Sozialgericht Hildesheim
Beschl. v. 29.09.2010, Az.: S 53 AL 192/10 ER
Anspruch einer psychisch erkrankten Person auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (berufliche Rehabilitation) nach § 33 Abs. 3 Nr. 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX); Begriff der Eignung eines Benachteiligten für eine bestimmte, von ihm gewünschte Maßnahme der Teilhabe am Arbeitsleben
Bibliographie
- Gericht
- SG Hildesheim
- Datum
- 29.09.2010
- Aktenzeichen
- S 53 AL 192/10 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2010, 32086
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGHILDE:2010:0929.S53AL192.10ER.0A
Rechtsgrundlagen
- § 33 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX
- Art. 12 GG
Fundstelle
- info also 2011, 81-84
Tenor:
Die Antragsgegnerin wird einstweilen verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückabwicklung ab dem 01.09.2010 bis zum Ablauf der 4-monatigen Probezeit, die der abzuschließende Ausbildungsvertrag der Antragstellerin vorsehen wird, längstens aber bis zur bestandskräftigen Entscheidung über den Widerspruch der Antragstellerin gegen den Ablehnungsbescheid der Antragsgegnerin vom 03.08.2010, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (berufliche Rehabilitation) nach § 33 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX in Form der Bewilligung der Aufnahme einer Ausbildung der Antragstellerin zur Bürokauffrau beim Berufsbildungswerk des Rotkreuz-Instituts in E. (Maßnahmeträger) zu gewähren und sie in Vollzug dieser Verpflichtung unverzüglich nach Zugang dieses Beschlusses beim Maßnahmeträger an-/nachzumelden sowie dabei rechtsverbindlich zu erklären, dass die Kosten der Ausbildung der Antragstellerin für die Dauer der Gültigkeit dieser einstweiligen Anordnung nach den vereinbarten und üblichen Kostensätzen (vgl. Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 01.09.2010, Blatt 113 f. der Gerichtsakte) getragen werden. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt. Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die Hälfte ihrer außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
Der nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Antragsgegnerin des Inhalts, diese einstweilen zu verpflichten, der 22-jährigen, wegen einer schweren sensorischen Wahrnehmungsstörung im Sinne eines leichten autistischen Syndroms mit atypischem Erkrankungsalter benachteiligten Antragstellerin, die im Jahre 2005 mit überwiegend befriedigenden bis ausreichenden Leistungen ihren Realschulabschluss erworben und im Anschluss hieran nach einjährigem Besuch der BBS I in F. (Wirtschaftsschule) und darauffolgendem mehrmonatigem stationärem Aufenthalt im Niedersächsischen Landeskrankenhaus G. eine Berufsvorbereitungsmaßnahme in einer Einrichtung der beruflichen Rehabilitation gemäß § 35 SGB IX (von August 2007 bis Januar 2009 bei der IFAS GmbH in F.) und nach einer Maßnahme der Eignungsanalyse/Arbeitserprobung (im Juni 2009 beim Berufsbildungswerk des Rotkreuz-Instituts in E. - kurz BBW-RKI -) eine berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme beim BBW-RKI (von September 2009 bis Juli 2010) mit Förderung durch die Antragsgegnerin absolviert hat, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form der Förderung einer am 01.09.2010 beginnenden Ausbildung zur Bürokauffrau beim BBW-RKI zu bewilligen, ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang - somit teilweise - begründet, denn die Antragstellerin hat insoweit einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund für ihr Begehren in verfassungsrechtlich ausreichendem Maße glaubhaft gemacht, § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO.
Es ist zwar derzeit offen, ob die Antragstellerin in der Hauptsache mit ihrem Widerspruch vom 25.08.2010 gegen den Ablehnungsbescheid der Antragsgegnerin vom 03.08.2010 (Blatt 10 ff. der Gerichtsakte), mit dem die Antragsgegnerin die weitere Förderung der beruflichen Rehabilitation der Antragstellerin beim BBW-RKI in Form der Aufnahme einer Ausbildung zur Bürokauffrau ab 01.09.2010 im Wesentlichen unter Verweis auf den Abschlussbericht des BBW-RKI vom 15.07.2010 (Blatt 52 ff. der Gerichtsakte), die 29-monatige Dauer der bisher durchgeführten Berufsvorbereitungsmaßnahmen, während derer nach Auffassung der Antragsgegnerin keine wesentliche Leistungssteigerung bei der Antragstellerin erkennbar geworden sei, den Inhalt des Beratungsgespräches vom 28.07.2010 (siehe dazu den Vermerk Blatt 57 der Gerichtsakte) und den danach für sie - die Antragsgegnerin - feststehenden Eignungsmangel abgelehnt hat, erfolgreich durchdringen wird.
