Verwaltungsgericht Stade
Beschl. v. 15.07.2004, Az.: 6 B 974/04
Antrag auf Aufnahme und gleichzeitige vorläufige Freistellung einer Schülerin; Erfolgte Freistellung einer Schülerin aufgrund Mobbings durch Mitschüler; Wechsel der Schulen zwischen zwei Bundesländern; Bildungsangebote der einzelenen Schulen
Bibliographie
- Gericht
- VG Stade
- Datum
- 15.07.2004
- Aktenzeichen
- 6 B 974/04
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2004, 15222
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGSTADE:2004:0715.6B974.04.0A
Rechtsgrundlagen
- § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO
- § 59 Abs. 1 NSchG
- § 1 Abs. 1 S. 1 der Vereinbarung der Gegenseitigkeit des Besuchs öffentlicher Schulen zwischen den Ländern Niedersachsen und Bremen
- § 3 Abs. 1 Nr. 1 der Vereinbarung der Gegenseitigkeit des Besuchs öffentlicher Schulen zwischen den Ländern Niedersachsen und Bremen
Verfahrensgegenstand
Freistellung vom Schulbesuch in Niedersachsen;
hier: Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO
Prozessführer
A.
Prozessgegner
Bezirksregierung Lüneburg,
Auf der Hude 2, 21339 Lüneburg, - C. -
Redaktioneller Leitsatz
- I)
Die Erziehungsberechtigten haben gem. § 59 Abs. 1 NSchG im Rahmen der Regelungen des Bildungsweges die Wahl zwischen den Schulformen und Bildungsgängen, die zur Verfügung stehen. Mit Bildungsweg wird der Weg des einzelnen Schülers von der ersten Aufnahme in die Einrichtung Schule bis zur Erlangung des angestrebten oder auch nur erreichten Abschlusses bezeichnet. Der Bildungsgang kenntzeichnet das abstrakte Bildungsangebot einer Fachrichtung.
- II)
Nach § 1 Abs. 1 S.1 der Vereinbarung der Gegenseitigkeit des Besuchs öffentlicher Schulen zwischen den Ländern Niedersachsen und Bremen besteht die grundsätzliche Möglichkeit, dass niedersächsische und bremische Schülerinnen und Schüler in die öffentlichen Schulen des jeweils anderen Landes aufgenommen werden.
In der Verwaltungsrechtssache
hat das Verwaltungsgericht Stade - 6. Kammer -
am 15. Juli 2004
beschlossen:
Tenor:
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 4.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
Der Antrag, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu verpflichten, für die (vorläufige) Aufnahme der Antragstellerin in dem Schulzentrum an der D. in Bremen zum Schuljahr 2004/2005 eine vorläufige Freistellungserklärung abzugeben, hat keinen Erfolg.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO ist eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um von dem Rechtssuchenden wesentliche Nachteile abzuwenden. Ihrer Natur nach darf eine solche Anordnung nur eine einstweilige Regelung treffen oder einen vorläufigen Zustand schaffen. Dieser Sicherungszweck der einstweiligen Anordnung verbietet es im Allgemeinen, einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren vorzugreifen. Von diesem Grundsatz hat die Rechtsprechung aber Ausnahmen zugelassen, wenn wirksamer Rechtsschutz im Klageverfahren nicht oder nicht rechtzeitig erreichbar ist und dies für den Antragsteller zu schlechthin unzumutbaren Nachteilen führen würde. Darüber hinaus setzt eine solche Vorwegnahme der Hauptsache, wie sie hier erstrebt wird, voraus, dass ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg auch in der Hauptsache spricht. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.
Zwar hat die Antragstellerin den erforderlichen Anordnungsgrund (§ 920 Abs. 2 ZPO, § 123 Abs. 3 VwGO) glaubhaft gemacht. Die Sache ist eilbedürftig, weil bis zum Beginn des Schuljahres 2004/2005 eine rechtskräftige Klärung in dem anhängigen Klageverfahren - 6 A 846/04 - nicht möglich sein wird.
