Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 29.11.2022, Az.: 5 A 2030/21

alleinerziehende Mutter; Drittstaatenbescheid; Familie mit Kindern; Italien; Italien mit Schutzstatus; Unterkunft; Zugang zum Arbeitsmarkt

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
29.11.2022
Aktenzeichen
5 A 2030/21
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 47921
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2022:1129.5A2030.21.00

Tenor:

Der Bescheid der Beklagten vom 12. Februar 2021 wird mit Ausnahme der in Satz 4 der Ziffer 3 getroffenen Feststellung aufgehoben, dass die Kläger nicht in den Sudan abgeschoben werden dürfen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Vollstreckungsschuldner dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand

Die Kläger wenden sich gegen die Ablehnung ihrer Asylanträge als unzulässig und die Androhung ihrer Abschiebung nach Italien und begehren die Prüfung ihres Asylbegehrens durch die Beklagte im nationalen Verfahren.

Sie sind sudanesische Staatsangehörige. Die 1982 geborene Klägerin zu 1. ist die Mutter der 2008, 2011 und 2016 geborenen Kläger zu 2. bis 4. Die Kläger sind am 6. November 2020 in das Bundesgebiet eingereist und stellten am 2. Dezember 2020 einen Antrag auf internationalen Schutz.

In der Anhörung vor dem A. der Beklagten am 9. Januar 2013 gab die Klägerin zu 1. an, sie stamme aus dem Sudan und sei zunächst in Libyen gewesen, wo ihre zwei älteren Kinder geboren seien. Im März 2016 sei sie nach Italien gezogen und bis zum 6. November 2020 dort geblieben. In Italien habe sie einen Asylantrag gestellt und sei angehört worden, habe aber keinen Bescheid bekommen. Sie habe in Italien mehrfach versucht, eine Arbeit zu finden, aber keinen Erfolg gehabt. Sie sei Analphabetin und habe die Sprache nicht lernen können. Ihre Tochter habe in Italien nicht zur Schule gehen können. Sie habe in einer Unterkunft ohne Privatsphäre gelebt. In Ihrem Zimmer habe auch eine Frau aus Nigeria gewohnt. Sie habe immer Angst um ihre Töchter gehabt, weil Fremde in ihrem Zimmer wohnten. Ihr Ehemann sei verstorben.

Das Bundesamt richtete unter dem 16. Dezember 2020 ein Wiederaufnahmeersuchen an Italien. Die zuständige italienische Behörde lehnte mit Schreiben vom 29. Dezember 2020 die Wiederaufnahme der Kläger ab und teilte mit, dass der Klägerin zu 1. in Italien internationaler Schutz zuerkannt und eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden sei, die bis 23. Oktober 2022 befristet sei. Das Asylverfahren in Italien sei danach abgeschlossen.

Mit Bescheid vom 12. Februar 2021 lehnte die Beklagte sodann die Asylanträge der Kläger als unzulässig ab, forderte sie auf, das Bundesgebiet innerhalb einer Woche zu verlassen und drohte ihnen andernfalls die Abschiebung nach Italien an. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot befristete die Beklagte auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung wird ausgeführt, dass die Antragsteller in Italien ein Asylverfahren durchlaufen und dort internationalen Schutz erhalten hätten. Ihr in Deutschland gestellter Antrag sei daher unzulässig.

Die Kläger haben am 4. März 2021 Klage erhoben und machen im Wesentlichen geltend, dass das Asylverfahren in Italien systemisch mangelbehaftet sei und ihnen infolgedessen eine Verletzung elementarer Rechte drohe. Sie seien als alleinerziehende Mutter mit (jedenfalls teilweise) betreuungsbedürftigen Kindern besonders schutzbedürftig.

Die Kläger haben keinen konkreten Klagantrag gestellt, beantragen bei sachgerechter Auslegung ihres Klagevorbringens jedoch sinngemäß,

den Bescheid der Beklagten vom 12. Februar 2021 mit Ausnahme der in Satz 4 der Ziffer 3 getroffenen Feststellung aufzuheben, dass sie nicht in den Sudan abgeschoben werden dürfen.

Die Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf den angefochtenen Bescheid,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen. Der Inhalt sämtlicher Akten war Gegenstand der Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

Die Entscheidung ergeht durch den Einzelrichter, dem die Kammer den Rechtsstreit mit Beschluss vom 24. März 2022 zur Entscheidung übertragen hat (§ 76 Abs. 1 AsylG) und im erklärten Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).