Zutreffend geht die Antragsgegnerin davon aus, dass der Anspruch auf Bewilligung einer bestimmten besonderen Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form der Förderung der Aufnahme einer beruflichen Ausbildung in einer besonderen Ausbildungsstätte für behinderte Menschen (sog. geschützte Einrichtung - hier das BBW-RKI -, vgl. dazu Götze in: Hauck/Nofz, Kommentar zum SGB IX, Stand: 21. Erg.lfg. 5/2010, § 33 Rn. 23) nach §§ 3 Abs. 1 Nr. 7 und 97 ff. SGB III i.V.m. § 33 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX tatbestandlich u.a. von der persönlichen Eignung des Benachteiligten abhängt, wie sich aus § 33 Abs. 4 Satz 1 SGB IX und § 97 Abs. 2 Satz 1 SGB III ergibt. Daneben ist die Neigung und die bisherige Tätigkeit des Benachteiligten sowie die Lage und Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt (vgl. § 33 Abs. 4 Satz 1 SGB IX a.E.) und die nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG) bestehende Zielsetzung beruflicher Rehabilitation, die berufliche Eingliederung des behinderten Menschen in größtmöglichem Umfang und auf Dauer zu sichern (vgl. etwa BSG, Urteil vom 18.05.2000 - B 11 AL 107/99 R -, [...] Rn. 15 m.w.N.) in die Entscheidung über die Auswahl einer bestimmten Teilhabemaßnahme aus dem Katalog des § 33 Abs. 3 SGB IX oder aber einer alternativ in Betracht zu ziehenden Maßnahme - hier die von der Antragsgegnerin favorisierte Unterstützende Beschäftigung nach § 38a SGB IX - mit einzubeziehen. Insofern teilt die Kammer zunächst die Einschätzung der Beteiligten, dass es aufgrund der Vorbildung der Antragstellerin - sie hat einen Realschulabschluss vor ihrer Erkrankung erworben und für ein Jahr die Berufsschule in F. im Fach Wirtschaft besucht - sowie mit Blick auf die allgemein bekannten Schwierigkeiten, Arbeitskräfte ohne erfolgreich abgeschlossene Ausbildung in einem Lehrberuf dauerhaft in den Arbeitsmarkt zu integrieren, in ihrem Falle vorrangiges Ziel von weiteren Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation sein sollte, ihr die Chance zum Erwerb eines berufsbildenden Abschlusses einzuräumen und sie nicht von vorn herein auf eine Helfertätigkeit - etwa als Bürokraft - zu verweisen. Aus den nachstehenden Erwägungen ist der Antragstellerin, anders als die Antragsgegnerin meint, jedoch nicht zuzumuten, zunächst eine Maßnahme der unterstützenden Beschäftigung mit sofortiger Wirkung anzutreten und erfolgreich zu durchlaufen, um sich auf diesem Umweg für die spätere Aufnahme einer beruflichen Ausbildung zu qualifizieren.
Der Begriff der Eignung in § 33 Abs. 4 Satz 1 SGB IX ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der der vollen gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Er konkretisiert sich nach objektiven Kriterien und nicht nach den Wünschen und Vorstellungen des behinderten Menschen. Ein Beurteilungsspielraum ist dem Rehabilitationsträger hierbei nicht eingeräumt (Voelzke in: Deinert/Neumann [Hrsg.], Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - Handbuch zum SGB IX, 2. Auflage, § 11 Rn. 15).
Die Klärung der Frage, ob ein Benachteiligter für eine bestimmte, von ihm gewünschte Maßnahme der Teilhabe am Arbeitsleben geeignet ist, verlangt ein denklogisches Vorgehen in zwei Schritten. Zunächst ist anhand der vom Benachteiligten bisher gezeigten Leistungen und bei ihm erkennbar gewordenen Eigenschaften und Fähigkeiten sowie der Auswirkungen seiner speziellen Erkrankung/Behinderung auf seine körperliche und geistige Leistungsfähigkeit eine Bestandsaufnahme bzw. Fixierung des Ist-Zustandes vorzunehmen (vgl. Voelzke, a.a.O.). Speziell im vorliegenden Fall, in dem es um die Förderung der Aufnahme einer Berufsausbildung geht, hat die Beschreibung des Ist-Zustandes mit dem Ziel der Beantwortung folgender Fragestellungen zu erfolgen:
Erstens, ist der Benachteiligte im Allgemeinen ausbildungsreif (oder bedarf er weiterer Berufsvorbereitung) ?