Die Antragstellerin hat aber einen Anordnungsanspruch (§ 920 Abs. 2 ZPO, § 123 Abs. 3 VwGO) nicht glaubhaft gemacht. Nach dem derzeitigen Sachstand liegen die Voraussetzungen für die Abgabe einer Freistellungserklärung im Falle der Antragstellerin nicht vor.
Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 der Vereinbarung der Gegenseitigkeit des Besuchs öffentlicher Schulen zwischen den Ländern Niedersachsen und Bremen vom 1. März 1996 (vgl. die Anlage 1 des Erlasses des Nds. Kultusministeriums - MK - vom 6. Juni 1999 (SVBl. S. 156), geändert durch Erlass vom 20. Juni 2001 (SVBl. S. 282)) besteht die grundsätzliche Möglichkeit, dass niedersächsische und bremische Schülerinnen und Schüler in die öffentlichen Schulen des jeweils anderen Landes aufgenommen werden. Diese grundsätzliche gegenseitige Bereitschaft soll allerdings nach dem Willen der Vertragspartner, wie sich aus § 2 der Vereinbarung ergibt, restriktiv gehandhabt werden. Nach § 3 Abs. 1 der Vereinbarung dürfen Schülerinnen und Schüler daher nur in die Schulen des jeweils anderen Landes aufgenommen werden, wenn eine schriftliche Erklärung der für die Hauptwohnung der Schülerin oder des Schülers zuständigen Schulbehörde - dies ist hier die Antragsgegnerin - vorgelegt wird, dass
- 1.
durch den Besuch einer bestimmten Schule des aufnehmenden Landes für die Schülerin oder den Schüler oder ihre oder seine Familie eine unzumutbare Härte abgewendet würde oder
- 2.
der Besuch dieser Schule im Einzelfall aus pädagogischen Gründen geboten ist (im Folgenden "Freistellungserklärung" genannt).
Gemäß Nr. 1.1 - letzter Absatz - des Erlasses des MK vom 6. Juni 1999 (i.d.F. vom 20. Juni 2001) ist bei der Einzelfallentscheidung über die Abgabe einer Freistellungserklärung ein strenger Maßstab anzulegen. Für die Frage, ob eine unzumutbare Härte vorliegt, sind die Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die bei einer Entscheidung nach § 63 Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 des Nds. Schulgesetzes - NSchG - zugrunde zu legen wären (Nr. 1.2 der Erlasses). Pädagogische Gründe im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 2 der Vereinbarung sind im Wesentlichen die gleichen Gründe, die auch bei der Anwendung des § 63 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 NSchG anzuerkennen wären (Nr. 1.3 - Abs. 1 - des Erlasses). Darüber hinaus sind auch die Fälle als pädagogische Gründe anzuerkennen, in denen eine Schule in Bremen besucht werden soll, die einen Bildungsgang (§ 59 Abs. 1 NSchG analog) anbietet, der in Niedersachsen nicht oder nicht in zumutbarer Entfernung zur Verfügung steht (Nr. 1.3 - Abs. 2 - des Erlasses). Keine dieser Fallgestaltungen liegt hier vor.
Entgegen der Auffassung der Antragstellerin ist der Besuch des Schulzentrums an der D. in Bremen nicht aus pädagogischen Gründen geboten, da es sich bei dem bilingualen Angebot des Gymnasiums dieses Schulzentrums nicht um einen Bildungsgang im Sinne von Nr. 1.3 - Abs. 2 - des Erlasses i.V.m. § 59 Abs. 1 NSchG handelt.