I. Die Klage ist zulässig. In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass gegen Entscheidungen des Bundesamtes, die Durchführung eines Asylverfahrens nach Maßgabe von § 29 AsylG abzulehnen, eine Anfechtungsklage statthaft ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.10.2015 - BVerwG 1 C 32.14 -, juris; Nds. OVG, Beschluss vom 6.11.2014 - 13 LA 66/14 -, juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 7.3.2014 - 1 A 21/12.A - juris; BayVGH, Beschluss vom 2.2.2015 - 13 a ZB 14.50068 -, juris).

II. Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid der Beklagten ist im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz AsylG) rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

1. Die Beklagte stützt die Ablehnung der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Absatz 1 Nummer 2 AsylG gewährt hat.

a. In materieller Hinsicht erfüllt jedenfalls die Klägerin zu 1. die (geschriebenen) Tatbestandsvoraussetzungen für eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Unbestritten ist ihr vor ihrer Weiterreise nach Deutschland in Italien Flüchtlingsschutz und damit internationaler Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt worden.

b. Soweit die Beklagte davon ausgeht, dass auch den Klägern zu 2. bis 4. in Italien internationaler Schutz gewährt worden ist, ergibt sich derartiges weder aus der Auskunft der italienischen Behörden (die ausweislich der Betreffzeile "K. + 3 minors" auch die Kläger zu 2. bis 4. betrifft, aber nur einen Schutzstatus der Klägerin zu 1. erwähnt), noch aus dem übrigen Inhalt der Akten. Soweit tatsächlich nur der Klägerin zu 1. in Italien Schutz zuerkannt worden wäre, wären die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht erfüllt und der Bescheid gegenüber den Klägern zu 2. und 4. schon deshalb rechtswidrig.

Der Bescheid könnte auch nicht hilfsweise auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG stützen, weil kein anderer Mitgliedstaat für das Asylverfahren der Kläger zu 2. bis 4. zuständig ist. Eine Zuständigkeit der Republik Italien folgt nicht schon aus dem Grundsatz der Familieneinheit Art. 20 Abs. 3 Sätz 1 und 2 der Verordnung (EU) Nr. 605/2013 (Dublin III-Verordnung), weil das Asylverfahren der Klägerin zu 1. in Italien bereits abgeschlossen ist. Das danach gebotene Verfahren zur Bestimmung der Zuständigkeit hat die Beklagte im Rahmen des gemeinsamen Wiederaufnahmeersuchens an die Republik Italien zwar eingeleitet, es hatte jedoch nicht die Zuständigkeit der Republik Italien zur Folge. Denn die italienischen Behörden haben der Aufnahme widersprochen, ohne dass die Beklagte ein Remonstrationsverfahren nach Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 (Dublin II-Verordnung) eingeleitet hätte. Die Zuständigkeit ist unabhängig von der Rechtslage daher der Beklagten zugefallen.

Ob die Kläger zu 2. und 4. tatsächlich in Italien Schutz erhalten haben oder nicht, bedarf hier keiner weiteren Aufklärung, weil sich der angefochtene Bescheid auch auf Grundlage des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als rechtswidrig erweisen würde.

2. Denn auch wenn die geschriebenen Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vorliegen, kann eine Unzulässigkeitsentscheidung aus Gründen vorrangigen Unionsrechts ausnahmsweise ausgeschlossen sein. Das ist der Fall, wenn die Lebensverhältnisse, die den Antragsteller bzw. Kläger als anerkannten Schutzberechtigten in dem anderen Mitgliedstaat erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC zu erfahren. Unter diesen Voraussetzungen ist es den Mitgliedstaaten untersagt, von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2013/32/EU eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen (vgl. ausdrücklich EuGH, Beschluss vom 13.11.2019 - C-540/17 u.a., Hamed u.a. - Rn. 35; s.a. Urteil vom 19.3.2019 - C-297/17 u.a., Ibrahim u.a. - Rn. 88). Damit ist geklärt, dass Verstöße gegen Art. 4 GRC im Mitgliedstaat der anderweitigen Schutzgewährung nicht nur bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen sind, sondern bereits zur Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung führen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.5.2020 - BVerwG 1 C 34.19 -, Rn. 15, juris).

Weil die Kläger als Kernfamilie tatsächlich zusammenleben, wäre im Rahmen der Rückkehrprognose bei realitätsnaher Betrachtung der Rückkehrsituation selbst dann auf die gesamte Familie abzustellen, wenn den Klägern zu 2. bis 4. in Italien kein Schutz zuerkannt worden wäre und eigentlich die Beklagte für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens zuständig wäre. Insoweit ist die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Rückkehr im Familienverband als regelmäßige Grundlage der Rückkehrprognose nach § 60 Abs. 5 AufenthG (BVerwG, Urteil vom 4.7.2019 - BVerwG 1 C 45.18 - juris) aufgrund systematischer und teleologischer Überlegungen auf die vorliegende Konstellation übertragbar.

