Landgericht Göttingen
Urt. v. 25.08.2004, Az.: 5 S 123/03
Haftung eines Automobilherstellers für das Inverkehrbringen eines fehlerhaften Produktes nach den Grundsätzen der Produzentenhaftung wegen der Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht ; Voraussetzungen eines Instruktionsfehlers im Rahmen der Produzentenhaftung; Grundsätze der Haftung eines Herstellers nach dem Produkthaftungsgesetz (PHG)
Bibliographie
- Gericht
- LG Göttingen
- Datum
- 25.08.2004
- Aktenzeichen
- 5 S 123/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2004, 35561
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LGGOETT:2004:0825.5S123.03.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- AG Göttingen - 01.10.2003 - AZ: 28 C 55/03
Rechtsgrundlagen
- § 823 Abs. 1 BGB
- § 847 BGB a.F.
- § 1 Abs. 4 PHG
- § 3 PHG
Fundstelle
- DAR 2005, 161-162 (Volltext mit amtl. LS)
In dem Rechtsstreit
hat die 5. Zivilkammer des Landgerichts Göttingen
auf die mündliche Verhandlung vom 19.05.2004
durch
den Vorsitzenden Richter am Landgericht F,
den Richter am Landgericht G und
die Richterin am Landgericht H
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 01. Okt. 2003 verkündete Urteil des Amtsgerichts Göttingen - 28 C 55/03 - geändert:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz und die des Berufungsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Wert des Berufungsverfahrens: 2.137,-- EUR.
Gründe
I.
Die Klägerin nimmt die Beklagte im Rahmen der Produzentenhaftung auf Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld in Anspruch und begehrt die Feststellung, dass die Beklagte für zukünftig eintretende Schäden zu 2/3 einzustehen hat.
Der Ehemann der Klägerin ist Halter eines im März 1998 erstmals zugelassenen BMWs, welcher von der Beklagten hergestellt worden ist. Am 02. März 2002 wollte die Klägerin, die auf dem Beifahrersitz saß, einen Krümel aus dem Beifahrerfenster werfen. Der Pkw ist mit elektrischen Fensterhebern ausgestattet, deren Schalter sich auf der Mittelkonsole des Pkws befinden. Die Klägerin betätigte den Schalter und öffnete das Beifahrerfenster mindestens zu 1/4, um den Krümel hinauszuwerfen. Während sie den Krümel hinauswarf, kam sie, ohne dies zu bemerken, an den Schalter, so dass die Scheibe von ihr unbemerkt wieder hochfuhr. Der Mittelfinger der rechten Hand wurde im Bereich der Fingerkuppe zwischen Fensteroberkante und Türrahmenkante eingeklemmt, so dass es zu einer tangentialen Amputation der Weichteile der betreffenden Fingerkuppe kam. Die Klägerin ist unmittelbar nach dem Vorfall in der Universitätsklinik I behandelt worden. Sie ist noch nicht beschwerdefrei.
Der Schalter zum Öffnen und Schließen der elektrischen Fenster ist dreistufig ausgeführt. Wird der Wippschalter bis zum Druckpunkt gedrückt, bewegt sich das Fenster so lange, wie der Wippschalter gedrückt wird (1). Wird der Wippschalter über den Druckpunkt hinaus kurz angedrückt, bewegt sich das Fenster automatisch nach oben. Um die Bewegung wieder zu stoppen, muss der Schalter erneut kurz angetippt werden (2). Wird der Schalter über den Druckpunkt hinaus gedrückt und gedrückt gehalten, so fährt das Fenster nach oben, bis es geschlossen ist (3). Das Fahrzeug verfügt über einen sog. "Klemmschutz", zu dem in der Bedienungsanleitung ausgeführt ist:
"Unkontrolliertes und unachtsames Schließen der Fenster kann Körperverletzungen nach sich ziehen. Schutzfunktion: Trifft eines der Vorderfenster beim Schließen auf einen Widerstand, bleibt es stehen und öffnet sich wieder etwas. Diese Schutzfunktion können sie außer Kraft setzen (z.B. bei unbefugtem Zugriff von außen), indem Sie den Schalter über den Druckpunkt hinaus drücken und halten."
Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, es liege ein Produktfehler oder Instruktionsfehler vor, da die Fensterscheibe entgegen der Bedienungsanleitung der Beklagten, obwohl sich der Finger zwischen Fensteroberkante und Türoberkante befunden habe, nicht zum Stillstand gekommen sei. Die Bedienungsanleitung verspreche einen uneingeschränkten Schutz, der jedoch gerade nicht gewährleistet sei. Unter Anrechnung eines Mitverschuldens in Höhe von 1/3 begehrt sie Schmerzensgeld, Erstattung von ärztlichen Berichtskosten in Höhe von 60,95 EUR und Aufwendungen für die Erstellung einer Verdienstbescheinigung des Steuerberaters in Höhe von 141,13 EUR, ferner Verdienstausfall und einen Haushaltsführungsschaden.