Zweitens, ist der Benachteiligte speziell für die von ihm angestrebte Ausbildung in einem bestimmten Beruf ausbildungsreif (oder kann er die speziell in diesem Beruf geforderten Leistungen insbesondere krankheitsbedingt nicht, in einem alternativen Beruf aber gleichwohl erbringen) ?
Daran anschließend ist ausgehend von dem so beschriebenen Ist-Zustand unter Heranziehung eines Profils der Anforderungen, die die angestrebte Teilhabemaßnahme - hier speziell die angestrebte Berufsausbildung und auch die spätere Berufsausübung (so Voelzke, a.a.O.) - über deren Dauer mit sich bringt, eine verlässliche Prognose dahingehend anzustellen, ob sich nach dem Ergebnis der Bestandsaufnahme / des fixierten Ist-Zustandes die berechtigte Erwartung hegen lässt, der Benachteiligte werde aller Voraussicht nach den künftigen Anforderungen der Teilhabemaßnahme - und hier insbesondere auch der späteren Berufsausübung - entsprechen und damit das Ziel der Teilhabemaßnahme - hier den erfolgreichen Abschluss der Ausbildung und die daran anschließende Integration in den Arbeitsmarkt trotz Benachteiligung - erreichen können.
Die Kammer stellt dabei klar, dass derartige Prognosen stets mit Unsicherheiten bzw. Ungewissheiten behaftet sein werden. Dies gilt umso mehr, wenn die konkrete Benachteiligung des Betroffenen darin liegt, dass dieser - wie vorliegend die Antragstellerin - psychisch erkrankt ist und sich diese Erkrankung u.a. in einem schwankenden Leistungsbild manifestiert. Das hohe Maß an Sicherheit der anzustellenden Prognose, welches die Antragsgegnerin für eine positive Entscheidung im vorliegenden Fall einfordert, lässt sich daher aller Voraussicht nach auch bei weiterer Sachverhaltsaufklärung in der Hauptsache nicht erreichen. Dieser Umstand kann jedoch nicht dazu führen, dass insbesondere den Benachteiligten aufgrund psychischer Erkrankung bestimmte Teilhabemaßnahmen des Katalogs nach § 33 Abs. 3 SGB IX von vorn herein verwehrt werden, weil in ihrer Person verlässliche Prognosen wesentlich schwerer anzustellen sind, als etwa bei körperlich Benachteiligten, deren Nachteil im Wesentlichen durch Bereitstellung von Hilfsmitteln zur Berufsausbildung und anschließenden -ausübung ausgeglichen werden kann.
Zur sachverständigen Klärung der Frage der Eignung der Antragstellerin für die von ihr erstrebte Teilhabemaßnahme hat die Antragsgegnerin vom Ansatz her zunächst zutreffend auf die Feststellungen des Sozialpädagogischen Dienstes des Trägers der zuvor durchgeführten Berufsvorbereitungsmaßnahme im BBW-RKI in dessen Abschlussbericht vom 15.07.2010 zurückgegriffen (vgl. Götze in: Hauck/Nofz, a.a.O., § 33 Rn. 42). Allerdings hat die Kammer bereits darauf hingewiesen, dass der e.g. Abschlussbericht des BBW-RKI keine eindeutige Bestandsaufnahme und Prognose in dem vorstehend aufgezeigten Sinne enthält. Der Abschlussbericht ist vielmehr vorsichtig und zurückhaltend formuliert, wie die dort verwendeten Begrifflichkeiten ("vorsichtig positive Prognose", "Aufnahme in die Ausbildung nur als Versuch eingestuft", "im weiteren Verlauf wird sich zeigen, ob Frau S. [die Antragstellerin] den Anforderungen der Ausbildung als Bürokauffrau gerecht werden kann") verdeutlichen. Er lässt daher zu viel Raum zur Interpretation durch die Beteiligten in deren jeweiligen Interesse und taugt als Entscheidungsgrundlage nur eingeschränkt. In der Hauptsache sind daher die auf Grundlage des e.g. Abschlussberichts von der Antragsgegnerin berechtigt geäußerten Eignungszweifel durch Erstellung eines arbeitspsychologischen Gutachtens zur weiteren Sachverhaltsaufklärung, die der Antragsgegnerin von Amts wegen gemäß §§ 20, 62 SGB X im anhängigen Widerspruchsverfahren obliegt, auszuräumen (vgl. Voelzke, a.a.O.).