3. Das Gericht geht anhand der ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnismittellage davon aus, dass die Kläger im Falle ihrer Rückkehr nach Italien dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC i. V. m. Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein.

a. Bei der Prüfung, ob Italien hinsichtlich der Behandlung von rücküberstellten Schutzberechtigten gegen Art. 4 GRC i. V. m. Art. 3 EMRK verstößt, ist jedoch ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. EuGH, Urteil vom 19.3.2019 - C-297/17 - juris; OVG Lüneburg, Beschluss vom 21.12.2018 - 10 LB 201/18 - juris; Urteil vom 29.1.2018 - 10 LB 82/17 - juris Rn. 28). Denn Italien unterliegt als Mitgliedstaat der Europäischen Union deren Recht und ist den Grundsätzen einer gemeinsamen Asylpolitik sowie den Mindeststandards des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems verpflichtet. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem gründet sich auf das Prinzip gegenseitigen Vertrauens, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte sowie die Rechte beachten, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und in der EMRK finden. Daraus hat der Europäische Gerichtshof die Vermutung abgeleitet, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht (vgl. hierzu aus jüngerer Zeit etwa EuGH, Urteil vom 19.3.2019 - C-297/17 u. a., juris Rn. 83 f.).

b. Diese Vermutung ist indes nicht unwiderleglich. Eine Widerlegung dieser Vermutung hat der Europäische Gerichtshof aber wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft. Nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder jeder Verstoß gegen die Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU), die Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95/EU) oder die Verfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU) genügt, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu hindern. Denn Mängel des Asylsystems können nur dann gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verstoßen, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen.

Diese Schwelle ist nach der Rechtsprechung des EuGH im Anschluss an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK (vgl. Art. 6 Abs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 3 GRC) erst dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EuGH, Urteil vom 19.3.2019 - C-297/17 u.a. - juris Rn. 89 ff.; aus der Rechtsprechung des EGMR siehe etwa EGMR, Urteil vom 4.11.2014 - 29217/12 - NVwZ 2015, 127 ff.).

Selbst große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse erreichen diese Schwelle nicht, wenn sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer diese Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, Urteil vom 19.3.2019 - C-297/17 u.a. - juris Rn. 89 ff.). Verstöße gegen Bestimmungen des Kapitels VII der Anerkennungsrichtlinie genügen hierfür - wie bereits erwähnt - nicht (EuGH, Urteil vom 19.3.2019 - C-297/17 u.a. - juris Rn. 92). Auch der Umstand, dass der Schutzberechtigte in dem Mitgliedstaat, der dem Asylantragsteller diesen Schutz gewährt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhält, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, kann nur dann zu der Feststellung führen, dass dieser dort tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 GRC verstoßende Behandlung zu erfahren, wenn dieser Umstand zur Folge hat, dass sich dieser Schutzberechtigte aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände (EuGH, Urteil vom 19.3.2019 - C-297/17 u.a. - juris Rn. 93).

Ist dagegen ernsthaft zu befürchten, dass die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber bzw. anerkannte Schutzberechtigte im zuständigen Mitgliedstaat derartige Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Personen im Sinne von Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK zur Folge haben, ist eine Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar (vgl. EuGH, Urteil vom 19.3.2019 - C-297/17 u.a. - juris Rn. 87; BVerwG, Beschluss vom 19.3.2014 - BVerwG 10 B 6.14 - juris Rn. 6). Bei Familien mit Kindern kann sich eine Gefährdung der durch Art. 4 GRC geschützten Rechte auch daraus ergeben, dass der bzw. die Betroffene(n) nicht zugleich die eigene Existenz und die seiner bzw. ihrer Familie sichern können würde (BVerwG, Urteil vom 4.7.2019 - BVerwG 1 C 45.18 -, juris Rn. 25 bis 28).

