Sozialgericht Hildesheim
Urt. v. 29.06.2010, Az.: S 14 R 473/08

Anspruch auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation mit dem Ziel der Reduzierung seines Körpergewichts; Abgrenzung zwischen stationärer Rehabilitation und Krankenhausbehandlung bei psychiatrisch behandlungsbedürftigen Versicherten; Anwendung von Heilmitteln bei der Adipositasbehandlung einschließlich Krankengymnastik, Bewegungstherapie, Sprachtherapie oder Arbeitstherapie und Beschäftigungstherapie

Bibliographie

Gericht
SG Hildesheim
Datum
29.06.2010
Aktenzeichen
S 14 R 473/08
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2010, 26236
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGHILDE:2010:0629.S14R473.08.0A

Tenor:

  1. 1.

    Der Bescheid der Beklagten vom 15.04.2008 und der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 11.09.2008 werden aufgehoben.

  2. 2.

    Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger eine stationäre Leistung zur medizinischen Rehabilitation, die eine Adipositasbehandlung umfasst, einschließlich ambulanter Nachbehandlung zur Behandlung der Adipositas und der psychischen Gesundheitsbeeinträchtigungen zu bewilligen und ihn im Übrigen hinsichtlich Dauer, Umfang, Beginn und Durchführung der Maßnahme unter Beachtung der Rechtsaufassung des Gerichts zu bescheiden. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

  3. 3.

    Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Notwendigkeit einer stationären Rehabilitation.

2

Der 1977 geborene Kläger verlor im Alter von 10 Jahren seine Mutter durch eine Gewalttat seines Vaters, die er teilweise miterlebte. Nach dem Hauptschulbesuch begann er eine Berufsausbildung zum Maler, die er jedoch nach vier Monaten abbrach. Nach einer Aushilfstätigkeit im Lager eines Sportartikelherstellers von 1998 bis Mitte 2000 ist er arbeitslos und steht nach erheblicher Verschuldung unter Betreuung (Vermögenssorge, behördliche Angelegenheiten).

3

Der Kläger leidet unter einer stark fortschreitenden Adipositas per magna (2003: ca. 118 kg, aktuell ca. 160 kg), dadurch bedingten orthopädischen und internistischen Folge-/Begleiterkrankungen sowie unter einer Persönlichkeitsstörung nach Extrembelastung, Störung der Impulskontrolle, sozialer Phopie und depressiven Störungen. In den Jahren 2004 und 2005 erhielt der Kläger von der Beklagten verschiedene, teils teilstationär erbrachte Teilhabeleistungen, vorrangig zur beruflichen Rehabilitation.

4

Am 23.07.2007 nahm die H. (I.) als Träger der Krankenversicherung des Klägers in J. auf dem bei den Rentenversicherungsträgern gebräuchlichen Formular G 100 nebst Anlagen G 110 und G 120 einen Antrag auf medizinische Rehabilitationsleistungen auf (Bl. 19 ff. des Gutachtenteils der Verwaltungsakte der Beklagten [GA-VA], Bl. 136 ff. der Verwaltungsakte d. Bekl. [VA]). Das Antragsformular ging jedoch erst am 29.01.2008 bei der Deutschen Rentenversicherung Bund ein. Diese sandte es an die Beklagte weiter, bei der es am 05.02.2008 einging.

5

Die Beklagte holte ein Gutachten auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet des Herrn K. ein. Dieser führte unter dem 07.03.2008 unter anderem aus, die Beurteilung falle aufgrund diffuser und wenig differenzierter Angaben und fehlender nervenärztlicher Befunde schwer. Offensichtlich stehe eine Antriebsstörung und Probleme in sozialen Kontakten im Vordergrund. Anscheinend werde der Kläger in einer Tagesstätte ergotherapeutisch behandelt, um eine bessere Tagesstrukturierung zu erreichen. Auch hierüber lägen keine Befunde vor. Diese seien aber nötig, um zumindest vom Verlauf her die Prognose besser einschätzen zu können. Über den zumutbaren Umfang einer Erwerbsfähigkeit könne er keine genaue Angabe machen, hierfür seien aktuelle Befunde notwendig. Er gehe aber davon aus, dass ein stationäres Heilverfahren mit dem Ziel, das Körpergewicht zu senken, wenig Erfolg versprechend sein werde, da die psychischen Befunde hiervon nur bedingt beeinflusst würden, wie sich aus der Entwicklung im Längsschnitt soweit bekannt ergebe.