Der Begriff des Bildungsgangs ist im NSchG weder in der in Nr. 1.3 - Abs. 2 - des Erlasses in Bezug genommenen Vorschrift des § 59 Abs. 1 noch in anderen Vorschriften definiert (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 20. Dezember 1995 - 13 L 7880/94 -, Nds.VBl. 1996, 237, 239). Gemäß § 59 Abs. 1 NSchG haben die Erziehungsberechtigten im Rahmen der Regelungen des Bildungsweges die Wahl zwischen den Schulformen und Bildungsgängen, die zur Verfügung stehen. Mit "Bildungsweg" (vgl. auch § 60 NSchG) wird der Weg des einzelnen Schülers von der ersten Aufnahme in die Einrichtung Schule bis - mit Wechsel in der Schulform und der Unterrichtsart - zur Erlangung des angestrebten oder auch nur erreichten Abschlusses bezeichnet (Nds. OVG, Urteil vom 20. Dezember 1995, a.a.O.; Wolterung/Bräth, NSchG, 4. Aufl. 1998, Rdnr. 2 zu § 60). Dieser individuelle Bildungsweg ist nicht identisch mit dem Begriff "Bildungsgang" in § 59 Abs. 1 NSchG (Nds. OVG, Urteil vom 20. Dezember 1995, a.a.O.; Woltering/Bräth, a.a.O.). Der "Bildungsgang" kennzeichnet das abstrakte Bildungsangebot einer Fachrichtung (Nds. OVG, Urteil vom 20. Dezember 1995, a.a.O.). Als Bildungsgang (auch im Sinne von § 59 Abs. 1 NSchG) ist die besondere fachliche Schwerpunktbildung in einem schulischen Angebot anzusehen, die sich im Allgemeinen zugleich in einer besonderen Gestaltung des Abschlusses auswirkt (Nds. OVG, Urteil vom 20. Dezember 1995, a.a.O.; Woltering/Bräth, a.a.O., Rdnr. 4 zu § 59).
Bereits vom Bildungsangebot her ist es nicht gerechtfertigt, das Gymnasium des Schulzentrums an der D. mit seinem bilingualen Angebot als Schule mit einem besonderen Bildungsgang anzusehen. Die dort vorgesehenen Lehrinhalte unterscheiden sich nicht wesentlich von denen an einem herkömmlichen Gymnasium. Zwar wird das Fach Englisch mit einem höheren Stundenanteil als üblich unterrichtet und auch als Unterrichtssprache in weiteren Fächern benutzt. Festzuhalten bleibt aber, dass das Fach Englisch auch bei den herkömmlichen Schulen angeboten wird. Dass dies nicht in gleichem Umfang geschieht, betrifft aber nur die Intensität der Vermittlung dieser Fremdsprache. Ein besonderer Bildungsinhalt hingegen wird durch - teilweise - bilingualen Unterricht nicht angeboten. Die in der bilingualen Klasse des Gymnasiums des Schulzentrums an der D. unterrichteten Fächer unterscheiden sich - mit Ausnahme des zusätzlichen Faches "European Studies" ab Klasse 9 - inhaltlich nicht von denen an einem herkömmlichen Gymnasium. Der zweisprachige Unterricht findet auch nicht etwa durchgängig in allen, sondern lediglich phasenweise in einzelnen Fächern statt. Bis zum Abschluss der 8. Klasse werden pro Schuljahr neben dem Fach Englisch nur jeweils zwei Fächer jeweils zweistündig bilingual unterrichtet. Unter Berücksichtigung, dass hier somit kein fachlicher Schwerpunkt im sprachlichen Bereich durch obligatorischen Unterricht in mehreren Fremdsprachen, sondern allein im Fach Englisch gesetzt wird, und vor dem Hintergrund, dass nicht alle, sondern nur einzelne Fächer bilingual unterrichtet werden, kann in dem bilingualen Angebot des Gymnasiums des Schulzentrums an der D. nur eine Schwerpunktsetzung im Profil der Schule, aber kein eigenständiger Bildungsgang gesehen werden (vgl. auch Littmann in Seyderhelm/Nagel/Brockmann, Niedersächsisches Schulgesetz, § 59, Rdnr. 2.1).