Hinsichtlich der erstinstanzlichen Anträge wird auf das Urteil des Amtsgerichts Göttingen vom 01. Oktober 2004 Bezug genommen.
Die Beklagte hat erstinstanzlich die Ansicht vertreten, es läge weder ein Produkt noch ein Instruktionsfehler vor. Jedenfalls treffe die Klägerin ein so hohes Mitverschulden, dass eine Haftung der Beklagten dahinter zurücktrete.
Vorprozessual hat die Klägerin ein selbstständiges Beweisverfahren unter dem Aktenzeichen 20 H 1/02 durchgeführt. Wegen der Einzelheiten des schriftlichen Gutachtens wird auf die Ausführungen des Sachverständigen J vom 14. Juni 2002 Bezug genommen.
Das Amtsgericht hat durch Grund- und Teilurteil der Klägerin antragsgemäß die Erstattung der ärztlichen Berichtskosten, der Kosten für die Erstellung einer Verdienstbescheinigung des Steuerberaters und ein Schmerzensgeld in Höhe von 1.000,-- EUR zuerkannt. Schließlich hat es festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin einen weiteren materiellen und immateriellen Schaden mit einer Haftungsquote von 2/3 zu ersetzen. Hinsichtlich des geltend gemachten Verdienstausfalls und des Haushaltsführungsschadens hat die Kammer der Höhe nach noch nicht entschieden. Das Amtsgericht ist der Auffassung, dass die Beklagte gemäß § 823 Abs. 1 BGB als Produzentin für das Inverkehrbringen des fehlerhaften Produkts wegen Verstoßes gegen die dem Hersteller obliegende Verkehrssicherungspflicht hafte. Der Fensterheber weise einen sog. Instruktionsfehler auf. Da in der Bedienungsanleitung unter der Rubrik Schutzfunktion keinerlei Einschränkungen hinsichtlich Art und Größe des Widerstandes gemacht sind, habe die Klägerin davon ausgehen können, dass der Schutz in der von der Klägerin geschilderten Situation funktioniere. Das Sachverständigengutachten habe hingegen ergeben, dass bei einem Winkel von 45 Grad der "Klemmschutz" überhaupt nicht funktioniere und bei einem waagerechten Widerstand erst bei erheblichem Gegendruck. Darauf hätte die Beklagte hinweisen müssen.
Gegen dieses Grund- und Teilurteil hat die Beklagte Berufung eingelegt. Sie begründet diese damit, dass es an der Kausalität zwischen dem behaupteten Fehler und dem Schaden fehle, weil ein ununterbrochenes Drücken, das den "Klemmschutz" außer Kraft setze, nicht auszuschließen sei. Ein Instruktionsfehler liege nicht vor. Der Warnhinweis reiche aus. Ein Hinweis auf einen nicht uneingeschränkten Schutz sei nicht erforderlich. Schließlich behauptet sie, dass die Klägerin auf die Schutzfunktion nicht vertraut habe, weil sie das Schließen des Fensters unbeabsichtigt ausgelöst habe.
Die Beklagte beantragt,
unter Abänderung des am 01. Oktober 2003 verkündeten Grund- und Teilurteils des Amtsgerichts Göttingen - 28 C 55/03 - die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Göttingen - 28 C 55703 - vom 1. Oktober 2003 zurückzuweisen.
Sie verteidigt das erstinstanzliche Urteil und ist der Ansicht, dass der Einklemmschutz gerade für unbewusstes Auslösen der Fensterheber gedacht sei. Gerade im Hinblick auf diesen "Klemmschutz" sei ein Fahrzeug auch mit elektrischen Fensterhebern gekauft worden. Sie schließt für sich aus, dass sie den Schließschalter dauerhaft gedrückt gehalten hat.
II.
Die Berufung ist zulässig und begründet.
Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld oder Schadensersatz oder Feststellung, dass die Beklagte auch für zukünftig eintretende Schäden einzustehen hat.
1.
Die Klägerin hat keinen Anspruch aus §§ 823 Abs. 1 BGB, 847 BGB a.F.