6

Die Beklagte lehnte den Antrag nach weiterer beratungsärztlicher Stellungnahme des Herrn L. vom 03.04.2008, der den Kläger für drei bis unter sechs Stunden erwerbsfähig gehalten hatte, mit Bescheid vom 15.04.2008 ab, weil sie den Kläger für voll erwerbsgemindert hielt und die Erwerbsfähigkeit durch Rehabilitationsmaßnahmen nicht gebessert werden könne.

7

Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch, da er spezialisierte Hilfe für notwendig hielt, um bereits erzielte Fortschritte zu sichern.

8

Die Beklagte wies den Widerspruch nach erneutem beratungsärztlichem Kontakt mit Bescheid vom 11.09.2008 zurück. Der Kläger sei als voll erwerbsgemindert anzusehen. Die gewünschte Rehabilitationsleistung könne die Erwerbsfähigkeit nicht positiv beeinflussen.

9

Der Kläger hat im Oktober 2008 Klage erhoben und verfolgt sein Begehren weiter. Er erwartet von der stationären Rehabilitation, dass sich seine Erwerbsfähigkeit verbessert.

10

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 15.04.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.09.2008 zu verpflichten, dem Kläger eine stationäre Leistung zur medizinischen Rehabilitation in einer M., gefolgt von einer ambulanten Nachbehandlung zur Behandlung der Adipositas sowie einer Behandlung auf psychiatrischem Fachgebiet, zu bewilligen.

11

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

12

Sie hält die getroffene Entscheidung für zutreffend.

13

Auf den weiteren Antrag des Klägers vom November 2008 hat die DAK mit Bescheid vom 11.12.2008 stationäre Rehabilitationsleistungen abgelehnt, die Notwendigkeit ambulanter Leistungen jedoch zugestanden. Der nachfolgende Widerspruch ist mit Bescheid vom 10.06.2009 zurückgewiesen worden. Hiergegen ist beim Sozialgericht Hildesheim unter dem Aktenzeichen S 32 KR 128/09 ein weiteres Verfahren anhängig.

14

Das Gericht hat ein medizinisches Gutachten auf psychiatrisch/psychotherapeutischem Fachgebiet von Frau N. eingeholt. Diese hat unter dem 19.02.2010 bei dem Kläger eine andauernde Persönlichkeitsstörung, begleitet von Störungen der Impulskontrolle, sozialen Ängsten und rezidivierenden depressive Störungen sowie erhebliches Übergewicht festgestellt. Daneben leide der Kläger unter Bluthochdruck und wiederkehrenden Wirbel-säulen- und Gelenkbeschwerden. Die Gesundheitsbeeinträchtigungen auf psychiatrischem bzw. psychotherapeutischem Fachgebiet stünden jedoch im Vordergrund und beeinträchtigten die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben. Die Einschränkung könne durch eine ambulante verhaltenstherapeutische Langzeitbehandlung und eine begleitende Adipositasbehandlung wahrscheinlich wesentlich gemildert werden. Bislang hätten lediglich berufliche Reha-Maßnahmen stattgefunden, eine ausreichende psychische Behandlung sei noch nicht erfolgt. Am erfolgversprechendsten sei jedoch eine Kombination stationärer und ambulanter Maßnahmen. Eine stationäre Adipositasbehandlung mit ihrem multi-modalen Setting und intensiven Behandlungsangebot könne gerade in einem solch schwierigen Fall Behandlungsmotivation und Durchhaltevermögen entscheidend stärken und so die Voraussetzungen für einen langfristigen Behandlungserfolg verbessern, allerdings nur, wenn die erforderliche langfristige ambulante Nachbehandlung stattfinde. Hierfür sei das Optifast 52-Programm der Universitätsklinik in J. am besten geeignet, weil hier eine engmaschige Betreuung für ein Jahr sichergestellt sei und auch danach noch an den Gruppen teilgenommen werden könne. Zusätzlich müsse eine ambulante Verhaltenstherapie erfolgen.

