Sozialgericht Hildesheim
Urt. v. 30.09.2010, Az.: S 26 AS 578/07

Gesonderte Erbringung von Leistungen für mehrtägige Klassenfahrten i.R.d. schulrechtlichen Bestimmungen außerhalb der Regelleistung nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II); Bestimmung des Begriffs der Klassenfahrt i.R.d. schulrechtlichen Bestimmungen

Bibliographie

Gericht
SG Hildesheim
Datum
30.09.2010
Aktenzeichen
S 26 AS 578/07
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2010, 32087
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGHILDE:2010:0930.S26AS578.07.0A

Fundstelle

  • ZfSH/SGB 2010, 752-754

Tenor:

  1. 1.

    Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 18.01.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.04.2007 verurteilt, an die Klägerin 310,- EUR zu zahlen.

  2. 2.

    Der Beklagte hat der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

  3. 3.

    Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Übernahme der Kosten für eine Studienreise der Klägerin nach G. im Rahmen eines Leistungsverhältnisses nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Die 1992 geborene Klägerin ist seit dem Schuljahr 2004/2005 Schülerin des Realschulzweiges der H. Schule in I ... Das Schulanmeldeformular vom 10.06.2004 enthält unmittelbar vor der Unterschriftszeile den Hinweis "Fester Bestandteil unseres Schulprogramms ist eine Sprachreise nach G. im 9. Jahrgang. Mit Ihrer Anmeldung akzeptieren Sie diese Fahrt.". Das Schulprogramm der Schule enthielt im Abschnitt 5 "Schulinterne Fahrten/Freizeiten" einen längeren Abschnitt 5.2 "Sprachreise nach G. ", der den einwöchigen Aufenthalt in J. vorrangig beschreibt und als Ziel in erster Linie die Verbesserung der Sprachkompetenzen benennt. Ab August 2006 besuchte die Klägerin die neunte Klasse. Im September 2006 informierte die Schulleitung die Eltern über die im Zeitraum vom 18. - 23.03.2007 vorgesehene einwöchige Studienfahrt nach G ... In dieser Mitteilung heißt es "Für die 9. Realschulklasse ist die Fahrt Teil unseres Schulprogramms und darum erwarten wir, dass die Klasse auch geschlossen an der Fahrt teilnimmt.". Am 16.01.2007 beantragte die durch ihre Mutter vertretene Klägerin bei dem Beklagten die Übernahme der Kosten für die Studienfahrt. Mit Bescheid vom 18.01.2007 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Bei der beantragten Reise handele es sich nicht um eine Klassenfahrt im Sinne des § 23 Abs. 3 SGB II. Den hiergegen erhobenen Widerspruch der Klägerin - die an der Studienfahrt nach Zahlung eines Betrages von 310,- EUR teilnahm - begründete die Klägerin mit der Bescheinigung der Schulleiterin vom 30.01.2007, in der es heißt " [ ] bestätige ich, dass die Klasse 9 RS in diesem Schuljahr keine Klassenfahrt durchführt, so dass unsere Studienreise an die Stelle einer Klassenfahrt tritt. Es wäre für [die Klägerin, Ergänz. d. Ger.] äußerst wünschenswert, wenn sie teilnehmen könnte.". Der Beklagte wies mit Bescheid vom 02.04.2007 zurück. Nach dem Runderlass des Niedersächsischen Kultusministeriums könnten die Kosten für Schulfahrten ins Ausland nur bei Abschlussklassen der Sekundarstufe I übernommen werden. Hiergegen richtet sich die Klage. Die Klägerin hat weitere Bestätigung der Schulleiterin vom 05.07.2007 vorgelegt, in der diese schreibt "Diese Fahrt ist Bestandteil unseres Schulprogramms. Sie wird im Englischunterricht vorbereitet und auch ausgewertet. Diese Auswertung wird auch bewertet, so dass eine Nichtteilnahme durchaus eine Benachteiligung der Schülerin darstellen kann." Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 18.01.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.04.2007 zu verurteilen, an die Klägerin 310,- EUR zu zahlen.

2

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

3

Er hält die Klage für unzulässig, weil nicht ersichtlich sei, wogegen sich die Klage richte. Er beruft sich auf die Bestimmungen des zum Niedersächsischen Schulgesetz ergangenen Runderlasses. Auf Anfrage des Gerichts hat die Schulleiterin der H. Schule unter dem 07.03.2008 das Schulprogramm übersandt und mitgeteilt, die Fahrt werde für den 9. Jahrgang der Realschule verbindlich durchgeführt. Sie werde im Unterricht vorbereitet und anschließend ausgewertet. Das Referat o. ä. trete dabei nach Beschluss der Fachkonferenz an die Stelle einer der zu zensierenden schriftlichen Arbeiten. Die Fahrt unterliege nicht den Bestimmungen für Schulfahrten. Die Klägerin hat nachfolgend eine weitere Stellungnahme der Schulleiterin vom 08.12.2008 vorgelegt. Die Sprachreise nach G. sei eine Schulfahrt im Sinne des Runderlasses. Das anschließend zu verfassende Reisetagebuch sei Teil der Gesamtbenotung im Fach Englisch. Das Verhalten während der Fahrt nehme Einfluss auf die Bewertung des Sozialverhaltens. Die Beteiligten haben sich mit Schriftsätzen vom 08.06.2010 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

