Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 15.11.2019, Az.: 10 OB 210/19

grundlose Säumnis; Vollstreckung einer einstweiligen Anordnung; Zuweisung eines Betreuungsplatzes in einer Kindertageseinrichtung; Zwangsgeld gegen eine Behörde

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
15.11.2019
Aktenzeichen
10 OB 210/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 69838
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 25.09.2019 - AZ: 4 D 1228/19

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Vollstreckungsschuldner bezüglich der Zuweisung eines Betreuungsplatzes in einer Kindertageseinrichtung ist der Jugendhilfeträger unabhängig davon, ob er die Erfüllung der Aufgaben nach den §§ 22 und 24 SGB VIII im Innenverhältnis durch eine öffentlich-rechtliche Vereinbarung auf die Gemeinden übertragen hat.

2. Im Vollsteckungsverfahren ist allein der titulierte Anspruch des Vollstreckungsgläubigers auf Zuweisung eines Betreuungsplatzes in den Blick zu nehmen, der zwingend zu erfüllen ist. Die Frage, ob andere Kinder vorrangig bei der Platzvergabe zu berücksichtigen sind, betrifft dagegen den materiell-rechtlichen Anspruch, über den im Erkenntnisverfahren entschieden worden ist.

Tenor:

Die Beschwerden des Vollstreckungsschuldners sowie der Beigeladenen gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stade - 4. Kammer - vom 25. September 2019 werden zurückgewiesen.

Der Vollstreckungsschuldner und die Beigeladene tragen die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens jeweils zur Hälfte. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Die Beschwerden des Vollstreckungsschuldners sowie der Beigeladenen gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts, mit welchem dem Vollstreckungsschuldner auf Antrag des Vollstreckungsgläubigers ein Zwangsgeld in Höhe von 2.500,- EUR für den Fall angedroht worden ist, dass er der ihm durch den rechtskräftigen Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 19. Juli 2019 (4 B 807/19) auferlegten Verpflichtung, dem Vollstreckungsgläubiger einen Betreuungsplatz in einer Vormittagsgruppe einer wohnortnahen Kindertageseinrichtung zu verschaffen, nicht innerhalb einer Frist von sechs Wochen nach Zustellung der Entscheidung nachkommt, haben keinen Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, dass die Voraussetzungen für die Androhung eines Zwangsgeldes nach § 172 Satz 1 VwGO gegeben seien. Zwischen den Beteiligten sei unstreitig, dass der Vollstreckungsgläubiger seiner Verpflichtung aus der einstweiligen Anordnung vom 19. Juli 2019 bisher nicht nachgekommen sei. Er habe zudem vorgetragen, dass er ihr aller Voraussicht nach auch in absehbarer Zeit nicht nachkommen können werde. Dieses Versäumnis des Vollstreckungsschuldners sei auch „grundlos“ im Sinne der ober- und höchstrichterlichen Rechtsprechung, da es dem Vollstreckungsschuldner und der Beigeladenen zur Überzeugung der Kammer rechtlich und tatsächlich möglich sei, den Anspruch des Vollstreckungsgläubigers aus § 24 Abs. 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII) i.V.m. § 12 Abs. 1 des Niedersächsischen Gesetzes über Tageseinrichtungen für Kinder (KiTaG) zu erfüllen, da sich unabhängig von der Eröffnung weiterer Kindertageseinrichtungen oder Gruppen im Stadtgebiet der Beigeladenen auf andere Weise weitere Betreuungsmöglichkeiten schaffen ließen.

Das Beschwerdevorbringen des Vollstreckungsschuldners sowie der Beigeladenen, auf dessen Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigt keine andere Bewertung.