15

Hierauf hat die Beklagte unter dem 20.04.2010 mitgeteilt, dass sie von einem drei bis unter sechsstündigem Leistungsvermögen des Klägers ausgehe. Mit Hilfe einer stationären Rehabilitationsmaßnahme sei es auf Grund der Erkrankungsschwere nicht möglich, sofort im Anschluss an die Maßnahme ein mindestens sechsstündiges Leistungsvermögen zu erreichen. Die von der Sachverständigen für erforderlich gehaltenen Maßnahmen fielen in den Leistungskatalog der Krankenkasse. Vergleichsweise sei die Beklagte bereit, die Kosten für ein Vorstellungsgespräch in der Seeparkklinik in Bad O. zur Klärung zu übernehmen, ob ein Behandlungsbündnis möglich sei und die Prognose einzuschätzen. Bei positivem Votum sei die Beklagte bereit, ein Heilverfahren durchzuführen.

16

Das Gericht hat die Beteiligten unter dem 26.04.2010 darauf hingewiesen, dass ein als Weiterleitung des Antrages auszulegender Kontakt der Beklagten mit der Krankenkasse des Klägers nicht ersichtlich sei.

17

Der Kläger hat sich am 02.06.2010 in der Seeparkklinik in P. vorgestellt. In dem Bericht der Frau Dr. Q. vom 03.06.2010 heißt es abschließend:

"Im Gespräch mit dem Patienten wurde deutlich, dass bei der schwersten Adipositas (160 kg bei 190 cm) dringend eine stationäre Behandlung zur Gewichtsreduktion indiziert ist, um das erhöhte Herz-Kreislauf-Risiko zu senken. Außerdem muss eine intensive psychotherapeutische Bearbeitung der Essstörung erfolgen."

18

Hierauf hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 23.06.2010 mitgeteilt, dass das Leistungsvermögen des Klägers derzeit und voraussichtlich bis Juni 2012 aufgehoben sei und eine wesentliche Verbesserung des Leistungsvermögens durch eine medizinische Rehabilitation nicht erreicht werden könne. Folglich bestehe kein Rehabilitationsbedarf. Vorrangig sei eine stationäre Krankenhausbehandlung sowie die empfohlene ambulante psychotherapeutische Behandlung, die beide als Krankenhausbehandlungen im Sinne des § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bzw. Nr. 5 SGB V darstellten.

19

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, und die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der Verhandlung und Entscheidungsfindung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

20

Die zulässige Klage hat Erfolg.

21

Die angefochtenen Entscheidungen der Beklagten sind rechtswidrig und verletzten den Kläger in seinen Rechten.

22

Der Kläger hat im ausgesprochenen Umfang Anspruch auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation mit dem Ziel der Reduzierung seines Körpergewichts aus den § 9 Abs. 1 und 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI).

23

1.

Die Beklagte ist für die Entscheidung über die beantragten Rehabilitationsleistungen zuständig. Der Kläger hat bei der Beklagten am 23.07.2007 einen Antrag auf Rehabilitationsleistungen gestellt. Dieser ist von der DAK - wie sich aus der Aufnahme der Daten in das bei den Rentenversicherungsträgern üblichem Formular ergibt - nicht in eigener Zuständigkeit, sondern nur mit Wirkung für die Beklagte aufgenommen worden. Damit gilt der Antrag des Klägers damit an diesem Tage als gestellt (siehe § 16 Abs. 2 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I)) und hätte eigentlich unverzüglich an die Beklagte weitergeleitet werden müssen. Da der Kläger folglich zu diesem Zeitpunkt keine Rehabilitationsleistungen bei der I. beantragt hat, kann offen bleiben, ob in der weiteren Übersendung des Antrages von der Deutschen R. an die Beklagte eine Prüfung und Weiterleitung i.S.d. § 14 Abs. 1 Satz 1 und 2 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) oder eine schlichte Weiterversendung liegt, weil die Beklagte jedenfalls als zweitangegangener Träger entscheidungszuständig ist.

24

2.

Bei der erstrebten Maßnahme handelt es sich auch um eine Maßnahme der medizinischen Rehabilitation. Der Ansicht der Beklagten, die gewünschte Adipositasbehandlung sei eine Akutkrankenbehandlung, die in die Zuständigkeit der Krankenkasse des Klägers falle, vermag das Gericht nicht zu überzeugen.