4

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen, die Gegenstand der Verhandlung und Entscheidungsfindung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

5

Die Kammer kann durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 SGG). Die Mitteilung des Beklagten, er sei mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung "durch Gerichtsbescheid" einverstanden, ist dabei nicht im Sinne einer entsprechenden Beschränkung zu verstehen, vielmehr im Sinne einer Zustimmung und (vorsorglichen) Erweiterung (im Sinne von "im Falle der fehlenden Zustimmung der Klägerin auch durch Gerichtsbescheid"). Die Anfechtungs- und Leistungsklage ist zulässig. Die Klageschrift bezeichnet die angefochtene Entscheidung nach ihrem Datum, so dass der Klagegegenstand nicht zweifelhaft ist. Sie hat auch Erfolg. Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 18.01.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.04.2007 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Sie hat Anspruch auf Übernahme der von ihr aufgewendeten Kosten von 310,- EUR für die Klassenfahrt nach G ... Nach§ 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB II sind Leistungen für mehrtägige Klassenfahrten im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen nicht von der Regelleistung umfasst. Sie werden gesondert erbracht, § 23 Abs. 3 Satz 2 SGB II. Die streitgegenständliche Fahrt nach G. ist eine Klassenfahrt in diesem Sinne. Der Begriff der "Klassenfahrt im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen" im Sinne des § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 SGB II ist nach den landesrechtlichen Schulgesetzen auszulegen (BSG, Urteil vom 13. November 2008 - B 14 AS 36/07 R [Rn. 15]). Er kann als Oberbegriff auch Wandertage, Studienfahrten, Schullandheimaufenthalte umfassen (vgl. LSG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 25. September 2008, - L 8 AS 38/08 - [[...] Rn. 37]. Das Niedersächsische Schulgesetz (NSchG) vom 3. März 1998 in der vom 01.01.2007 bis 31.07.2007 geltenden Fassung enthält keine Definition des Begriffs der "Klassenfahrt". Lediglich in den §§ 71 Abs. 1 S. 2, 113 Abs. 4 NSchG, die die Ausstattungspflicht der Schulträger und den damit einhergehenden Sachkosten betreffen, werden "Schulfahrten" überhaupt erwähnt, aber nicht nach Merkmalen näher bestimmt. Zur Abgrenzung kann jedoch auch der Runderlass des niedersächsischen Kultusministeriums vom 10. Januar 2006 (- 35 - 82 021, SVBl. S. 38) herangezogen werden. Dieser beschreibt zu Nr. 1 Satz 1 Schulfahrten als Schulveranstaltungen, mit denen definierte Bildungs- und Erziehungsziele verfolgt werden; dazu zählten auch Schüleraustauschfahrten und Schullandheimaufenthalte. Die Sprachreise nach G. war eine Schulfahrt in diesem Sinne. Sie war wesentlicher Teil des Unterrichtsstoffs des neunten Schuljahres. Dies folgt bereits aus dem Schulprogramm und den verschiedenen Mitteilungen der Schulleiterin der H. -Schule, insbesondere dass das Reisetagebuch an die Stelle einer schriftlichen Arbeit trat. Die im Erlass enthaltenen weiteren Regelungen, auf die sich der Beklagte teilweise beruft, stehen dieser Zuordnung nicht entgegen. Zwar können nach Nr. 2.1.3 Satz 1 des Runderlasses für Schulfahrten ins Ausland zusätzlich zu Nr. 2.1.2 des Erlasses bei Abschlussklassen des Sekundarbereichs I (einschließlich der 10. Klassen von Gymnasien und Gesamtschulen) bis zu acht Unterrichtstage in Anspruch genommen werden. Diese Voraussetzung ist für die Klägerin nicht erfüllt, weil die Fahrt im neunten Schuljahr stattfand und somit keine Schulfahrt einer Abschlussklasse ist. Auch ist nach Abschnitt 5.1 neben den Schulfahrten nach Nr. 2 in den Sekundarbereichen I und II nur jeweils eine Schüleraustauschfahrt in das Ausland bis zu 14 Tagen zulässig, wenn a) der Fahrt der Besuch einer ausländischen Schülergruppe vorangegangen ist oder folgt, b) sichergestellt ist, dass bei den teilnehmenden Schülerinnen und Schülern ausreichende Kenntnisse einer gemeinsamen Sprache vorliegen und c) die Fahrt in Zusammenarbeit mit einer Schule, einer Berufsbildungsstätte oder einem Betrieb des Herkunftslandes der ausländischen Schülergruppe stattfindet. An dem Besuch einer ausländischen Schülergruppe fehlt es hier ebenso wie an der Zusammenarbeit mit einer ausländischen Schule, einer Berufsbildungsstätte oder einem Betrieb. Die Kammer hält es jedoch für die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals der Klassenfahrt auch unter Berücksichtigung des Zusatzes "im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen" für ausreichend, dass die jeweilige Veranstaltung nach Inhalt und Zweckrichtung dem Bild der soeben definierten Schulfahrt entspricht. Ob die weitere Ausgestaltung der Schulfahrt (Zeitpunkt der Durchführung, Länge der Reise, Teilnehmerkreis) mit dem Runderlass zu vereinbaren ist, ist dagegen eine die Verantwortlichkeit der Schulleitung betreffende Frage. Die im Falle einer solchen Beschränkung zu erfüllenden Voraussetzungen sind weder von den hilfebedürftigen Schüler noch von seinen Eltern, aber auch vom Grundsicherungsträger nicht ohne Weiteres festzustellen; gerade die sich einander teils widersprechenden Äußerungen der Schulleitung zeigen die hierbei auftretenden Probleme augenfällig auf. Hieraus folgt nun aber nicht, dass der Beklagte die Kosten sämtlicher als Schulfahrten zu betrachtender Reisen zu übernehmen hätte. Vielmehr ist insoweit die zu § 12 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) ergangene verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung ergänzend heranzuziehen (so bereits SG Hildesheim, Beschluss vom 27.08.2009 - S 43 AS 1050/09 ER -). Danach soll die Übernahme der Kosten von mehrtägigen Klassenfahrten die Ausgrenzung eines hilfebedürftigen Schülers für den Fall seiner Nichtteilnahme verhindern (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Februar 1995, - 5 C 2/93 -, vgl. auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 3. Juli 2008 - L 13 AS 20/06 -). Damit ist hier - wie in jedem Einzelfall - zu prüfen, ob für die Klägerin eine Teilnahme an der Veranstaltung wie bei allen anderen Schülern ihres Klassenverbandes vorgesehen ist bzw. in vergleichbarer Weise vorausgesetzt wird und eine Nichtteilnahme zur Ausgrenzung wegen der Bedürftigkeit führen würde. Dies wäre nach Überzeugung der Kammer der Fall gewesen. Die Klägerin hatte - wie auch alle anderen bedürftigen oder nicht bedürftigen Schüler der gleichen Jahrgangsstufe - letztlich keine andere Wahl, als die Sprachreise zu unternehmen. Bereits der in der Schulanmeldung enthaltene Passus "Fester Bestandteil unseres Schulprogramms ist eine Sprachreise nach G. im 9. Jahrgang. Mit ihrer Anmeldung akzeptieren Sie diese Fahrt." bringt nicht nur eine große Erwartungshaltung der Schulleitung, sondern auch den großen Stellenwert der Fahrt im pädagogischen Gesamtgefüge zum Ausdruck. Hierin dürfte zwar keine durchsetzbare Verpflichtung zur Teilnahme liegen. Insbesondere bestimmt auch Nr. 6.2 des bereits benannten Runderlasses, dass die Teilnahme an Schulfahrten mit Übernachtung für die Schülerinnen und Schüler freiwillig ist und Schülerinnen und Schüler, die an Fahrten ihrer Klasse oder Gruppe nicht teilnehmen, in dieser Zeit nach Anweisung der Schule andere Unterrichtsveranstaltungen besuchen müssen. Eine Ausgrenzung ist jedoch nicht nur bei der Nichtteilnahme an Maßnahmen zu befürchten, zu denen ein Schüler rechtlich verpflichtet ist. Da das Merkmal der Ausgrenzung an soziale Prozesse anknüpft, kann es nicht auf bestehende oder fehlende Rechtspflichten ankommen. Vielmehr genügt es für eine Ausgrenzung, dass der hilfebedürftige Schüler bei einer Nichtteilnahme zumindest vorübergehend Nachteile im Klassenverband zu befürchten gehabt hätte. Dies kann hier bereits aus der "Verpflichtung" im Anmeldebogen erschlossen werden. Es folgt aber aus daraus, dass nach Mitteilung der Schulleiterin der H. -Schule vom 08.12.2008 das zu verfassende Reisetagebuch Teil der Gesamtbenotung im Fach Englisch und das Verhalten während der Fahrt Einfluss auf die Bewertung des Sozialverhaltens nahm, so dass der Klägerin bei einer Nichtteilnahme wegen ihrer Bedürftigkeit in einem Teilbereich die Möglichkeit genommen gewesen wäre, ihre Leistungschancen wahrzunehmen.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

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Die Berufung wird zugelassen, weil durch das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen - soweit ersichtlich - nicht entschieden wurde, ob eine "Klassenfahrt im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen" nur dann vorliegt, wenn diese alle Voraussetzungen der zur Ausfüllung des Niedersächsischen Schulgesetzes ergangenen Verwaltungsvorschrift - hier des Runderlasses des niedersächsischen Kultusministeriums vom 10. Januar 2006 - erfüllt.