Hinsichtlich der Gefahrenprognose ist im Rahmen des Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK auf den Maßstab des "real risk" der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abzustellen (vgl. EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.2.2008 - Nr. 37201/06, Saadi - NVwZ 2008, S. 1330 Rn. 129; BVerwG, Urteil vom 20.2.2013 - BVerwG 10 C 23.12 - juris Rn. 32); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.4.2010 - BVerwG 10 C 5.09 - BVerwGE 136, S. 377 Rn. 22 m. w. N. stRspr).

c. Der Tatrichter muss sich unter Berücksichtigung des Untersuchungsgrundsatzes (§ 86 Abs. 1 VwGO) somit zur Widerlegung der auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten gründenden Vermutung, die Behandlung der Asylbewerber stehe in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der GRC sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK, die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Absatz 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylsystems oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.4.2010 - BVerwG 10 C 5.09 - BVerwGE 136, S. 377 Rn. 22 m. w. N.) einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird. Damit ist im Rahmen der hier anzustellenden Rückkehrprognose auf die gesamte Familie der Kläger abzustellen.

Das erfordert eine aktuelle Gesamtwürdigung der zur jeweiligen Situation vorliegenden Berichte und Stellungnahmen, wobei regelmäßigen und übereinstimmenden Berichten von internationalen Nichtregierungsorganisationen besondere Bedeutung zukommt (BVerfG, Beschluss vom 21.4.2016 - 2 BvR 273/16 - juris Rn. 11; vgl. auch EuGH, Urteil vom 21.12.2011 - C-411/10 und C-493/10 - juris Rn. 90 f.). Das gilt insbesondere für die Stellungnahmen des UNHCR angesichts der Rolle, die diesem in Hinblick auf die Überwachung der Einhaltung der GFK (vgl. dort Art. 35) übertragen worden ist (vgl. EuGH, Urteil 30.5.2013 - C-528/11 - juris Rn. 44).

d. Auch nach diesem strengen Maßstab geht das Gericht davon aus, dass den Klägern im Falle ihrer Rückkehr nach Italien eine unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC i. V. m. Art. 3 EMRK mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.

aa. Die Lebenssituation anerkannt Schutzberechtigter stellt sich nach der aktuellen Erkenntnislage in Italien dabei wie folgt dar:

(1) Anerkannte Schutzberechtigte erhalten in Italien eine Aufenthaltserlaubnis, die für fünf Jahre gültig ist und die in der Folge erneuert bzw. verlängert werden kann (vgl. hierzu AIDA, Country Report: Italy, Update 5/2022, S. 192; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 19). Die Erneuerung - oder im Falle des Verlusts die Ausstellung einer Kopie - beantragt man durch das Ausfüllen entsprechender Formulare und deren Versand per Post an die zuständige Questura (AIDA, Country Report: Italy, Stand: 31.12.2021, S. 192). Für den Verlängerungs- bzw. Erneuerungsantrag benötigt man zudem einen eingetragenen Wohnsitz oder eine sogenannte "Erklärung der Gastfreundschaft" ("dichiarazione di ospitalita", vgl. hierzu ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien: 18.9.2020, S. 5). Eine solche Erklärung der Gastfreundschaft kann dabei insbesondere auch von Privatpersonen oder Hilfsorganisationen abgegeben werden, dies werde jedoch nicht von allen Questure akzeptiert (vgl. ACCORD, 18.9.2020, S. 5). Bei der Erneuerung einer Aufenthaltserlaubnis kommt es nach vorliegenden Erkenntnismitteln jedenfalls in einigen Provinzen zu ganz erheblichen Zeitverzögerungen. Dies stellt im Alltag aber in aller Regel deswegen kein Problem dar, weil Antragsteller nach der Beantragung eine Bestätigung (sog. "cedolino") erhalten, die in allen Fällen, in denen eine Aufenthaltserlaubnis benötigt wird, vorgezeigt werden kann und allgemein akzeptiert wird (vgl. hierzu ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 5). Jeder Fall eines internationalen Schutztitelinhabers, der sich in einen anderen EU-Staat begeben hatte und dort nochmal Asyl beantragt hat und in der Folge nach Italien rücküberstellt wird, wird vom sog. "Servizio Centrale" geprüft. Bei der Prüfung durch den Servizio Centrale ist es aber nicht unbedingt nötig, im Besitz eines gültigen Aufenthaltspapiers zu sein; wichtig ist vielmehr, dass das Aufenthaltspapier ohne rechtliche Probleme verlängerbar ist. Rückkehrerinnen und Rückkehrer können dabei auch bereits im Vorfeld vor ihrer Rückkehr nach Italien einen Antrag beim Servizio Centrale stellen (vgl. hierzu VG Berlin, U.v. 19.5.2021 - 28 K 84.18 A - juris Rn. 29; ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 7 f).

(2). Was die Unterkunftssituation anbelangt, so können anerkannte Flüchtlinge bzw. Schutzberechtigte in Italien für einen Zeitraum von sechs Monaten in einem sog. SAI-Zentrum (vorher SIPROIMI-Zentren) untergebracht werden, sofern es dort freie Plätze gibt und die Person nicht bereits zuvor in einem System der Zweitaufnahme untergebracht war.

