Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 07.08.2024, Az.: 4 LA 88/23

Klärungsbedürftige Tatsachenfragen in einem asylrechtlichen Verfahren aufgrund eines nicht existierenden Fahndungssystems im Heimatland

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
07.08.2024
Aktenzeichen
4 LA 88/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 20206
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2024:0807.4LA88.23.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 31.08.2023 - AZ: 11 A 6121/21

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Tatsachenfragen sind in einem asylrechtlichen Berufungsverfahren klärungsbedürftig, wenn sie nicht eindeutig und frei von vernünftigen Zweifeln aus dem vorliegenden Erkenntnismaterial beantwortet werden können oder nicht anderweitig bereits ausreichend geklärt sind.

  2. 2.

    In Gambia liegt nach aktueller Erkenntnislage kein hinreichendes Fahndungssystem oder -register vor, in welchem gesuchte Straftäter lückenlos erfasst sind und gezielt ermittelt werden kann, ob ein Rückkehrer vor seiner Ausreise straffällig geworden ist.

Tenor:

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichter der 11. Kammer - vom 31. August 2023 wird abgelehnt.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag der Beklagten, die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil zuzulassen, hat keinen Erfolg. Denn der von ihr geltend gemachte Berufungszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) liegt nicht vor.

Eine Rechtssache ist nur dann im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG grundsätzlich bedeutsam, wenn sie eine höchstrichterlich oder obergerichtlich bislang noch nicht beantwortete Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im Rechtsmittelverfahren entscheidungserheblich ist und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf (Senatsbeschl. v. 25.10.2022 - 4 LA 225/20 -, juris Rn. 3; GK-AsylG, Werkstand August 2023, § 78 Rn. 88 ff.; Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, Werkstand März 2024, § 78 AsylG Rn. 19 ff. - jeweils m.w.N.). Rechtsfragen sind klärungsbedürftig, wenn sie durch die Rechtsprechung nicht schon (hinreichend) geklärt sind oder wenn ihre Beantwortung sich weder unmittelbar aus dem Gesetz ergibt noch sonst von vornherein praktisch außer Zweifel steht (GK-AsylG, Werkstand August 2023, § 78 Rn. 112 m.w.N.). Tatsachenfragen sind klärungsbedürftig, wenn sie nicht eindeutig und frei von vernünftigen Zweifeln aus dem vorliegenden Erkenntnismaterial beantwortet werden können oder nicht anderweitig bereits ausreichend geklärt sind. Eine Tatsachenfrage, deren Beantwortung so gut wie unbestritten ist, bedarf nicht der berufungsgerichtlichen Klärung in einem Berufungsverfahren (GK-AsylG, Werkstand August 2023, § 78 Rn. 137 m.w.N.).

Gemessen daran ist die Berufung nicht zuzulassen. Die von der Beklagten als klärungsbedürftig bezeichnete Tatsachenfrage, "ob es beachtlich wahrscheinlich ist, dass der gambische Staat im Falle der zwangsweisen Rückführung einer seiner Staatsbürger über einen offiziellen Grenzübergang diesen als vor seiner Ausreise straffällig geworden identifizieren kann", verleiht der Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung. Denn diese Frage bedarf keiner Klärung durch den Senat in einem Berufungsverfahren, sondern lässt sich bereits im Zulassungsverfahren auf der Grundlage der vorliegenden und von der Beklagten im Zulassungsantrag auch benannten Erkenntnismittel eindeutig und frei von vernünftigen Zweifeln verneinen.

Nach den aktuellen Erkenntnismitteln gibt es in Gambia kein nationales Fahndungssystem oder -register, welches geeignet wäre, eine polizeiliche Personensuche - wie sie nach europäischen Vorstellungen erfolgen sollte - durchzuführen. Eine gezielte, strukturierte Suche nach straffällig gewordenen Personen, die modernen Maßstäben entspräche, kann mangels entsprechender technischer Systeme faktisch nicht stattfinden. Auf dem Flughafen eingesetzte Technik ist nicht landesweit ausgerollt und vernetzt und verfügt lediglich über eine Schnittstelle zum Interpol-Datenbestand (Auswärtiges Amt, Allgemeine Auskunft an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 30.12.2020 zu Frage 4). Fahndungsbücher gibt es in Gambia nicht, so dass nur schwer zu ermitteln ist, ob eine Person zur Fahndung ausgeschrieben ist (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Gambia, Stand: August 2023, S.15). Auch wenn im Oktober 2021 das "West Africa Police Information System"(WAPIS) offiziell eingeweiht worden ist und dieses von der EU finanzierte und durch Interpol implementierte Programm als Datenbank dienen soll, in die gesuchte Straftäter eingegeben werden können (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Gambia, Stand: August 2023, S.15), liegt in Gambia aktuell kein hinreichendes Fahndungssystem oder -register vor, in welchem gesuchte Straftäter lückenlos erfasst sind und gezielt ermittelt werden kann, ob ein Rückkehrer vor seiner Ausreise straffällig geworden ist. Dies gilt erst recht, wenn - wie im vorliegenden Fall - die Ausreise eines Asylklägers und damit auch die von ihm begangenen Straftaten mehrere Jahre zurückliegen und deutlich vor der Einführung von WAPIS erfolgt sind. Gegen die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Identifizierung von Rückkehrern, die vor ihrer Ausreise straffällig geworden sind, spricht zudem, dass Rückkehrer - auch im Falle einer zwangsweisen Rückführung - keiner besonderen Behandlung bei der Einreise unterliegen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Gambia, Stand: August 2023, S.14). Diese werden vielmehr von der Einwanderungsbehörde in Empfang genommen und kurz vernommen, ferner werden ihre Daten aufgenommen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gambia, Stand: 24. Juni 2020, S. 27). Mit Blick auf die vorhandene Erkenntnislage wird in der erstinstanzlichen Rechtsprechung die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Identifizierung von Rückkehrern über ein Fahndungssystem daher zutreffend verneint (vgl. VG Berlin, Urt. v. 22.2.2023 - VG 31 K 207/21 A -, juris S. 7; VG München, Urt. v. 10.11.2022 - M 10 K 17.45586 -, juris Rn. 26).

Trotz der vorbeschriebenen eindeutigen Erkenntnislage hat das Verwaltungsgericht hier seiner Entscheidung zugrunde legt, dass davon auszugehen sei, "dass der gambische Staat ein Tötungsdelikt nicht vergisst und der Kläger, sollte man seiner habhaft werden, mit einer Bestrafung - bestehend aus einer Inhaftierung - rechnen muss" und "eine unbehelligte Rückkehr ausgeschlossen sein dürfte, weil abgeschobene Personen von staatlichen Behörden in Empfang genommen werden" (Urteilsabdruck, S. 5). Hierbei hat das Verwaltungsgericht sich weder mit den vorhandenen Erkenntnismitteln zu den unzureichenden technischen Möglichkeiten zur Fahndung nach straffällig gewordenen Personen und zu der Behandlung von Rückkehren bei Wiedereinreise auseinandergesetzt, noch hat es auch nur im Ansatz begründet, worauf es seine Annahme stützt. Dass "abgeschobene Personen von staatlichen Behörden in Empfang genommen werden", ist insoweit ersichtlich unzureichend. Dies begründet durchgreifende ernstliche Zweifel an der Richtigkeit seiner Entscheidung, verleiht der Rechtssache aber keine grundsätzliche Bedeutung. Wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung kann die Berufung in asylrechtlichen Verfahren gemäß § 78 Abs. 3 AsylG nicht zugelassen werden.

Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).