Sozialgericht Hildesheim
Beschl. v. 14.06.2010, Az.: S 7 AL 1569/10 ER
Auszahlung von Arbeitslosengeld für einen wegen einer festgestellten Sperrzeit noch nicht bewilligten Zeitraum im Wege des Eilrechtsschutzes; Vorläufige Bewilligung von Arbeitslosengeld für den streitgegenständlichen Zeitraum i.R.d. Widerspruchsverfahrens als Anerkenntnis; Konsequente Nichtbeachtung von richterlichen Hinweisen und ausdrückliches Festhalten an einem unstatthaften Antrag sowie vorläufige Bewilligung von Arbeitslosengeld als Grund für die Kostenerstattungspflicht
Bibliographie
- Gericht
- SG Hildesheim
- Datum
- 14.06.2010
- Aktenzeichen
- S 7 AL 1569/10 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2010, 32298
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGHILDE:2010:0614.S7AL1569.10ER.0A
Verfahrensgang
- nachfolgend
- LSG Stuttgart - AZ: L 8 AL 3352/10 ER-B
Rechtsgrundlagen
- § 86b Abs. 1 SGG
- § 86b Abs. 2 SGG
- § 144 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB III
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Begehrt der Antragsteller im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Auszahlung von Arbeitslosengeld für einen Zeitraum, für den die Antragsgegnerin wegen einer nach § 144 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB III festgestellten Sperrzeit noch keine Leistungen bewilligt hat, so ist allein ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86 b Abs. 2 SGG statthaft.
- 2.
Die vorläufige Bewilligung von Arbeitslosengeld für den streitgegenständlichen Zeitraum durch die Antragsgegnerin im Rahmen des Widerspruchsverfahrens stellt dementsprechend auch kein (konkludentes) Anerkenntnis eines nicht statthaften Antrages nach § 86 b Abs. 1 SGG dar.
- 3.
Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist unzulässig, wenn im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung kein Rechtsschutzbedürfnis (mehr) besteht. Dabei ist es unerheblich, ob dieses zu Beginn des gerichtlichen Eilverfahrens (noch) bestand.
- 4.
Einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel, die Auszahlung von Arbeitslosengeld zu erreichen, fehlt es regelmäßig am Anordnungsgrund, wenn der Antragsteller nicht glaubhaft macht, dass er zuvor erfolglos einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II gestellt hat.
- 5.
Verschließt sich der anwaltlich vertretene Antragsteller konsequent jedem richterlichen Hinweis und hält insbesondere ausdrücklich an dem unstatthaften Antrag nach § 86 b Abs. 1 SGG fest, so begründet auch die vorläufige Bewilligung von Arbeitslosengeld (s. Nr. 2) keine Kostenerstattungspflicht der Antragsgegnerin im gerichtlichen Eilverfahren, da der einstweilige Rechtsschutzantrag in jedem Fall ohne Erfolg geblieben wäre. Eine Auslegung des Antrages nach § 123 SGG (entsprechend) ist in diesem Fall nicht angezeigt.
Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe; einstweiliger Rechtsschutz; statthafter Antrag bei Sperrzeit zu Beginn des Leistungszeitraumes - Auslegung ausdrücklich durch Rechtsanwalt aufrechterhaltener Anträge; Erforderlichkeit des Rechtsschutzbedürfnisses im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung; außergerichtliche Kosten; Anordnungsgrund - Vorrang von Leistungen nach dem SGB II; konkludentes Anerkenntnis
Tenor:
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung wird abgelehnt.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt (weiterhin) die Anordnung der Aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs vom 30.04.2010 gegen einen Sperrzeitbescheid der Antragsgegnerin vom 27.04.2010.
Das letzte Arbeitsverhältnis des Antragstellers wurde mit Schreiben vom 31.03.2010 fristlos gekündigt. Am 12.04.2010 meldete sich der Antragsteller bei der Antragsgegnerin persönlich arbeitssuchend; den vollständigen Antrag auf Arbeitslosengeld (ALG) gab er am 26.04.2010 ab.
Mit Bescheid vom 27.04.2010 stellte die Antragsgegnerin fest, dass vom 01.04.2010 bis zum 23.06.2010 eine Sperrzeit nach § 144 SGB III eingetreten sei, der Anspruch des Antragstellers auf Arbeitslosengeld (ALG) für diese Zeit ruhe und aufgrund dieser Sperrzeit um 90 Tage gemindert werde. Zur Begründung führte sie an, der Antragsteller habe durch ein arbeitsvertragswidriges Verhalten Anlass für die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses gegeben und dadurch vorsätzlich oder grob fahrlässig die Arbeitslosigkeit herbeigeführt (Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe), indem er unbefugt Firmeneigentum veräußert habe.