Dieses Unterbringungssystem bestand zuletzt (Stand: April 2022) aus 848 kleineren, dezentralisierten Projekten mit insgesamt 35.898 Unterkunftsplätzen (AIDA, Country Report: Italy, Update 5/2022, S. 214). Damit hat Italien die SAI-Unterbringungsmöglichkeiten im Vergleich zum Januar 2021 (30.049 Unterkunftsplätze in 706 Unterkunftszentren) deutlich aufgestockt (AIDA, Country Report: Italy, Update 5/2022, S. 214). Grund für diese Erhöhung waren die gestiegene Zahl an Asylbewerbern aus Afghanistan sowie Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine (vgl. AIDA, Country Report: Italy, Update 5/2022, S. 216). Auch Rückkehrern mit einem abgelaufenen Aufenthaltstitel kann eine Unterkunft in einem SAI-Zentrum zugeteilt werden (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 20 f.).

Gleichwohl decken die nunmehr vorhandenen Plätze im SAI-Unterbringungssystem den entsprechenden Bedarf nicht immer vollständig ab (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 20). Der Zugang für Asylsuchende wie Dublin-Rückkehrer ist daher faktisch fast unmöglich (vgl. SFH, Bericht vom 10. Juni 2021, https://www.ecoi.net/de/dokument/2055104.html). Daneben bestehen weiterhin die faktischen Hindernisse, dass Anträge auf Aufnahme in einem SAI-Projekt nicht von der betroffenen Person selbst gestellt werden können, sondern nur durch deren anwaltliche Vertretung oder die zuständige Behörde, und dass es für die zur Verfügung stehenden Plätze keine Warteliste gibt. Infolgedessen wird, wenn ein Antrag auf Unterbringung bewilligt wurde und es keinen freien Platz gibt, die betreffende Person nicht auf eine Warteliste gesetzt, sondern muss einen Monat später einen neuen Antrag stellen lassen, und zwar so lange, bis ein Platz für die jeweilige(n) Person(en) frei wird. In der Zwischenzeit steht der Person/den Personen keine Unterkunft zur Verfügung (vgl. Auskunft der SFH an den VGH Kassel vom 29.10.2020, https://www.ecoi.net/de/dokument/2041470.html).

Die gesetzlich vorgesehene Aufenthaltsdauer von sechs Monaten in einem SAI-Zentrum kann dabei um weitere sechs Monate verlängert werden (AIDA, Country Report: Italy, Update 5/2022, S. 212, 215), beispielsweise um Integrationsmaßnahmen abzuschließen oder wenn besondere Umstände, wie z.B. gesundheitliche Probleme, vorliegen. Gleiches gilt für vulnerable Personen, zu denen unter anderem unbegleitete Minderjährige, Behinderte, ältere Menschen, schwangere Frauen, Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern, Opfer von Menschenhandel sowie Menschen mit ernsthaften Krankheiten oder psychischen Störungen zählen. Bei schwerwiegenden gesundheitlichen Einschränkungen kann der Aufenthalt im SAI-Zentrum sogar ein zweites Mal um sechs Monate verlängert werden (AIDA, Country Report: Italy, Update 5/2022, S. 212, 215).

In den SAI-Zentren stehen anerkannten Schutzberechtigten spezielle Integrationsmaßnahmen zur Verfügung, bestehend aus Sprachtraining, Vermittlung von Grundkenntnissen zu in der Verfassung der Italienischen Republik verankerten Rechten und Pflichten, Orientierung bezüglich wesentlicher öffentlicher Dienstleistungen sowie Orientierung bezüglich der Arbeitsvermittlung (vgl. AIDA, Country Report: Italy, Update 5/2022, S. 214; SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 10.6.2021, S. 12).

Die Möglichkeit über ein SAI-Zentrum Unterstützung zu erhalten hängt dabei vor allem davon ab, ob und in welchem Umfang ein Schutzberechtigter bereits Leistungen der Sekundärunterbringung in Anspruch genommen hat. Das Recht auf Unterbringung in einem SAI-Zentrum besteht insbesondere dann nicht mehr, wenn einer Person bereits dort untergebracht war oder aber wenn eine Person die ihr vom Servizio-Centrale zugewiesene Unterkunft trotz entsprechender Zuteilung nicht genutzt hat und ihr daher der entsprechende Anspruch entzogen wurde (vgl. hierzu SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 56; zu den Entzugsgründen im Einzelnen vgl. AIDA, Country Report: Italy, Update 5/2022, S. 215 f.). Diese - gesetzlich im Aufnahmesystem Italiens vorgesehene - Praxis ist nach der aktuellen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (vgl. EuGH, Urteil vom 12.11.2019 - C-233/18 Haqbin -, juris Rn. 47) nicht mit Art. 20 Abs. 5 der Aufnahmerichtlinie vereinbar und steht dem Gebot des Art. 4 i. V. m. Art. 1 GRCh entgegen. Sie stellt damit einen systemischen Mangel im oben beschriebenen Sinne dar.

