Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 30.08.2001, Az.: 1 MN 2456/01
Altenwohnen; Baunachbarklage; Bebauungsplan; einstweilige Anordnung; Nachbarklage; Normenkontrollantrag; Normenkontrolle; Normenkontrollverfahren; Sondergebiet; Subsidiarität; Wohngebiet
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 30.08.2001
- Aktenzeichen
- 1 MN 2456/01
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2001, 40372
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 47 Abs 6 VwGO
- § 11 Abs 1 BauNVO
- § 80 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Die Rechtsschutzmöglichkeiten des Nachbarn nach § 80 f. VwGO gegen eine Baugenehmigung schränken die Zulässigkeit einer einstweiligen Anordnung in dem vom Nachbarn eingeleiteten Normenkontrollverfahren gegen den Bebauungsplan nicht ein.
2. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung im Normenkontrollverfahren kommt auch dann in Betracht, wenn der Normenkontrollantrag mit hoher Wahrscheinlichkeit Erfolg haben wird.
3. Ein Baugebiet mit der Zweckbestimmung "Altenwohnen" unterscheidet sich nicht wesentlich vom reinen oder allgemeinen Wohngebiet und kann nach § 11 Abs. 1 BauNVO daher nicht als Sondergebiet festgesetzt werden.
Tatbestand:
Die Antragstellerin, die Eigentümerin des mit Mehrfamilienhäusern bebauten Grundstücks A 6 -- 16 in B ist, sucht um vorläufigen Rechtsschutz gegen die 1. Änderung des Bebauungsplanes Nr. 10 ... nach.
Der Bebauungsplan Nr. 10 setzte in seiner ursprünglichen Fassung die Grundstücke der Beteiligten nördlich der Planstraße A (A) als allgemeines Wohngebiet, zwingend zweigeschossig, GFZ 0,25 und abweichende Bauweise sowie die überbaubare Grundstücksfläche fest. Für die 60 m bis 80 m tiefen Grundstücke der Antragstellerin und der Äußerungsberechtigten nördlich der Planstraße A setzte der Ursprungsplan eine 25 m tiefe und ca. 230 m lange bebaubare Fläche sowie drei jeweils 25 m breite und 20 m bis 35 m nach Süden (zur Straße) vorspringende Flächen in einem Abstand von 55 m durch Baugrenzen als bebaubar fest. Auf das ca. 3.500 m² große Grundstück der Äußerungsberechtigten entfiel eine 40 m lange und 25 m tiefe bebaubare Fläche etwa in Ost-West-Richtung. Außerdem setzt der Bebauungsplan fest, dass die notwendigen Stellplätze in Tiefgaragen herzustellen sind.
Im Jahre 1998 erteilte der Landkreis ... der Äußerungsberechtigten die Baugenehmigung für ein Mehrfamilienhaus mit 31 Seniorenwohnungen mit einer Grundfläche von 52,24 m X 25 m und einer Höhe von 11 m unter Befreiung von der Festsetzung der überbaubaren Grundstücksfläche, des Maßes der baulichen Nutzung sowie der Lage der Stellplätze. Mit Beschluss vom 20. Juni 2000 -- 1 M 2011/00 -- (BauR 2000, 1844) ordnete der Senat die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die Baugenehmigung an, weil die Festsetzung der überbaubaren Fläche auch dem Schutz der Nachbarn diene und die von der überbaubaren Fläche abweichende Baugenehmigung daher Rechte der Antragstellerin verletze.
Der Antragsgegner hat am 14. Mai 2001 die 1. Änderung des Bebauungsplanes Nr. 10 beschlossen und am 15. Juni 2001 im Amtsblatt des Landkreises bekannt gemacht. Die 1. Änderung des Bebauungsplanes betrifft nur das Grundstück der Äußerungsberechtigten und setzt dieses Grundstück als Sondergebiet "Altenwohnen" mit einer GFZ von 0,26, zwingend zweigeschossig, abweichende Bauweise, Traufhöhe mindestens 6 m, höchstens 7 m über Oberkante Straße fest. Die bebaubare Fläche ist mit Baugrenzen in etwa in Nord-Süd-Richtung auf eine Fläche von 53 m X 25 m begrenzt. Außerdem setzt der Plan eine 25 m X 12,5 m große Fläche zwischen der bebaubaren Fläche und der Straße An der S. als Stellplätze fest. Die Festsetzungen der 1. Änderung erlauben die Verwirklichung des Vorhabens der Äußerungsberechtigten.
Die Antragstellerin hat am 17. Juli 2001 einen Normenkontrollantrag gegen die 1. Änderung des Bebauungsplanes Nr. 10 gestellt und gleichzeitig um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat Erfolg.