Soweit sich der Vollstreckungsschuldner darauf beruft, keine eigenen Kindertageseinrichtungen zu betreiben und daher den Rechtsanspruch des Vollstreckungsgläubigers nicht erfüllen zu können, dringt er damit nicht durch. Die mit der Beigeladenen geschlossene Vereinbarung über deren Übernahme der Aufgaben nach den §§ 22 und 24 SGB VIII betrifft nur das Innenverhältnis zwischen dem Vollstreckungsgläubiger und der Beigeladenen und berührt die weiterhin gegenüber dem Vollstreckungsgläubiger bestehende Verpflichtung nicht. Da der Vollstreckungsschuldner dementsprechend durch den dem vorliegenden Verfahren zu Grunde liegenden Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 19. Juli 2019 verpflichtet wurde, ist er auch der richtige Vollstreckungsschuldner, der durch die streitgegenständliche Androhung des Zwangsgeldes zur Erfüllung der aus dem Tenor des genannten Beschlusses erwachsenden Pflichten angehalten werden soll. Die Androhung eines Zwangsgeldes gegenüber der Beigeladenen, die im Innenverhältnis zum Vollstreckungsschuldner voraussichtlich auf Grund der genannten Vereinbarung zur Erstattung des ggf. festzusetzenden Zwangsgeldes verpflichtet ist, wäre auf Grundlage von § 172 Satz 1 VwGO nicht möglich, da dieser in der einstweiligen Anordnung keine Verpflichtung auferlegt wurde. Würde man unterstellen, dass die Androhung eines Zwangsgeldes gegenüber dem Vollstreckungsschuldner auf Grund der internen Kostenfreistellung die beabsichtigte Beugewirkung nicht entfalten könne, so liefe dies im Ergebnis darauf hinaus, dass Ansprüche im Bereich der §§ 22 bis 24 SGB VIII weder gegenüber dem Jugendhilfeträger noch gegenüber der im Innenverhältnis verpflichteten Gemeinde effektiv durchgesetzt werden könnten. Eine solche Auslegung widerspräche dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelungen und würde nicht unerhebliche Missbrauchsmöglichkeiten durch den Abschluss derartiger Vereinbarungen eröffnen. Vollstreckungsschuldner ist und bleibt daher der Beklagte bzw. Antragsgegner des Erkenntnisverfahrens (vgl. Pietzer/Möller in Schock/Schneider/Bier, VwGO, Stand 2019, § 172 Rn. 8 und 27).

Die Beschwerdeführer können auch nicht mit Erfolg geltend machen, sie seien nicht grundlos säumig.

Nach § 172 Satz 1 VwGO kann das Gericht des ersten Rechtszuges auf Antrag unter Fristsetzung gegen eine Behörde ein Zwangsgeld bis zehntausend Euro durch Beschluss androhen, nach fruchtlosen Fristablauf festsetzen und von Amts wegen vollstrecken, wenn die Behörde der ihr in einem Verpflichtungsurteil oder in einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO auferlegten Verpflichtung nicht nachkommt. Da die Entscheidung über die Androhung, Festsetzung und Vollstreckung eines Zwangsgeldes demnach im Ermessen des Gerichts steht, ist neben der Prüfung der allgemeinen
Voraussetzungen der Vollstreckung auch zu prüfen, ob der Behörde billigerweise zugemutet werden konnte, in der seit dem Ergehen der Entscheidung verstrichenen Zeit die darin ausgesprochene Verpflichtung zu erfüllen, also ob die Versäumung der vom Gericht auferlegten Pflicht „grundlos“ erfolgt ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30.12.1968
– I WB 31.68 –, BVerwGE 33, 230-232, juris Leitsatz 2 und Beschluss vom 21.12.2001 – 2 AV 3/01 –, juris Rn. 2; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 25.03.1976 – IV 559/76 –, juris Leitsatz 1 vom 07.02.1997 – 5 S 173/97 –, juris Rn. 2 und vom 29.05.2015 – 10 S 835/15 –, juris Rn. 3 und 40; Bayerischer VGH, Beschluss vom 01.04.2004 – 11 C 03.2911 –, juris Rn. 23; Pietzer/Möller in Schock/Schneider/Bier, VwGO, Stand 2019, § 172 Rn. 33; Heckmann in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 172 Rn. 59). Ein Verschulden des Vollstreckungsschuldners ist nicht erforderlich (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.05.2015 – 10 S 835/15 –, juris Rn. 40; Heckmann in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 172 Rn. 59). Voraussetzung für eine „grundlose Säumnis“ ist jedoch, dass dem Schuldner die Erfüllung möglich ist, sie also von seinem Willen abhängt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16.09.1975 – V C 76.74BVerwGE 49, 169 ff., 171, juris Rn. 11 zu § 11 Abs. 1 Satz 1 VwVG; Kraft in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 172 Rn. 15).

