteller auch das Antragserfordernis gemäß § 37 Abs. 1 SGB II nicht entgegen.

19

Die Antragsteller haben im Weiteren auch einen Leistungsanspruch gem. §§ 7, 9, 11, 19, 20, 22, 28 SGB II glaubhaft gemacht.

20

Die Kläger sind gemäß § 7 SGB II dem Grunde nach leistungsberechtigt. Ein Leistungsausschluss gem. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB II liegt nicht vor, da die Aufenthaltserlaubnis der Antragsteller nach § 23 Abs. 1 AufenthG aufgrund der niedersächsischen Bleiberechtsregelung erlassen worden ist und nicht "wegen des Krieges in ihrem Heimatland" i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG. Eine Leistungsberechtigung der Antragsteller nach dem AsylbLG liegt nicht vor.

21

Die Antragsteller bilden gem. § 7 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 Nr. 1, Nr. 3 a, Nr. 4 SGB II eine Bedarfsgemeinschaft. Sie sind nach Aktenlage und den per eidesstattlicher Versicherung vom 3. März 2010 dargelegten Umständen hilfebedürftig i.S.d. § 9 SGB II, da sie ihren Lebensunterhalt nicht ausreichend aus ihrem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen bestreiten können. Nach den eidesstattlich versicherten Angaben beziehen sie derzeit allein Kindergeldleistungen, die sich der Höhe nach vermutlich - wie im Vorjahr - auf einen Betrag von insg. 693 Euro je Monat belaufen. Die Bescheidung des Antrags des Antragstellers zu 1 auf Gewährung von Arbeitslosengeld steht nach seinen Angaben noch aus. Dieser Umstand entbindet den Antragsgegner gleichwohl nicht von seiner Rechtspflicht, Leistungen nach dem SGB II zu gewähren, da der Arbeitslosengeldanspruch des Antragstellers zu 1 ersichtlich nicht den Bedarf der Familie decken wird. Zudem ist es dem Antragsgegner unbenommen, die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts wegen der voraussichtlich zu erwartenden Einnahmen gem. § 23 Abs. 4 SGB II darlehensweise zu gewähren. Soweit ersichtlich, wäre diese Leistungsgewährung im vorliegenden Fall die einzige mit den grundrechtlichen Belangen der Antragsteller zu vereinbarende Entscheidung (sog. Ermessensreduzierung auf Null).

22

Nach summarischer und - dem gerichtlichen Eilverfahren geschuldeten - beschränkter Prüfung der Sach- und Rechtslage haben die Antragsteller gem. §§ 20, 28 SGB II einen Anspruch auf Gewährung der Regelleistung bzw. des Sozialgeldes i.H.v. 323 Euro je Person (Antragsteller zu 1 und 2) sowie Sozialgeld i.H.v. 215 Euro je Person (Antragsteller zu 3 bis 6). Weiterhin sind die monatlich anfallenden Kosten der Unterkunft i.H.v. 500 Euro (Bruttokaltmiete) zu berücksichtigen. Die Höhe der Gasabschlagszahlungen ist dem Gericht nicht bekannt. Dem danach auf jeden Fall bestehenden monatlichen Gesamtbedarf von 2.006 Euro stehend Kindergeldleistungen i.H.v. 693 Euro gegenüber, sodass jedenfalls von einem derzeit unbedeckten Bedarf von mehr als 1.300 Euro je Monat auszugehen ist. Das Gericht hat die einstweilige Anordnung auf diesen Betrag begrenzt, da weitergehende Bedarfspositionen (Heizkosten) nicht glaubhaft gemacht worden sind und diese Leistungshöhe - angesichts der ausstehenden Bescheidung des Antrags auf Arbeitslosengeld - ausreichend ist, um die sonst drohenden schwerwiegendsten Nachteile abzuwenden.

23

Schließlich und vornehmlich im Streit darf die Leistungsbewilligung auch nicht wegen des Verstoßes gegen die Wohnsitzauflage i.S.d. § 12 Abs. 2 S. 2 AufenthG verweigert werden.