Entscheidungsgründe
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig. Die Antragstellerin hat einen zulässigen Normenkontrollantrag gestellt. Sie hat insbesondere geltend gemacht, dass die 1. Änderung des Bebauungsplanes Nr. 10 sie in ihren Rechten verletze, weil die Änderung des Bebauungsplanes ihre Rechtsposition nachteilig verändere, die ihr der ursprüngliche Bebauungsplan eingeräumt habe. Da das Abwägungsgebot des § 1 Abs. 6 BauGB drittschützenden Charakter hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.9.1998 -- 4 CN 2.98 -- DVBl 1999, 100) genügt es für die Geltendmachung einer Rechtsverletzung auch, dass der Nachbar ein Interesse am Fortbestehen des Bebauungsplanes in seiner früheren Fassung hat (vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 20.8.1992 -- 4 NB 3.92 -- DVBl 1992, 1441).
Entgegen der Ansicht des Antragsgegners ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht deshalb ausgeschlossen, weil die Antragstellerin als Nachbarin nach §§ 80 f. VwGO vorläufigen Rechtsschutz gegen eine Baugenehmigung beantragen könnte, die die Bauaufsichtsbehörde im Vollzug des Bebauungsplanes auf Antrag der Äußerungsberechtigten erteilt (so aber Jörg Schmidt, in: Eyermann, VwGO, 11. Aufl. 2000, § 47 Rdnr. 107; von Albedyll, in: Bader, VwGO, 1999, § 47 Rdnr. 135 je mit Nachweisen). Die Funktion des vorläufigen Rechtsschutzes, die Entscheidungsfähigkeit des Verfahrens in der Hauptsache offen zu halten und eine Entscheidung nicht durch Zeitablauf zu entwerten, verbietet die Annahme der Subsidiarität der einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO gegenüber dem vorläufigen Rechtsschutz nach §§ 80 ff, 123 VwGO. Das vom Nachbarn eingeleitete Normenkontrollverfahren gegen den Bebauungsplan und die Nachbarklage haben ein unterschiedliches Rechtsschutzziel und hängen von unterschiedlichen Voraussetzungen ab. Die Nachbarklage richtet sich gegen die Baugenehmigung, ihr Erfolg hängt davon ab, dass die Baugenehmigung Rechte des Nachbarn verletzt. Der Normenkontrollantrag richtet sich gegen den normativen Beurteilungsmaßstab für Bauvorhaben auf dem Nachbargrundstück und hat schon dann Erfolg, wenn ein privater Belang des Nachbarn, der nicht den Rang eines Rechts erreichen muss, nicht hinreichend abgewogen worden ist. Verweist man den Nachbarn im Normenkontrollverfahren auf vorläufigen Rechtsschutz nach §§ 80 f. VwGO, macht man mit der Voraussetzung der Rechtsverletzung den vorläufigen Rechtsschutz von höheren Anforderungen abhängig als den Erfolg im Verfahren zur Hauptsache. Damit würde die Funktion des vorläufigen Rechtsschutzes vereitelt. Ebenso wie das vom Nachbarn eingeleitete Normenkontrollverfahren selbständig neben der Nachbarklage steht, ist daher auch das Eilverfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO unabhängig davon, ob dem Nachbarn die Möglichkeit eröffnet ist, gegen die spätere Baugenehmigung vorläufigen Rechtsschutz nach §§ 80 f. VwGO zu beantragen. Die Eilverfahren stehen selbständig und gleichberechtigt nebeneinander (vgl. Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand: Januar 2001, § 47 Rdnr. 141; Ziekow, in: Sodan/Ziekow, VwGO, Stand: Juli 2000, § 47 Rdnr. 398; Kopp/Schenke, VwGO, 12. Aufl. 2000, § 47 Rdnr. 149 je mit Nachw.).
Der Senat vermag dem Antragsgegner auch nicht in der Annahme zu folgen, der Erlass der einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO sei -- entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 32 BVerfGG -- grundsätzlich von einer Folgenabwägung abhängig zu machen und nicht von einer summarischen Erfolgskontrolle (vgl. Schoch a.a.O., § 47 Rdnr. 153 ff). Dementsprechend gewährt der Senat in ständiger Rechtsprechung (Beschl. v. 21.3.1988 -- 1 B 6/87 -- BRS 48 Nr. 30) vorläufigen Rechtsschutz aus "anderen wichtigen Gründen", wenn der Normenkontrollantrag mit großer Wahrscheinlichkeit Erfolg haben wird. Das ist hier der Fall.