Die Beklagte hat zwar ein Produkt, nämlich den Pkw mit elektrischen Fensterhebern in den Verkehr gebracht. Es kann jedoch nicht festgestellt werden, dass das Produkt fehlerhaft war, also die Beklagte durch das Inverkehrbringen des Produktes ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt hat und dadurch ein Schaden verursacht worden ist.
Ein Fehler liegt dann vor, wenn ein Produkt nicht die Sicherheit bietet, die unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der Darbietung und des Gebrauchs mit dem billigerweise gerechnet werden kann, berechtigterweise erwartet werden kann (vgl. § 3 PHG). In Betracht kommen Fabrikations-, Konstruktions- und Instruktionsfehler.
a)
Ein Fabrikationsfehler, nämlich ein selbsttätiges Hochfahren der Fensterscheibe, ohne dass der entsprechende Bedienungsknopf betätigt wird, wird von der Klägerin nicht mehr behauptet.
b)
Ein Konstruktionsfehler liegt ebenfalls nicht vor, denn dass die Beklagte insoweit gegen technische Erkenntnisse verstoßen hätte oder nach dem damaligen Stand der Technik ein anderer Standard üblich gewesen wäre, hat die Klägerin nicht behauptet.
c)
Es liegt auch kein Instruktionsfehler vor. Ein solcher ist gegeben bei mangelhafter Gebrauchsanweisung oder nicht ausreichender Warnung vor Gefahr bringenden Eigenschaften. Ferner muss auf Gefahren bei nahe liegendem Fehlgebrauch hingewiesen werden, wobei allgemeines Erfahrungswissen nicht Inhalt einer Warnung sein muss. Ein Instruktionsfehler könnte hier überhaupt nur dann vorliegen, wenn ausgeschlossen werden kann, dass das Fenster deshalb hochgefahren ist, weil die Klägerin den Schalter auf der Mittelkonsole über den Druckpunkt hinaus gedrückt hat, denn für diesen Fall weist die Bedienungsanleitung ausdrücklich darauf hin, dass der sog. Klemmschutz nicht funktioniert.
Die Kammer kann nicht feststellen, dass der Schalter nicht über den Druckpunkt hinaus dauerhaft gedrückt worden ist, was zu Lasten der Klägerin geht, da dieser die Darlegungs- und Beweislast dafür obliegt, dass hier ein Geschehen vorliegt, dem eine Pflichtverletzung der Beklagten zu Grunde liegt. Die Klägerin nimmt zwar vehement in Abrede, den Schalter über den Druckpunkt dauerhaft gedrückt zu haben, eine konkrete Erinnerung daran, wie sie den Schalter ausgelöst hat, hat sie jedoch nicht. Es besteht auch die nicht nur fern liegende Möglichkeit, dass der Schalter über den Druckpunkt hinaus gedrückt wurde. So ist es z.B. durchaus denkbar, dass sich die Klägerin auf der Mittelkonsole abgestützt hat, während sie versuchte, den Krümel mit der rechten Hand aus dem Fenster zu werfen.
Selbst wenn man davon ausginge, dass die Klägerin den Schalter nicht über den Druckpunkt hinaus gedrückt gehalten, sondern durch kurzes Antippen des Schalters den Fensterheber betätigt hat, liegt ein Produktfehler, der zu einem Schaden geführt hat, nicht vor. In der Bedienungsanleitung heißt es, dass das Vorderfenster stehen bleibt und sich wieder ein wenig öffnet, wenn es auf einen Widerstand trifft. Daran fehlt es hier jedoch. Die Weichteile der Fingerkuppe des Mittelfingers bieten für die Scheibe erkennbar so gut wie keinen Widerstand. Die Vorderscheibe trifft also, so wie die Klägerin den Finger gehalten hat, gar nicht auf einen Widerstand, der die Schutzfunktion aktivieren könnte.
Im Übrigen weist die Bedienungsanleitung ausdrücklich darauf hin, dass ein unkontrolliertes und unachtsames Schließen des Fensters Körperverletzungen nach sich ziehen kann. Damit wird ein absoluter Schutz gerade nicht versprochen.
2.
Die Klägerin hat aus den unter 1. genannten Gründen auch keinen Anspruch aus dem Produkthaftungsgesetz, da ihr auch dort die Beweislast für das Vorliegen eines Fehlers und dessen Ursächlichkeit für den Schadenseintritt der Klägerin obliegt, § 1 Abs. 4 PHG.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs.1 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 708 Nr. 1, 713 ZPO entsprechend.
Die Revision wird gegen das Urteil nicht zugelassen, denn die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung, noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts, § 543 Abs.2 ZPO n.F.
Streitwertbeschluss:
Wert des Berufungsverfahrens: 2.137,-- EUR.