Die Kammer kann sich zur weiteren Sachverhaltsaufklärung im vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren aufgrund des der Antragstellerin drohenden Rechtsverlusts durch Zeitablauf - der Antragstellerin wurde vom BB-RKI auf Nachfrage der Kammer lediglich die Möglichkeit eingeräumt, in die am 01.09.2010 begonnene Ausbildung bis spätestens 01.10.2010 noch einsteigen zu können (vgl. die Email des BBW-RKI vom 26.08.2010, Blatt 58 der Gerichtsakte), sodass bis zu diesem Zeitpunkt eine Entscheidung im vorliegenden Verfahren zwingend erforderlich ist - nicht der Einholung eines arbeitspsychologischen Sachverständigengutachtens bedienen. Sie hat daher zur weiteren Sachverhaltsaufklärung auf die Vernehmung des Leiters des Sozialpädagogischen Dienstes des BBW-RKI, Herrn H., als Zeuge zur weiteren Aufklärung der Frage der Eignung der Antragstellerin für eine Ausbildung zur Bürokauffrau in dem BBW-RKI zum 01.09.2010 zurückgegriffen. Wegen des Ergebnisses der in dem Erörterungstermin vom 16.09.2010 durchgeführten Beweisaufnahme wird auf die betreffende, zur Gerichtsakte befindliche Niederschrift verwiesen.
Die Vernehmung des Zeugen I. hat aus Sicht der Kammer zumindest Klarheit hinsichtlich der Beantwortung der ersten o.g. Fragestellung - der Frage der Ausbildungsreife der Antragstellerin im Allgemeinen und im Speziellen - im Sinne der Antragstellerin geschaffen. Zwar hat der Zeuge I. auf Nachfrage des Vertreters der Antragsgegnerin bestätigt, dass eine Fortsetzung der bislang 11-monatigen Phase der Berufsvorbereitung im BBW-RKI im Falle der Antragstellerin wünschenswert gewesen wäre, weil diese gerade zum Ende der Berufsvorbereitungsmaßnahme wohl auf ihre Erkrankung zurückzuführende abfallende Leistungen gezeigt habe. Der Zeuge I. hat aber auch - und darauf kommt es der Kammer entscheidend an - die dem streitigen Abschlussbericht seiner Einrichtung vom 15.07.2010 zugrunde liegende Leistungseinschätzung des Sozialpädagogischen Dienstes dahingehend konkretisiert, dass die Antragstellerin vor allem in der Mitte der Berufsvorbereitungsmaßnahme Leistungen gezeigt habe, die auf ihre Ausbildungsreife schließen ließen. Vor diesem Hintergrund habe der Sozialpädagogische Dienst mit seinem Abschlussbericht grundsätzlich auch die nahtlose Übernahme der Antragstellerin in die bevorstehende Ausbildung empfehlen wollen. Die im Abschlussbericht gewählten Formulierungen seien dahingehend zu verstehen, "dass Ausbildungsreife vorliege, jedoch unter besonderer Berücksichtigung der viermonatigen Probezeit [zu Beginn der Ausbildung; Anm. der Kammer] eine sichere Prognose noch nicht möglich sei", weil "die viermonatige Probezeit die Zeit darstellt, in der die Weichen gestellt werden." Die krankheitsbedingten Schwankungen der Leistungsfähigkeit der Antragstellerin hätten, so der Zeuge, nur dazu geführt, dass sich zum Ende der Berufsvorbereitungsmaßnahme und damit zum Zeitpunkt der Erstellung des Abschlussberichts wieder Zweifel an der positiven Einschätzung der Gesamtleistungsfähigkeit der Antragstellerin im Hinblick auf die Aufnahme der Berufsausbildung zum 01.09.2010 gehegt hätten. Insbesondere sei dem Sozialpädagogischen Dienst zum Stichtag 15.07.2010 keine verlässliche Prognose dahingehend möglich gewesen, dass die Antragstellerin angesichts des seinerzeit gezeigten Leistungsvermögens die Ausbildung zur Bürokauffrau auch erfolgreich abschließen könne.