25

Eine Krankenhausbehandlung geht über den Umfang einer stationären Rehabilitation deutlich hinaus, wenn auch die Grenzen nicht immer eindeutig zu ziehen sind. Sie ist eine komplexe Gesamtleistung mit einer Vielzahl von Maßnahmen, die im Rahmen einer medizinischen Rehabilitation entweder überhaupt nicht oder nicht in dieser Weise, insbesondere dieser Kombination oder Konzentration, ergriffen werden können (vgl. BSG, Urteil vom 10.04.2008 - B 3 KR 14/07 R - [Rn. 17]). Eine Krankenhausbehandlung setzt grundsätzlich voraus, dass die Behandlung primär dazu dient, eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern (vgl. § 27 Abs. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch [SGB V]), und dass gerade bezogen auf eines dieser Behandlungsziele die besonderen Mittel eines Krankenhauses erforderlich sind. Als solche Mittel hat die Rechtsprechung insbesondere die apparative Mindestausstattung des Krankenhauses, besonders geschultes Pflegepersonal und einen jederzeit präsenten bzw. rufbereiten Arzt herausgestellt. Die Abgrenzung zwischen Krankenhausbehandlung und stationärer Rehabilitationsmaßnahme erfolgt dabei anhand einer Gesamtbetrachtung (st. Rspr. des BSG, zuletzt Urteil vom 16.02.2005 - B 1 KR 18/03 R - m. zahlr. w. N. [Rn. 22]). Hierbei ist bei der (Mit-)Behandlung psychischer Gesundheitsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen, dass der Einsatz von krankenhausspezifischen Gerätschaften dabei von vorn herein in den Hintergrund tritt. Insofern kann die Abgrenzung zwischen stationärer Rehabilitation und Krankenhausbehandlung bei psychiatrisch behandlungsbedürftigen Versicherten im Wesentlichen nur nach der Art der Einrichtung, den Behandlungsmethoden und dem Hauptziel der Behandlung getroffen werden, die sich auch in der Organisation der Einrichtung widerspiegeln. Das BSG hat insoweit unter Hinweis auf § 107 SGB V zu Recht ausgeführt, für eine Rehabilitationseinrichtung sei insbesondere kennzeichnend, dass die Behandlungsziele nach einem ärztlichen Behandlungsplan vorwiegend durch Anwendung von Heilmitteln einschließlich Krankengymnastik, Bewegungstherapie, Sprachtherapie oder Arbeits- und Beschäftigungstherapie zu verfolgen seien. Demgegenüber sei ein Krankenhaus mit jederzeit verfügbaren ärztlichem, Pflege-, Funktions- und medizinisch-technischem Personal darauf eingerichtet, die Behandlungsziele vorwiegend durch ärztliche und pflegerische Hilfeleistungen zu erbringen. Die Zuordnung einer Versorgung entweder zum Sektor der Krankenhausbehandlung oder zu dem der stationären Rehabilitation hänge deshalb weitgehend von der Intensität der ärztlichen Tätigkeit und den verfolgten Behandlungszielen ab. Wichtige Anhaltspunkte könnten dabei die Behandlungsleitlinien der medizinischen Fachgesellschaften geben (BSG, Urteil vom 10.04.2008 - B 3 KR 14/07 R - [Rn. 19 f.]).

26

Die derzeit aktuellen Behandlungsleitlinien für Adipositas-Patienten sehen jedoch - soweit nicht danach eine ambulante Behandlung ausreicht - eine Behandlung in einer stationären Rehabilitationseinrichtung, nicht jedoch in einem Akutkrankenhaus vor. Weder die von der Deutschen Adipositas Gesellschaft herausgegebene Leitlinie "Adipositastherapie in Reha-Kliniken" vom 17.10.2003 noch die von mehreren Fachgesellschaften veröffentlichte Leitlinie "Prävention und Therapie der Adipositas" vom 25.05.2007 (beide www.adipositas-gesellschaft.de/leitlinien.php) enthalten - mit Ausnahme der chirurgischen Therapie - eine Indikation für eine stationäre (Akut )Krankenhausbehandlung. Vielmehr umfasst die Adipositastherapie überwiegend nichtärztlich erbrachte Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapieanteile (siehe insbesondere Abschnitte 2.1 und 6 der Leitlinie "Adipositastherapie in Reha-Kliniken" und Abschnitt 6.4. der Leitlinie "Prävention und Therapie der Adipositas").

27

3.

Die materiellen Voraussetzungen für die Bewilligung der zuerkannten Rehabilitationsleistungen sind erfüllt.