[Unter gleichem Datum erließ die Antragsgegnerin einen weiteren Bescheid, der eine Sperrzeitfeststellung vom 24.06.2010 bis zum 30.06.2010 wegen verspäteter Arbeitssuchendmeldung beinhaltete. Gegen die sofortige Vollziehbarkeit dieses Bescheides wendet sich der Antragsteller in dem ebenfalls bei dem Sozialgericht Heilbronn geführten Verfahren S 7 AL 1568/10 ER]
Am 27.04.2010 erging weiter der Bewilligungsbescheid der Antragsgegnerin hinsichtlich des ALG. Dort wurde entschieden, dass der Antragsteller ab dem 01.07.2010 bis zum 23.11.2010 einen Anspruch auf ALG i.H.v. 58,65 EUR täglich hat. Für den Zeitraum 12.04.2010 bis 30.06.2010 wurden entsprechend den o.g. Sperrzeitbescheiden keine Leistungen bewilligt.
Gegen die in diesem Verfahren maßgebliche Sperrzeitfeststellung vom 27.04.2010 für den Zeitraum vom 01.04.2010 bis zum 23.06.2010 legte der Antragsteller unter dem 30.04.2010 Widerspruch ein.
Über diesen entschied die Antragsgegnerin durch Abhilfebescheid sowie Änderungsbescheid vom 07.06.2010. Dort wurde geregelt, dass über die Sperrzeit wegen Arbeitsaufgabe für den Zeitraum 01.04.2010 bis 23.06.2010 erst nach Abschluss eines arbeitsgerichtlichen Verfahrens endgültig entschieden und das ALG für diesen Zeitraum zunächst vorläufig bewilligt wird.
Der Antragsteller hält - auch nach richterlichem Hinweis bzgl. statthafter Antragsart und Erforderlichkeit eines Rechtsschutzbedürfnisses - ausdrücklich an den gestellten Anträgen fest.
Er ist der Auffassung, die nunmehr vorliegende Bereitschaft der Antragsgegnerin, dem Antragsteller ALG auszuzahlen, ließe nicht "rückwirkend" das Rechtschutzbedürfnis entfallen. Sie stelle ein Anerkenntnis der Anträge dar. Die Antragsgegnerin habe Anlass zur Stellung der Anträge gegeben und sei daher auch zur Kostenerstattung verpflichtet.
Für die weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist unzulässig.
An dieser Stelle kann es zwar noch dahinstehen, ob der ausdrücklich gestellte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 30.04.2010 statthaft ist, oder der Antragsteller einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hätte stellen müssen.
Doch fehlt es jedenfalls an dem auch im Rahmen des Antrags nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis. Dieses liegt nur dann vor, wenn die erstrebte gerichtliche Entscheidung dem Antragsteller einen rechtlichen oder tatsächlichen Vorteil bringen kann (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. A., § 86b Rn. 7a). Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Nach der Entscheidung über die vorläufige Bewilligung durch die Antragsgegnerin auch für den Zeitraum, für den ursprünglich eine Sperrzeit und das Ruhen des Anspruchs auf ALG festgestellt wurde, kann der Antragsteller mit einer gerichtlichen Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht mehr erreichen, als ihm von Verwaltungsseite bereits zugesprochen wurde.
Freilich kann durch die Maßnahmen der Antragsgegnerin ein gegebenenfalls zu Beginn des Verfahrens noch vorhandenes Rechtsschutzbedürfnis nicht rückwirkend entfallen. Es kommt aber an dieser Stelle nicht darauf an, ob das Rechtsschutzbedürfnis von Anfang an bestand, sondern ob es zum Zeitpunkt der Entscheidung durch das Gericht noch besteht. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage - hier bzgl. der Zulässigkeit des Antrags - ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. A., § 86b Rn. 18).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. In der Regel ist es billig, dass derjenige die Kosten trägt, der unterliegt. Dabei sind alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen; es darf nicht nur auf das Ergebnis des Rechtsstreits abgestellt werden; das Gericht kann berücksichtigen, welcher Beteiligter Anlass für die Klageerhebung (Antragsstellung) gegeben hat (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. A., § 193 Rn. 12a).
Eine Abweichung von der Kostenverteilung entsprechend dem Verhältnis Obsiegen/Unterliegen war hier nicht angezeigt.
Entgegen der Ansicht des Antragstellers hat die Antragsgegnerin kein Anerkenntnis der Anträge abgegeben. Nach dem gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs vom 30.04.2010 gegen den Bescheid vom 27.04.2010 gemäß § 86b Abs.1 S. 1 Nr. 2 SGG wäre Konsequenz eines Anerkenntnisses die Aussetzung der Vollziehung gemäß § 86a Abs. 3 S. 1 SGG durch die Antragsgegnerin gewesen. Die Antragsgegnerin hat hier zunächst kein ausdrückliches Anerkenntnis abgegeben und weiter statt der Aussetzung der Vollziehung des angegriffenen Bescheides die erste Verwaltungsentscheidung im Rahmen des Widerspruchsverfahrens überprüft und durch eine neue ersetzt. Diese ist zwar für den Antragsteller günstiger als der vorige Zustand, doch beruht dies nicht auf dem im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gestellten Antrag.