Nach Artikel 23 des Decreto legislativo Nr. 142/2015 kann die Aberkennung von Betreuungsmaßnahmen angeordnet werden, wenn der Antragsteller nicht zur Antragstellung oder zur Anhörung erscheint oder das zugeteilte Empfangszentrum ohne vorherige begründete Mitteilung verlässt. Diese für die Aufnahmezentren CARA/CAS vorgesehene Regelung wird nach den Feststellungen der Schweizer Flüchtlingshilfe auch auf die SIPROIMI-Projekte sehr streng angewandt (vgl. SFH-Bericht vom Januar 2020, https://www.ecoi.net/de/dokument/2034578.html) und gilt auch nach deren Umbildung zu SAI fort (vgl. SFH, Bericht vom 10. Juni 2021, a. a. O.).

Neben den staatlich finanzierten SAI-Projekten gibt es für anerkannte Schutzberechtigte zwar auch die Möglichkeit eine Sozialwohnung zu beantragen. Ein solcher Antrag ist direkt in der jeweiligen Stadt bzw. Gemeinde zu stellen, wobei die Zugangsvoraussetzungen unterschiedlich geregelt sind. Dabei hat jede Provinz in Italien ein Netzwerk von Sozialdiensten (ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 9).

Anerkannte Flüchtlinge und Schutzberechtigte haben dabei das selbe Recht auf Zugang zu sozialen Wohnraum wie italienische Staatsbürger (vgl. hierzu BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 20; AIDA, Country Report: Italy, Update 5/2022, S. 217; ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 9 f.). In einigen Regionen Italiens erfordert der Zugang zu Sozialwohnungen jedoch einen Mindestaufenthalt im Land, wie z.B. in der Lombardei, wo man ununterbrochen fünf Jahre in der Region gewohnt haben muss (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 20). Allerdings wurde diese Regelung vom italienischen Verfassungsgericht für gesetzeswidrig erklärt (AIDA, Country Report: Italy, Update 5/2022, S. 218). Unabhängig davon ist die Warteliste für derartige Sozialwohnungen vielerorts lang und die entsprechende Wartezeit beträgt häufig mehrere Jahre (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 20). Zudem muss regelmäßig nachgewiesen werden, dass bereits ein Wohnsitz in der Gemeinde besteht, in der eine Sozialwohnung beantragt wird. Das bedeutet, dass es Personen mit internationalem Schutzstatus in der Praxis regelmäßig sehr schwer fällt, Zugang zu öffentlichem Wohnraum bzw. Sozialwohnungen zu erhalten (vgl. hierzu BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 20; ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 9 f.).

Darüber hinaus bieten NGOs und Wohltätigkeitsorganisationen auch Schlafplätze an, deren Kapazitäten jedoch beschränkt sind. Diese Einrichtungen sind in der Regel nur in der Nacht geöffnet, normalerweise ab 22 oder 23 Uhr, und müssen früh morgens wieder verlassen werden. Diese Plätze können nicht reserviert werden, sie werden der Reihe nach vergeben. Sie sind auch für italienische Obdachlose zugänglich, es gibt keine spezifisch für Begünstigte von internationalem Schutz reservierte Plätze (vgl. Auskunft der SFH an den VGH Kassel, S. 2). Die Zahl der Plätze in Notunterkünften hatte sich im Zuge der COVID-19-Pandemie halbiert (vgl. SFH, Bericht vom 10.6.2021 - a. a. O.-). Dass solche Unterkünfte den besonderen Schutzbedarf von Familien mit kleinen Kindern decken könnten, ist nicht im Ansatz ersichtlich. (Zumindest tagsüber bestehende) Obdachlosigkeit und der in diesem Zusammenhang verweigerte Zugang zu sonstigen staatlichen Leistungen wie der Bereitstellung von Mahlzeiten (vgl. Auskunft der SFH an den VGH Kassel, S. 3) würden zu physischer und psychischer Verelendung der Kläger führen.

