Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 12.03.2013, Az.: L 13 AS 51/13 B ER

Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende; Zuständiger Leistungsträger; Gewöhnlicher Aufenthalt bei durchsetzbarer Wohnsitzauflage eines Ausländers

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
12.03.2013
Aktenzeichen
L 13 AS 51/13 B ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2013, 46711
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2013:0312.L13AS51.13B.ER.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Oldenburg - 19.02.2013 - AZ: S 39 AS 11/13 ER

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Oldenburg vom 19. Februar 2013 - S 39 AS 11/13 ER - aufgehoben.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Den Antragstellern wird zur Verteidigung gegen die von dem Antragsgegner eingelegte Beschwerde Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und ihnen Rechtsanwalt L., M., zur Wahrnehmung ihrer Rechte beigeordnet.

Gründe

Die Beschwerde, mit der sich der Antragsgegner dagegen wendet, dass ihn das Sozialgericht (SG) Oldenburg mit Beschluss vom 19. Februar 2013 - S 39 AS 11/13 ER - durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung verpflichtet hat, den Antragstellern vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum vom 10. Januar 2013 bis zum 31. März 2013 in Höhe von monatlich 2.064,10 EUR - längstens bis zur bestands- bzw. rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache - zu gewähren, ist gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig. Die Beschwerde ist auch begründet.

Hinsichtlich der Darstellung des Sachverhalts und der heranzuziehenden Rechtsnormen nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen in Anwendung der Vorschrift des § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG auf die zutreffenden Ausführungen des SG Oldenburg in seinem angefochtenen Beschluss vom 19. Februar 2013 Bezug. Indes teilt der Senat im entscheidenden Punkt - nämlich wo die Antragsteller i. S. des § 36 SGB II ihren "gewöhnlichen Aufenthalt" haben - nicht die seitens des SG sowie seitens der Antragsteller mit Schriftsatz vom 25. Februar 2013 vertretene Rechtsauffassung, dass dieser gewöhnliche Aufenthalt nach der Definition des § 30 Abs. 3 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners bestehe.

Dort haben die Antragsteller zwar Wohnung genommen und ihren Lebensmittelpunkt gewählt, wie das SG Oldenburg im angefochtenen Beschluss zutreffend ausgeführt hat. Indes gebietet die Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsordnung eine entsprechend einschränkende Auslegung des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I in einer Weise, dass die rechtliche Anerkennung eines gewöhnlichen Aufenthaltsortes in Fällen einer ausländerrechtlich grundsätzlich zulässigen Beschränkung der Freizügigkeit nur dort in Betracht kommt, wo die Antragsteller ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort im Einklang mit der Rechtsordnung auch nehmen durften.

Der Senat schließt sich insoweit der überwiegenden Rechtsprechung insbesondere der Verwaltungsgerichtsbarkeit an, wonach für die Auslegung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts zwar die Legaldefinition des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I maßgebend ist, indes den gewöhnlichen Aufenthalt jemand dort hat, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Für die demgemäß anzustellende Prognose kommt es auf sämtliche Umstände an, zu denen auch ausländer- und asylbehördliche Entscheidungen, insbesondere Aufenthaltsbeschränkungen und die Entscheidungspraxis der Ausländerbehörde gehören (zuletzt Verwaltungsgericht - VG - Magdeburg, Urteil vom 8. Oktober 2012 - 1 A 70/11 - juris Rdn. 41, m. w. Nachw.).

Im Falle von Ausländern ist u. a. Voraussetzung für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts, dass dieses nicht nur vorübergehende Verweilen nach den Vorschriften des Ausländerrechtes auch zulässig ist (Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 15. August 2008 - 11 S 1443/08 - juris Rdn. 3, m. w. Nachw.). Der tatsächliche Aufenthalt eines Ausländers kann im Rechtssinne mithin erst dann zum gewöhnlichen Aufenthalt i. S. des § 30 Abs. 3 SGB I werden, wenn ausländerrechtlich davon auszugehen ist, dass der Ausländer auf unabsehbare Zeit dort bleiben kann (vgl. Bundessozialgericht - BSG - Urteil vom 20. Mai 1987 - 10 RKg 18/85 - juris Rdn. 14; dieser Auffassung wohl grundsätzlich folgend Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 23. Februar 1993 - 1 C 45/90 - juris Rdn. 24). Verlässt der Ausländer den ihm zugewiesenen Aufenthaltsbereich, kann er einen gewöhnlichen Aufenthalt an einem anderen Ort nur dann begründen, wenn dies mit Billigung der Ausländerbehörde geschieht. Der tatsächliche Aufenthalt eines Ausländers wird erst dann zum gewöhnlichen Aufenthalt, wenn unter Berücksichtigung der ausländerrechtlichen Verhältnisse davon auszugehen ist, dass der Ausländer nicht nur vorübergehend an dem betreffenden Ort bleiben kann (Oberverwaltungsgericht - OVG - Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 10. April 2000 - 3 M 132/99 - juris, Leitsatz 3; vgl. auch OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 23. Juli 2009 - 2 O 50/09 - juris Rdn. 5). Eine bestimmte Zeitgrenze, von der an ein Aufenthalt nicht mehr als vorübergehend anzusehen ist, ist dem Sozialrecht bei alledem fremd (BSG, Urteil vom 15. Juni 1982 - 10 RKg 26/81 - juris Rdn. 26 - BSGE 53, 294, 298 [BSG 15.06.1982 - 10 RKg 26/81]). Die ausländerrechtlichen Regelungen müssen daher im Sozialleistungsrecht - wie z. B. § 23 Abs. 5 SGB XII - Beachtung finden (a. A.: SG Hildesheim, Beschl. v. 22. März 2010 - S 43 AS 420/10 ER - in ZSF 2011, 179).