Die Festsetzung des Grundstücks der Äußerungsberechtigten als Sondergebiet "Altenwohnen" widerspricht § 11 Abs. 1 BauNVO und ist aus diesem Grunde nichtig. Nach § 11 Abs. 1 BauNVO sind als sonstige Sondergebiete solche Gebiete festzusetzen, die sich von den Baugebieten nach §§ 2 bis 10 BauNVO wesentlich unterscheiden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschl. v. 18.12.1990 -- 4 NB 19.90 -- BRS 50 Nr. 19) liegt ein wesentlicher Unterschied im Sinne des § 11 Abs. 1 BauNVO vor, wenn ein Festsetzungsgehalt gewollt ist, der sich keinem der in den §§ 2 ff BauNVO geregelten Gebietstypen zuordnen und der sich deshalb sachgerecht mit einer auf sie gestützten Festsetzung nicht erreichen lässt. Ob sich ein Sondergebiet wesentlich von anderen Baugebieten unterscheidet, ist anhand eines Vergleichs der konkreten Zweckbestimmung des Sondergebietes mit den abstrakten allgemeinen Zweckbestimmungen der normierten Baugebiete der §§ 2 bis 10 BauNVO zu ermitteln (BVerwG, Beschl. v. 7.7.1997 -- 4 BN 11.97 -- BRS 59 Nr. 36). Demgemäß ist hier der Zweckbestimmung des festgesetzten Sondergebiets "Altenwohnen" die Zweckbestimmung der §§ 3 f. BauNVO gegenüberzustellen: Reine Wohngebiete dienen dem Wohnen, allgemeine Wohngebiete dienen vorwiegend dem Wohnen. Im Hinblick auf die Begriffsbestimmung der Wohngebäude nach § 3 Abs. 4 BauNVO lässt sich ein wesentlicher Unterschied zwischen der Zweckbestimmung "Altenwohnen" und "Wohnen" nach §§ 3 f. BauNVO nicht erkennen (vgl. auch VGH Bad.-Württ., Urt. v. 11.10.1994 -- 5 S 3142/93 -- NVwZ-RR 95, 155 [VGH Baden-Württemberg 11.10.1994 - 5 S 3142/93] für "betreute Seniorenwohnungen"). Zwar schränkt das festgesetzte Sondergebiet "Altenwohnen" die zulässigen Nutzungen gegenüber dem allgemeinen Wohnen nach §§ 3 f. BauNVO ein, das beabsichtigte Sondergebiet erhält durch diese Einschränkung aber nicht ein "eigenes Gesicht", mit dem es sich von einem reinen oder allgemeinen Wohngebiet unterscheidet. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Zweckbestimmung nicht auf Formen des betreuten Wohnens beschränkt ist, sondern auch altengerechte Wohnungen erfasst, die sich von sonstigen Wohnungen modernen Standards kaum unterscheiden dürften.
Die Erwägung der Äußerungsberechtigten, nur die Festsetzung des Sondergebietes sichere ihr Vorhaben dauerhaft vor einer Umnutzung, rechtfertigt nicht die Festsetzung eines Sondergebietes "Altenwohnen". § 11 Abs. 1 BauNVO macht die Festsetzung eines Sondergebiets nur davon abhängig, dass es sich von den Baugebieten nach den §§ 2 bis 10 BauNVO wesentlich unterscheidet. Es kommt nach dieser Bestimmung nicht darauf an, ob die Sondergebietsfestsetzung auch als Instrument gegen eine Umnutzung geeignet ist. Dabei kann offen bleiben, ob die Festlegung der Nutzung in der Baugenehmigung eine hinreichende Sicherung gegen Umnutzungen darstellt. Immerhin müssten im Falle einer Nutzungsänderung -- etwa in normales Wohnen -- die zusätzlichen Stellplätze geschaffen werden (§ 47 Abs. 2 Satz 2 NBauO), die für Wohnhäuser gegenüber Altenwohnungen erforderlich sind. Das könnte auf dem Grundstück der Äußerungsberechtigten auf Hindernisse stoßen. Darüber hinaus bleibt der Gemeinde die Möglichkeit, im allgemeinen Wohngebiet nach § 1 BauNVO entsprechend differenziert zu gliedern.
Die Ungültigkeit der Festsetzung des Baugebiets führt zur Gesamtnichtigkeit, weil die restlichen Festsetzungen ohne die nichtige Festsetzung Sondergebiet nicht sinnvoll bleiben (vgl. BVerwG, Beschl. v. 8.8.1989 -- 4 NB 2.89 -- DVBl 1989, 1103). Es bedarf aus diesem Grunde keiner abschließenden Erörterung, ob der Antragsgegner das Vertrauen der Antragstellerin in den ursprünglichen Bebauungsplan bei der Abwägung über die 1. Änderung hinreichend berücksichtigt hat.