24

Durch diesen ordnungsrechtlichen Verstoß bleibt zum einen die örtliche Zuständigkeit des Antragsgegners nach § 36 SGB II unberührt. Danach sind für die Leistungen der Grundsicherung die Agentur für Arbeit sowie der kommunale Träger zuständig, in dessen Bezirk der erwerbsfähige Hilfebedürftige seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, § 36 S. 1, 2 SGB II. Die örtliche Zuständigkeit knüpft damit allein an den gewöhnlichen Aufenthalt des Leistungsberechtigten an (Aufenthaltsprinzip), ohne dass es auf den ordnungsrechtlichen Verstoß gegen die Wohnsitzauflage ankommt.

25

Zum anderen ist im SGB II eine dem § 23 Abs. 5 S. 1 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) entsprechende Norm verständlicherweise nicht enthalten; nach dieser Vorschrift darf der für den tatsächlichen Aufenthaltsort zuständige Träger der Sozialhilfe in den Teilen des Bundesgebiets, in denen sich Ausländer einer ausländerrechtlichen räumlichen Beschränkung zuwider aufhalten, nur die nach den Umständen unabweisbar gebotene Leistung erbringen. § 23 Abs. 5 SGB XII ist den mit der Gewährung von Fürsorgeleistungen einhergehenden fiskalischen Interessen der Länder geschuldet, eine Binnenwanderung von bedürftigen - erwerbsunfähigen (§ 8 Abs. 1 SGB II) - Ausländern im Bundesgebiet zu verhindern (vgl. hierzu Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 15. Januar 2008, Az.: 1 C 17/07; Wahrendorf, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2. Auflage 2008, § 23 SGB XII Rn. 21). Diese Interessen können bei einer nach dem SGB II förderungswürdigen Eingliederung eines Ausländers in den deutschen Arbeitsmarkt - wie hier - nicht vorgehen. Er muss nach § 2 SGB II (Grundsatz des Forderns) alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung seiner Hilfebedürftigkeit ausschöpfen, aktiv an allen Maßnahmen zu seiner Eingliederung in Arbeit mitwirken und seine Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts für sich und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen einsetzen. Hierbei ist grundsätzlich die Aufnahme jeder Arbeit zumutbar (vgl. § 10 SGB II), ggf. auch, wenn mit einer Arbeitsaufnahme ein Wohnortwechsel einhergehen muss. Eine ausländerrechtliche räumliche Beschränkung steht dem Ziel der Eingliederung in Arbeit entgegen. Dies hat der Gesetzgeber offensichtlich erkannt und von einer inhaltlich entsprechenden Norm im SGB II Abstand genommen (so auch SG Dortmund, Beschluss vom 6. Juli 2006, Az.: S 11 AS 78/06 ER - zit. nach ASYLMAGAZIN 1-2/2010, S. 9).

26

Die Antragsteller haben auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, da die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel derzeit ersichtlich nicht ausreichen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

27

Die gerichtliche Anordnung ist in zeitlicher Hinsicht auf den Monatsbeginn des Antragseingangs bei Gericht bis zur Entscheidung über den Antrag vom 8. Februar 2010 beschränkt sowie mit einer fixen zeitlichen Grenze bis Ende Juni 2010 versehen, um den Antragsgegner bei tatsächlichen Änderungen des Sachverhalts nicht über Gebühr zu binden. Der Antragsgegner hat es zugleich selbst in der Hand, sich von der gerichtlichen Verpflichtung durch vorzeitige Bescheidung des Leistungsantrags zu lösen. Ggf. eintretende Überzahlungen durch die Gewährung von Arbeitslosengeld gegenüber dem Antragsteller zu 1 sind hinzunehmen, können jedoch wegen der Vorläufigkeit der Leistungsgewährung in entsprechender Höhe von den Antragstellern bei endgültiger Entscheidung zurückgefordert oder - vorrangig - mit der Bundesagentur im Rahmen der Erstattung nach §§ 102 ff. Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) abgerechnet werden.

28

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

29

III.

Den Antragstellern war aus den dargelegten Gründen gemäß § 73a Abs. 1 SGG i.V.m. § 114 ZPO Prozesskostenhilfe zu bewilligen und zwar antragsgemäß (§ 121 Abs. 2 ZPO) unter Beiordnung von Rechtsanwalt Sonnenberg, Hildesheim.