Die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts setzt somit eine voraussichtliche Dauerhaftigkeit unter Beachtung der ausländerrechtlichen Vorgaben voraus. Für die Bejahung des gewöhnlichen Aufenthalts genügt es nicht, dass sich die Antragsteller bereits längerfristig in Delmenhorst aufhalten. Die weiter bestehende räumliche Beschränkung ihres Aufenthalts auf das bremische Gebiet steht dem entgegen; diese Beschränkung des Aufenthalts kann jederzeit durchgesetzt werden, und zwar ungeachtet der Frage, wie lange sich ein Betroffener an einem anderen Ort tatsächlich aufhält (Kammergericht Berlin, Beschluss vom 25. August 2006 - 25 W 70/05 - juris Rdn. 15). Eine rechtlich bedeutsame Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts in Delmenhorst ist nach alledem nicht erfolgt.

Die Argumentation der Antragsteller aus ihrem Schriftsatz vom 25. Februar 2013 setzt sich mit diesen ausländerrechtlich begründeten Besonderheiten nicht auseinander. Die dort zu § 36 SGB II wiedergegebenen Rechtsmeinungen weisen keinen Bezug zu dem, vom Senat für entscheidend erachteten, Auslegungskriterium der Wahrung der Einheit der Rechtsordnung und der daraus folgenden Schlussfolgerung auf, dass der Aufenthalt der Antragsteller im Bezirk des Antragsgegners nach den rechtlichen Vorgaben derzeit einzig ein vorübergehender Aufenthalt sein kann, bis die rechtlich zulässigen Verhältnisse wieder hergestellt sind.

Hinzukommt - und dies stellt eine selbständig tragende Erwägung dar - dass die Antragsteller ohne weiteres durch eigenes Tun die Hilfebedürftigkeit beseitigen können, in dem sie in das ihnen zugewiesene Bundesland zurückkehren.

Ein Fall notwendiger Beiladung des bremischen Grundsicherungsträgers nach § 75 Abs. 2 SGG ist nicht gegeben, denn die Entscheidung greift nicht unmittelbar in seine Rechtssphäre ein, da lediglich eine vorläufige Regelung zu Lasten des Antragsgegners abgelehnt worden ist. Auch kommt eine entsprechende Leistungspflicht des bremischen Grundsicherungsträgers im Rahmen des Eilverfahrens derzeit nicht in Betracht, da es insoweit bereits an einem dort gestellten Antrag der Antragsteller und somit an einem vorläufig zu regelnden Rechtsverhältnis fehlt. Den Antragstellern ist zu raten, den Antrag dort nunmehr, unter Bezugnahme auf den vorliegenden Senatsbeschluss, zügig nachzuholen; bei alledem hat der Senat auch berücksichtigt, dass die Leistungen für März 2013 aufgrund des Beschlusses des SG Oldenburg vom 19. Februar 2013 mittlerweile erbracht sein dürften, dass sich der zeitliche Regelungsbereich des angefochtenen Beschlusses daher für die Zukunft ohnehin erschöpft hat und dass den Antragstellern ausreichend Zeit zur Verfügung steht, Leistungen für Zeiträume ab dem 1. April 2013 in M. zu beantragen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beruht auf § 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. den §§ 114 ff. Zivilprozessordnung (ZPO). Die wirtschaftlichen Voraussetzungen sind erfüllt. Den Antragstellern ist Prozesskostenhilfe zu bewilligen, weil nach § 119 Abs. 1 Satz 2 ZPO in einem höheren Rechtszug grundsätzlich nicht zu prüfen ist, ob die Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet, wenn der Gegner das Rechtsmittel eingelegt hat.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).