Diese Voraussetzung ist entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer erfüllt, denn diese haben nicht nachgewiesen, dass ihnen die Erfüllung der einstweiligen Anordnung seit deren Erlass unmöglich war.

Unberücksichtigt bleiben muss hier der Einwand der Beschwerdeführer, dass der Vollstreckungsgläubiger auf Platz 129 der Warteliste der Beigeladenen stehe und dementsprechend zunächst 128 andere Kinder vorrangig bei der Vergabe möglicher freier Vormittagsplätze zu berücksichtigen seien. Die Frage der Möglichkeit der Schaffung von weiteren 128 Plätzen für diese Kinder stellt sich im vorliegenden Verfahren nicht, da über deren eventuelle Ansprüche nicht entschieden worden ist und es hier folglich nicht um die Vollstreckung von deren rechtskräftig festgestellten Ansprüchen geht. Im vorliegenden Vollstreckungsverfahren ist vielmehr allein der titulierte Anspruch des Vollstreckungsgläubigers in den Blick zu nehmen, der zwingend zu erfüllen ist. Die Frage, ob freiwerdende oder neu geschaffene Betreuungsplätze aus Gründen der Gleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG zunächst mit anderen Kindern als dem Vollstreckungsgläubiger zu besetzen wären, betrifft allein den materiell-rechtlichen Anspruch des Vollstreckungsgläubigers, über den das Verwaltungsgericht mit dem nicht mehr anfechtbaren Beschluss vom 19. Juli 2019 (4 B 807/19) entschieden hat. Rügen gegen die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung sind ausschließlich dem Rechtsmittelverfahren vorbehalten. Ist gegen die gerichtliche Entscheidung ein Rechtsmittel nicht (mehr) eröffnet, verwehrt es die Rechtskraft den Beteiligten, den Geltungsanspruch der in der unanfechtbar gewordenen Entscheidung statuierten Rechtsfolgen mit dem Argument in Frage zu stellen, diese Entscheidung sei aus Gründen des Verfahrens- oder des materiellen Rechts fehlerhaft (Bayerischer VGH, Beschluss vom 14.08.2018 – 22 C 18.583, 22 C 18.667 –; juris Rn. 84).

Bezüglich des hier allein in Rede stehenden titulierten Anspruchs des Vollstreckungsgläubigers haben die Beschwerdeführer nicht dargelegt, alle Möglichkeiten ausgeschöpft zu haben, dem Vollstreckungsgläubiger einen Vormittagsplatz in einer wohnortnahen Kindertagesstätte zu verschaffen. Hierfür wäre u.a. der Nachweis einer Nachfrage bei allen Inhabern von Vormittagsplätzen erforderlich, ob der Wechsel in eine Nachmittagsgruppe möglich wäre, da die Beigeladene nach dem Vortrag des Vollstreckungsschuldners im Schriftsatz vom 9. Oktober 2019 (Bl. 149 der Gerichtsakte) über ausreichend freie Nachmittagsplätze verfügt, oder ob ein Verlassen der jeweiligen Kindertagesstätte beispielsweise wegen eines Wohnortswechsels der Eltern in Betracht kommt. Weiterhin bedürfte es des genauen Nachweises aller vorhandenen Plätze in den Kindertageseinrichtungen im Stadtgebiet der Beigeladenen einschließlich der Gruppengröße und des Personalschlüssels sowie Angaben über die Fluktuation der letzten Monate. Angesichts des Fehlens dieser Nachweise kann die Frage der praktischen Durchführbarkeit der vom Verwaltungsgericht angedachten Aufsplittung der vorhandenen Ganztagesplätze in Vor- und Nachmittagsplätze zur Schaffung weiterer Betreuungsmöglichkeiten vorliegend dahinstehen. Es ist jedoch anzumerken, dass es dem Vollstreckungsschuldner obliegt, alle – auch überobligatorischen – Anstrengungen zu unternehmen, den in seinem Zuständigkeitsbereich bestehenden (soweit bekannt) landesweit beispielslosen Mangel an Betreuungsplätzen zu beheben.

Die Kostenentscheidungen beruhen auf §§ 154 Abs. 2, 188 VwGO.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).