(3) Zugang zum italienischen Arbeitsmarkt bzw. zu einer Berufsausübung haben anerkannte Schutzberechtigte durch die ihnen regelmäßig erteilte Aufenthaltserlaubnis ebenso wie italienische Staatsangehörige (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 21). Das italienische Asylsystem geht dabei davon aus, dass anerkannte Schutzberechtigte ihren Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit selbst besorgen. Besondere Bedeutung für die Integration von anerkannten Flüchtlingen bzw. subsidiär Schutzberechtigten in den Arbeitsmarkt kommt dabei den örtlichen Arbeitsämtern sowie den SAI-Zentren zu. Anerkannte Personen können sich bei den örtlichen Arbeitsämtern anmelden und werden nach einer entsprechenden Registrierung über Stellenangebote informiert (ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 10).

Anerkannte Schutzberechtigte haben somit rein rechtlich den gleichen Zugang zum Arbeitsmarkt wie italienische Staatsangehörige.

Die tatsächliche Situation für Arbeitssuchende stellt sich in Italien aufgrund der höheren Arbeitslosenzahl jedoch generell als schwierig dar (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 22). Nach der Einschätzung der Schweizer Flüchtlingshilfe ist es für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus weiterhin äußerst schwierig, eine auskömmliche Arbeit zu finden. Wesentliche Zugangshindernisse zum Arbeitsmarkt stellen häufig fehlende Sprachkenntnisse und eine fehlende Berufsqualifikation bzw. die fehlende Anerkennung solcher Qualifikationen dar (vgl. ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 10). Nicht selten finden Schutzberechtigte nur Arbeit auf dem "informellen Arbeitsmarkt" bzw. in der "Schattenwirtschaft", wo sie häufig ausgebeutet werden (vgl. hierzu etwa BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 22; SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 10.6.2021, S. 13). Darüber hinaus arbeiten viele Zuwanderer in der Landwirtschaft, oft unter prekären Bedingungen (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 21). Die wenigen Arbeitsplätze außerhalb des Schwarzmarkts sind schlecht bezahlt und befristet, der Lohn genügt in der Regel nicht, um eine Unterkunft zu bezahlen (vgl. SFH, Bericht vom 10. Juni 2021, a. a. O).

Unabhängig von der insbesondere im Vergleich zur Bundesrepublik deutlich schwierigeren Arbeitsmarktsituation in Italien, die sich durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie zunächst deutlich verschlechtert hatte, ging die Erwerbslosenquote in Italien im Jahr 2020 auf 9, 3 Prozent zurück, lag im Jahr 2021 bei 9,5 Prozent und im August 2022 bei 7,8 Prozent (vgl. Eurostat, Arbeitslosenquote im Euroraum; Istat, Employment and unemployment - August 2022). Damit liegt die Arbeitslosenquote Italiens aktuell deutlich unter dem Niveau der Jahre 2019 und früher, als die Arbeitslosigkeit in Italien durchgängig (und teilweise deutlich) über 10,0 Prozent lag (vgl. Eurostat, Arbeitslosenquote - insgesamt, zuletzt abgerufen am 26.9.2022). Das BIP Italiens wuchs im Jahr 2021 um 6,7 Prozent, was deutlich über dem Durchschnitt aller EU-Länder lag (vgl. Eurostat, Wachstumsrate des realen BIP-Volumen, zuletzt abgerufen am 26.9.2022). Auch die Beschäftigungslage in Italien hat sich im Zuge dessen kontinuierlich verbessert.

Seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine hat sich die Dynamik der italienischen Wirtschaft aufgrund der unsicheren Aussichten und der Energie- und Rohstoffversorgungskrise allerdings wieder etwas abgeschwächt. Der stärkste Wirtschaftssektor ist dabei der Dienstleistungssektor, der im Mai 2022 ein kräftiges Wachstum verzeichnete. Aus den jüngeren Prognosen geht hervor, dass im Jahr 2022 ein Bedarf an 1.531.450 Arbeitskräften besteht, von denen die meisten (1.209.060) im Dienstleistungssektor (insbesondere Dienstleistungen für Unternehmen, im Tourismus und in der Gastronomie) benötigt werden, gefolgt von der Industrie mit 322.400 vorgesehenen Neueinstellungen, vor allem im verarbeitenden Gewerbe und im öffentlichen Versorgungssektor. Die Provinzen mit den meisten Neueinstellungen sind Rom, Mailand und Neapel, während Triest, Reggio Emilia und Cuneo die meisten Stellen für junge Menschen bieten (vgl. hierzu Eures, Arbeitsmarktinformationen Italien, https://eures.ec.europa.eu/living-and-working/labour-market-information/labour-market-information-italy_de, zuletzt abgerufen am 26.9.2022).