28

Nach § 9 Abs. 1 SGB VI erbringt die Rentenversicherung Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, um den Auswirkungen einer Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit der Versicherten entgegenzuwirken oder sie zu überwinden und dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wiedereinzugliedern. Die Leistungen zur Teilhabe haben Vorrang vor Rentenleistungen, die bei erfolgreichen Leistungen zur Teilhabe nicht oder voraussichtlich erst zu einem späteren Zeitpunkt zu erbringen sind.

29

Gemäß § 9 Abs. 2 SGB VI können die Leistungen nach Absatz 1 erbracht werden, wenn die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen dafür erfüllt sind.

30

Neben den versicherungsrechtlichen Voraussetzungen gemäß § 11 SGB VI sind die - auch zwischen den Beteiligten einzig umstrittenen - persönlichen Voraussetzungen erfüllt.

31

Nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b SGB VI sind die persönlichen Voraussetzungen für eine Rehabilitationsleistung für Versicherte erfüllt, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist und bei denen voraussichtlich bei geminderter Erwerbsfähigkeit diese durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation wesentlich gebessert oder wiederhergestellt oder hierdurch deren wesentliche Verschlechterung abgewendet werden kann.

32

a)

Die Erwerbsfähigkeit des Klägers ist gemindert.

33

Der Begriff der - im Gesetz nicht definierten - Erwerbsfähigkeit ist als Fähigkeit des Versicherten zu verstehen, seinen bisherigen Beruf oder seine bisherige Tätigkeit weiter ausüben zu können. Nicht hingegen sind die Kriterien anwendbar, die für die Erfüllung der Leistungsvoraussetzungen für eine Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit (Erwerbsminderung) maßgebend sind (LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 17.11.2005 - L 10 RJ 345/04 -; BSG, Urteil vom 29.03.2006 - B 13 RJ 37/05 R - m. zahlr. w. N.).

34

Der Kläger kann den zuletzt ausgeübten Beruf des Lagerarbeiters nicht mehr ausüben. Dies ergibt sich bereits aus der Begutachtung des Herrn K., der die Leistungsfähigkeit des Klägers auf leichte körperliche Tätigkeiten überwiegend im Sitzen beschränkt hatte. Insoweit ist auch zwischen den Beteiligten keine Uneinigkeit ersichtlich.

35

Folglich kommt es hier auch nicht darauf an, inwieweit die - erheblich differierenden - Stellungnahmen der Beklagten zum zeitlichen Umfang der Leistungsfähigkeit des Klägers im Erwerbsleben überzeugen.

36

b)

Die Rehabilitation ist im ausgesprochenen Umfang erforderlich.

37

Die Erwerbsfähigkeit kann durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation wesentlich gebessert werden, jedenfalls aber eine weitere Verschlechterung abgewendet werden.

38

In dieser Ansicht stützt sich die Kammer auf das eingeholte psychiatrische Gut-achten der Frau N. vom 19.02.2010. Das Gericht hat die Ausführungen der Sach-verständigen überprüft und in eigener Würdigung nachvollzogen; hiernach ist den medizinischen Beurteilungen uneingeschränkt zuzustimmen. Die Feststellungen der Sachverständigen sind in sich schlüssig und insbesondere hinsichtlich der geäußerten prognostischen Einschätzung zum Behandlungsverlauf und zum besonderen Erfolgspotenzial einer stationären Therapie plausibel.

39

Für die Erfolgsaussicht spricht auch, dass der Kläger bereits Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation über eine längere Phase erfolgreich bewältigt hat. Da er bislang keine stationäre Leistung zur Adipositasbehandlung erhalten hat, kann auch nicht überzeugend eingewandt werden, dass die Erfolgsaussicht einer solchen Therapie wegen ihrer begrenzten Dauer gering sei, zumal diese Beurteilung die für den Erfolg unverzichtbare ambulante Nachbetreuung unberücksichtigt ließe. In diesem Zusammenhang erscheint es dem Gericht besonders bedenklich, dass der Sachverständige K. ein stationäres Heilverfahren mit dem Ziel, das Körpergewicht zu senken, für wenig Erfolg versprechend hielt, obwohl ihm nach eigenem Bekunden die für eine Prognose notwendigen Befunde fehlten.

40

Soweit die Beklagte einwendet, die stationäre Therapie müsse umgehend nach Abschluss der stationären Rehabilitation zur Verbesserung der Erwerbsfähigkeit führen, ist dem nicht zu folgen.