Unterstellt man nämlich den Erfolg des vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzbegehrens, wäre die Vollziehung des Sperrzeitfeststellungsbescheides gehemmt worden. Das eigentliche Ziel des Antragstellers, die Auszahlung des ALG bereits ab dem 12.04.2010, hätte er jedoch auch damit nicht erreichen können. Die mit dem Bewilligungsbescheid vom 27.04.2010 getroffene Entscheidung über die Gewährung des ALG erst ab dem 01.07.2010 hätte dadurch keine Änderung erfahren.
Aus diesem und den folgenden Gründen war der Antrag auch nicht statthaft. Die Statthaftigkeit eines Antrags entweder nach § 86b Abs. 1 oder nach Abs. 2 SGG richtet sich nach der statthaften Klageart in der Hauptsache. Der Antrag nach § 86b Abs. 1 SGG ist nur statthaft, wenn der Antragsteller sich in der Hauptsache gegen die getroffene Verwaltungsentscheidung mit dem reinen Anfechtungswiderspruch oder der reinen Anfechtungsklage wehren kann (vgl. Binder in Lüdkte, SGG, 3. A., § 86b. Rn. 9; Wehrhahn in Breitkreuz/Fichte, SGG, 1. A. § 86b Rn. 9). Hier wäre also erforderlich, dass der Antragsteller eine bereits bestehende Rechtsposition verteidigen will (vgl. Wehrhan a.a.O., Rn. 10). Eben dieser Fall liegt hier nicht vor. Wird für die Dauer einer Sperrzeit der Anspruch auf ALG geltend gemacht und liegt für diesen Zeitraum noch kein Bewilligungsbescheid vor, ist allein die Anfechtungs- und Leistungsklage die richtige Klageart (vgl. Niesel in Niesel, SGB III, 4. A. § 144 Rn. 181 m.w.N.), da eine Bewilligung von ALG für den Sperrzeit gerade noch nicht erfolgt ist. Die bloße Aufhebung des angegriffenen Sperrzeitbescheides in der Gestalt des Widerspruchsbescheides reicht in diesen Fällen demnach nicht aus. Statthaft wäre folglich ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 86b Abs. 2 SGG gewesen, da der Antragsteller in der Hauptsache eine Anfechtungs- und Leistungsklage hätte erheben müssen, mit dem Ziel, ALG auch bereits ab dem 12.04.2010 zu erhalten.
Eine dementsprechende Auslegung des Antrags war auch nicht angezeigt. Zwar entscheidet das Gericht über die vom Kläger (Antragsteller) erhobenen Ansprüche, ohne an die Anträge des Klägers (Antragstellers) gebunden zu sein, § 123 SGG (hier entsprechend). Bei einem - wie hier - von einem Rechtsanwalt gestellten Antrag ist jedoch in der Regel anzunehmen, dass dieser das gewollte richtig widergibt (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. A., § 123 Rn. 3). Dies muss erst recht gelten, wenn von Seiten des Bevollmächtigten auch - wie hier - nach gerichtlichem Hinweis ausdrücklich an dem nicht statthaften Antrag festgehalten wird.
Selbst wenn man letzterem nicht folgen und eine Umdeutung des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1 SGG entgegen der ausdrücklichen Erklärung des Bevollmächtigten in einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG für angezeigt hielte, zöge dies keine Änderung bezüglich der Kostenlast nach sich.
Denn auch dieser Antrag hätte keine Aussicht auf Erfolg gehabt. Voraussetzung für die Begründetheit eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist das Vorliegen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund. In den Fällen, in denen der Antragsteller begehrt, im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes ALG zu erhalten, fehlt es regelmäßig am Anordnungsgrund, wenn der Antragsteller - wie hier - nicht glaubhaft macht, zuvor erfolglos einen Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II gestellt zu haben (vgl. Brand in Niesel, SGB III, 4. A. § 118 Rn. 11 m.w.N.).
Nach alledem widerspräche es aus Sicht des Gerichts der Billigkeit, die Antragsgegnerin zur Kostenerstattung für ein in wohl jeder Hinsicht von Anfang an ohne Aussicht auf Erfolg angestrengtes Verfahren zu verpflichten. Daran ändert auch die von der Antragsgegnerin unabhängig vom gerichtlichen einstweiligen Rechtsschutzverfahren im Widerspruchsverfahren getroffene und letztlich für den Antragsteller sogar günstigere Entscheidung nichts.
[Durch Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg bestätigt (L 8 AL 3352/10 ER-B)]