Für die Auffassung, dass ein eigenständiger Bildungsgang des Gymnasiums des Schulzentrums an der D. nicht aus dem dort angebotenen bilingualen Unterricht abgeleitet werden kann, spricht auch, dass mit dem Besuch der bilingualen Klasse dieses Gymnasiums kein besonderer Abschluss verbunden ist. Das bilinguale Angebot am Gymnasium des Schulzentrums an der D. besteht nur für die Schuljahrgänge 7 bis 10. Nach der 10. Klasse wechseln die Schülerinnen und Schüler in eine gymnasiale Oberstufe. Es besteht dann zwar die Möglichkeit, an eine Schule, die in der gymnasialen Oberstufe bilingualen Unterricht anbietet, zu wechseln, zwingend ist dies aber nicht.
Auch der Hinweis der Antragstellerin, der Besuch der bilingualen Klasse des Gymnasiums des Schulzentrums an der D. könne mit dem europaweit anerkannten Englisch-Zertifikat der Cambridge University abgeschlossen werden, rechtfertigt nicht die Annahme eines eigenen Bildungsganges. Bei dem Erwerb des "Certificate in Advanced English" der University of Cambridge handelt es sich nicht um einen schulischen Abschluss. Die Schule bietet ihren Schülern nur die Möglichkeit, durch die Universität in Cambridge das genannte Zertifikat zu erhalten. Die Möglichkeit, das Cambridge-Zertifikat zu erwerben, steht jedoch jedem Schüler, insbesondere denen, die in der gymnasialen Oberstufe den Leistungskurs Englisch belegen, offen. Die Prüfung ist nicht an besondere Zulassungsvoraussetzungen geknüpft.
Da somit das Gymnasium des Schulzentrums an der D. mit seinem bilingualen Angebot keinen eigenständigen Bildungsgang anbietet, liegen pädagogische Gründe nach § 3 Abs. 1 der Vereinbarung der Gegenseitigkeit des Besuchs öffentlicher Schulen zwischen den Ländern Niedersachsen und Bremen nicht vor.
Auch eine unzumutbare Härte i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 der Vereinbarung der Gegenseitigkeit des Besuchs öffentlicher Schulen zwischen den Ländern Niedersachsen und Bremen ist nicht gegeben. Eine unzumutbare Härte liegt insbesondere nicht wegen der Entfernung und Erreichbarkeit der für die Antragstellerin zuständigen Schule - E. - in Niedersachsen vor. Soweit die Antragstellerin geltend macht, die nächstgelegene Schule in Niedersachsen, die bilingualen Unterricht anbiete, liege in F. und damit unzumutbar weit entfernt, verkennt sie, dass es auf die Entfernung zu dieser Schule nicht ankommt. Eine unzumutbare Härte i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 der Vereinbarung der Gegenseitigkeit des Besuchs öffentlicher Schulen zwischen den Ländern Niedersachsen und Bremen i.V.m. § 63 Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 NSchG kann nur begründet werden, wenn die zuständige Schule vom Wohnsitz der Erziehungsberechtigten weit entfernt und schwer zu erreichen ist. Da - wie oben dargelegt - die Schule in F. keinen von der Antragstellerin verfolgten eigenständigen Bildungsgang anbietet, handelt es sich bei dieser Schule nicht um die zuständige Schule.
Soweit die Antragstellerin darauf hinweist, dass die Antragsgegnerin im Fall ihrer Schwester H. und im Fall der Schülerin G. eine Freistellungserklärung abgegeben hat, ist darauf hinzuweisen, dass es sich insoweit nicht um vergleichbare Fälle handelt. Die Schülerin G. ist nicht aus pädagogischen Gründen für den Besuch des bilingualen Unterrichts, sondern zur Vermeidung einer besonderen Härte ("Mobbing durch Mitschüler") freigestellt worden. Die Freistellungserklärung für die Schwester der Antragstellerin, H., erfolgte anlässlich eines Umzugs, um eine besondere Härte zu vermeiden.
Nach alledem war der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 13 Abs. 1 Satz 2, 20 Abs. 3 GKG.
Streitwertbeschluss:
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 4.000,00 Euro festgesetzt.
Reccius
Teichmann-Borchers