41

Hiergegen spricht bereits der Gesetzeswortlaut, der es genügen lässt, dass eine Verschlechterung der Erwerbsfähigkeit abgewendet werden kann. Entscheidend und ausreichend ist vielmehr, dass nach ärztlicher Beurteilung bei Durchführung eines abgestimmten Behandlungskonzepts damit in absehbarer Zeit gerechnet werden kann, dass die Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 10 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI positiv beeinflusst werden kann. Andernfalls wäre die Beklagte jeder Leistungspflicht für Maßnahmen enthoben, deren Erfolgspotenzial wesentlich auf einer stationären "Weichenstellung" mit anschließender ambulanter Behandlungsfortführung fußt.

42

4.

Das der Beklagten grundsätzlich nach § 13 Abs. 1 Satz 1 SGB VI zustehende Ermessen ist hier in Bezug auf die stationäre Adipositastherapie und die diese sichernde ambulante Nachbehandlung einschließlich der hierfür erforderlichen Nachbehandlung der psychischen Gesundheitsbeeinträchtigungen reduziert.

43

Auf Grund der überzeugenden Ausführungen der vom Gericht gehörten Sachverständigen N. ist die Kammer der Auffassung, dass eine stationäre Rehabilitation unter Einschluss einer Adipositastherapie, mit der insoweit notwendigen Nachbehandlung, die auch die psychiatrische Behandlung der Essstörung des Klägers umfasst, in einem so deutlichen Maße erfolgversprechender ist, dass jede andere Bewilligung rechtswidrig erscheinen müsste.

44

Die Voraussetzungen für eine weitergehende Verurteilung sind jedoch nicht gegeben. Weder ist ersichtlich, dass allein eine Zuweisung in eine "Adipositas-Klinik" erfolgen müsste, noch erscheint es geboten, dass die Beklagte für die Behandlung auch der weiteren Gesundheitsbeeinträchtigungen auf psychiatrischem Fachgebiet - Persönlichkeitsstörung nach Extrembelastung, soziale Phopie - aufzukommen hätte, zumal diese der Erwerbstätigkeit des Klägers längere Zeit nicht entgegen gestanden haben.

45

5.

Die Beklagte wird deshalb letztlich nur über die weitere Ausgestaltung der Rehabilitationsmaßnahme unter Ausübung ihres pflichtgemäßen Ermessens nach § 13 Abs. 1 Satz 1 SGB VI zu entscheiden haben.

46

Bei der Auswahl des Inhalts und der Einrichtung wird sie alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen und die Ermessenserwägungen in der Entscheidung erkennbar darzulegen haben. Dabei wird sie wesentlich die Therapieempfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften und die Beurteilung der vom Gericht gehörten Sach-verständigen - insbesondere zu den besonderen Vorzügen des in Wohnortnähe des Klägers angebotenen Optifast52-Programms - einzubeziehen haben.

47

Für den Fall, dass die Beklagte bei ihrer Entscheidung von diesen Therapieempfehlungen und/oder dem Sachverständigengutachten wesentlich abweichen möchte, weist das Gericht vorsorglich bereits jetzt auf folgendes hin: Angesichts des breiten Konsenses, der den zitierten wissenschaftlichen Leitlinien zugrunde liegt und der großen medizinischen Sachkunde der vom Gericht gehörten Sachverständigen wird die Beklagte diese nicht lediglich mit einer beratungsärztlichen Stellungnahme, sondern allenfalls mit einem ausführlichen Gutachten eines geeigneten Sachverständigen entgegentreten können.

48

Die Therapieziele und die zur Erreichung notwendigen Therapieinhalte sind sodann zumindest zusammenfassend zu beschreiben. Angemessenen Wünschen des Klägers soll bei der Entscheidung über die Therapieeinrichtung ebenfalls Rechnung getragen werden (§§ 33 S. 2 SGB I, 9 SGB IX), wenngleich schon jetzt darauf hinzuweisen ist, dass diese in der Regel in § 15 Abs. 2 Satz 1 SGB VI ihre Grenzen finden.

49

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG. Das Gericht hat der Beklagten die Erstattung aller notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers auferlegt. Trotz der zum Teil nur auf Neubescheidung gerichteten Verurteilung hat der Kläger weit überwiegend mit seinem Begehren Erfolg (Rechtsgedanke des § 92 Abs. 2 Nr. 1 Zivilprozessordnung [ZPO]).

E.