Die Heraushebung der viermonatigen Probezeit durch den Zeugen I. hat die Kammer letztlich auch dazu veranlasst, die Dauer der vorliegenden einstweiligen Anordnung von vorn herein auf die Dauer der Probezeit zu befristen. Denn sollte die Antragstellerin die Probezeit nicht erfolgreich meistern und deshalb aus dem Ausbildungsverhältnis entlassen werden, besteht kein Anlass mehr, die Antragsgegnerin weiterhin zur Kostentragung für diese dann abgebrochene Maßnahme zu verpflichten. Andererseits stellt die mögliche Bewährung der Antragstellerin in der viermonatigen Probezeit eine wesentliche Änderung der Sachlage dar, die maßgeblich auf den Ausgang des derzeit anhängigen Hauptsacheverfahrens Einfluss nimmt. Insofern wird die Antragsgegnerin bei einer Bewährung der Antragstellerin in der Probezeit aller Voraussicht nach ihrem Widerspruch stattgeben müssen, weil dann die Antragstellerin ihre Eignung für die Ausbildung jedenfalls in der Probezeit positiv unter Beweis gestellt hätte und sich dann eine negative Prognose kaum mehr rechtfertigen ließe.
Vor dem Hintergrund des offenen Ausgangs der bei der Antragsgegnerin im Widerspruchsverfahren anhängigen Hauptsache und der aufgrund der gegenwärtig beengten finanziellen Verhältnisse der Antragstellerin und ihrer die Personen- und Vermögenssorge über sie ausübenden Mutter, die es aus Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten verbieten, den Vollzug der von der Antragstellerin erstrebten einstweiligen Anordnung von der vorherigen Leistung einer Sicherheit gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 921 ZPO abhängig zu machen (näher dazu BVerfG, Beschluss vom 03.12.1998 - 1 BvR 592/97 -, SozR 3-1500 § 97 Nr. 4), hat es die Kammer jedoch für notwendig erachtet, zur Beachtung des verfassungsrechtlichen Gebotes der Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG letztlich nach Abwägung der Folgen zu Gunsten der Antragstellerin gegenüber der Antragsgegnerin anzuordnen, der Antragstellerin vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückabwicklung ab dem 01.09.2010 bis zum Ablauf der 4-monatigen Probezeit, die der abzuschließende Ausbildungsvertrag der Antragstellerin vorsehen wird, längstens aber bis zur bestandskräftigen Entscheidung über den Widerspruch der Antragstellerin gegen den Ablehnungsbescheid der Antragsgegnerin vom 03.08.2010, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (berufliche Rehabilitation) nach § 33 Abs. 3 Nr. 4 SGB IX in Form der Bewilligung der Aufnahme einer Ausbildung der Antragstellerin zur Bürokauffrau beim BBW-RKI in E. (Maßnahmeträger) zu gewähren. Denn der Antragstellerin drohen bei einer Ablehnung ihres vorliegenden Begehrens aufgrund fehlender Glaubhaftmachung der überwiegenden Wahrscheinlichkeit ihres Obsiegens in der Hauptsache, wie sie regelmäßig für den Erlass einer die Hauptsache zumindest teilweise vorwegnehmenden einstweiligen Anordnung zu fordern ist, schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Beeinträchtigungen, die durch eine spätere Entscheidung zu ihren Gunsten in der bei der Antragsgegnerin anhängigen Hauptsache nicht mehr zu beseitigen wären.
Die in derartigen Fällen verfassungsrechtliche gebotene Folgenabwägung (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 -, Breithaupt 2005, S. 803 ff.; zit. nach [...], insb. Rn. 26) fällt zum Schutze der Grundrechte der Antragstellerin zu ihren Gunsten aus. Durch den Verweis auf das Abwarten einer späteren positiven Entscheidung in der Hauptsache droht der Antragstellerin der unwiederbringliche Verlust der Chance auf Teilnahme des am 01.09.2010 begonnenen Durchgangs der Ausbildung zur Bürokauffrau in der geschützten Einrichtung des BBW-RKI und beeinträchtigt damit nicht nur ihr durch Art. 12 GG geschütztes Recht auf weiteres berufliches Fortkommen, sondern führt in dem speziellen Fall der psychisch erkrankten Antragstellerin, die sich nach den Feststellungen des Sozialpädagogischen Dienstes des BBW-RKI in dem Abschlussbericht vom 15.07.2010 "nur schwer auf neue Rahmenbedingungen einlassen kann", voraussichtlich auch zum unwiderbringlichen Verlust der bisher beim BBW-RKI im Rahmen der Berufsvorbereitungsmaßnahme erlernten Kenntnisse und Fähigkeiten, sodass die Antragstellerin zu einem späteren Zeitpunkt sprichwörtlich wieder bei Null anfangen müsste. Insbesondere um "die bisherigen Leistungen zu sichern" hat das BBW-RKI in dem e.g. Abschlussbericht der Antragsgegnerin den "nahtlosen Übergang von der Berufsvorbereitungsmaßnahme in die Ausbildung" empfohlen.
Die Kammer verkennt bei ihrer Folgenabwägung nicht, dass ein Behinderter nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil vom 18.05.2000, a.a.O., [...] Rn. 18) Ansprüche auf Förderleistungen der beruflichen Rehabilitation nur im gesetzlichen Umfang erwirbt und er sich nicht zur Erweiterung seiner Ansprüche auf das Grundrecht desArt. 12 GG berufen kann. Im vorliegenden Fall geht es aber nicht um die Erweiterung einfachgesetzlich nicht bestehender Ansprüche zugunsten der Antragstellerin, sondern um die Sicherung bzw. vorläufige Regelung derzeit nicht sicher erkennbar einfachgesetzlich bestehender Ansprüche der Antragstellerin bis zur Hauptsacheentscheidung. Das BSG hat daher auch entschieden, dass aus Art. 12 GG der Grundsatz folgt, den Zugang zu einem gewählten Beruf nicht durch das öffentliche Leistungsrecht zu erschweren oder wirtschaftlich unmöglich zu machen (BVerfG, Beschluss vom 12.06.1990 - 1 BvR 355/86 -, BVerfGE 82, 209 (223, 228 f.)) und dass deshalb die gesetzlichen Vorschriften im öffentlichen Leistungsrecht im Zweifel zu Gunsten der Berufsfreiheit auszulegen sind (BSG, Urteil vom 03.07.1991 - 9b/7 RAr 142/89 -, BSGE 69, 128 (130), zit. nach [...], insb. Rn. 11).
Der Antragsgegnerin droht demgegenüber durch die vorliegende vorläufige Regelung für den Fall, dass sie in der Hauptsache obsiegt und die hier einstweilen zugesprochene Maßnahme der beruflichen Rehabilitation rückabgewickelt werden muss, unter Umständen lediglich ein finanzieller Nachteil in Höhe der Differenz zwischen dem monatlichen Kostensatz, den sie für die Antragstellerin hinsichtlich der gewünschten Ausbildung beim BBW-RKI aufwenden muss (3.041,70 EUR), und dem Kostensatz, den sie bei sofortiger Aufnahme der von ihr alternativ angebotenen Maßnahme der Unterstützenden Beschäftigung nach § 38a SGB IX aufwenden müsste (940,- EUR). Das finanzielle Risiko für die öffentliche Hand liegt somit bei 8.406,80 EUR (4 Monate je 2.101,70 EUR). Dieses Risiko würde sich jedoch nur dann verwirklichen, wenn es der Antragsgegnerin im Zuge der Rückabwicklung der hier getroffenen vorläufigen Regelung nicht gelänge, ihren potentiellen Schadensersatzanspruch aus § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 945 ZPO gegenüber der Antragstellerin zu realisieren. Dies erachtet die Kammer angesichts der bestehenden Verpflichtung zur Unterhaltsleistung seitens der Eltern der Antragstellerin, insbesondere angesichts der Leistungsfähigkeit des Vaters der Antragstellerin, bei der vorliegend diesbezüglich nur möglichen summarischen Prüfung eher als unwahrscheinlich.
Nach alledem war dem Antrag der Antragstellerin teilweise stattzugeben. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG in entsprechender Anwendung und berücksichtigt das teilweise Obsiegen und Unterliegen der Antragstellerin, das die Kammer in pflichtgemäßer Ausübung ihres Ermessens mit der Hälfte des zur Entscheidung gestellten Antragsbegehrens bemisst.