Landesweit blieben zuletzt 38,3 % der angebotenen Stellen in Italien unbesetzt. Bei den Berufsgruppen, für die es große Personalfindungsschwierigkeiten gibt, handelt es sich neben (hoch)qualifizierten Fachkräften wie Apotheker.innen oder Ärzt.innen und leitende Angestellte auch um Köche, Kellner und weitere Dienstleistungsberufe im Tourismus sowie Personal für Empfang und Kundeninformation. Besonders schwierig ist dabei die Suche nach Bewerbern für Unternehmen in den Regionen des Nordostens, gefolgt von Unternehmen im Nordwesten, in Mittelitalien und im Süden und auf den Inseln (vgl. hierzu Eures, Arbeitsmarktinformationen Italien, https://eures.ec.europa.eu/living-and-working/labour-market-information/labour-market-information-italy_de, zuletzt abgerufen am 26.9.2022).

Angesichts dieser wirtschaftlichen Gesamtumstände sind Beschäftigungsmöglichkeiten für rückkehrende Schutzberechtigte nicht völlig ausgeschlossen, auch wenn diese aufgrund fehlender Berufsqualifikation und schlechter Sprachkenntnisse häufig auf schlecht bezahlte Jobs in der Landwirtschaft und im Dienstleistungssektor beschränkt sein werden.

Darüber hinaus haben anerkannte Schutzberechtigte in Italien zwar keinen Anspruch auf staatliche Sozialhilfe, die mit der in Deutschland gewährten Sozialhilfe vergleichbar wäre (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 8/2016, S. 52). Einen solchen Anspruch haben aber auch italienische Staatsangehörige nicht. Das italienische Sozialsystem ist insgesamt sehr schwach ausgebildet, was daran liegt, dass es auf die in Italien traditionell starken Familienstrukturen aufsetzt und daher insbesondere keinerlei Nothilfen garantiert (vgl. hierzu BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 22).

Gleichwohl gibt es seit März 2019 eine Art Grundeinkommen, ein sog. Bürgergeld. Voraussetzung für dessen Bezug ist jedoch, dass man mindestens die letzten zehn Jahre in Italien gewohnt hat, so dass anerkannt Schutzberechtigte diese Voraussetzungen in aller Regel nicht erfüllen (vgl. AIDA, Country Report: Italy, Update 5/2022, S. 221; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 21).

Darüber hinaus gibt es in Italien einzelne, in den Zuständigkeitsbereich der Regionen oder Kommunen fallende Fürsorgeleistungen, die hinsichtlich ihrer Voraussetzungen, des Empfängerkreises und der Leistungshöhe jedoch stark variieren (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 22; Raphaelswerk, 6/2020, S. 14 f.; ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020 S. 11 f.).

(4) Hinsichtlich der medizinischen Versorgung haben Anerkannte in Italien die gleichen Rechte und Pflichten wie italienische Staatsbürger, sobald sie beim Nationalen Gesundheitsdienst registriert sind. Die Registrierung gilt für die Dauer der Aufenthaltsberechtigung und erlischt auch nicht in der Verlängerungsphase (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 22). Für die Registrierung ist dabei eine gültige Aufenthaltserlaubnis oder ein Nachweis, dass die Verlängerung bzw. Ausstellung angefordert wurde, ein Wohnnachweis oder bei Nichtvorhandensein eine Erklärung zum aktuellen Wohnort sowie eine Steuernummer notwendig (ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020 S. 11). Nach der neueren Rechtslage ist die Einschreibung beim Nationalen Gesundheitsdienst jedoch bereits auf Basis des sog. "domicilio" garantiert, der üblicherweise im Aufnahmezentrum liegt (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 11.11.2020, S. 20).

Unabhängig davon besteht auch für anerkannte Schutzberechtigte bis zur Registrierung im Gesundheitssystem ein Zugang zu medizinischen Basisleistungen und insbesondere einer medizinischen Notfallversorgung (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 1.7.2022, S. 16).

bb. Aufgrund dieser Erkenntnismittellage besteht für die Kläger die ernsthafte Gefahr, dass sie bei Rückführung nach Italien dort obdachlos würden. Die Kläger werden außerdem ihren Lebensunterhalt nicht aus eigener Erwerbsarbeit der Klägerin zu 1. decken können. Daher ist zur Überzeugung des Gerichts im vorliegenden Einzelfall davon auszugehen, dass die Kläger im Falle einer Rückkehr nach Italien dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC i. V. m. Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden.

(1) Artikel 23 des Decreto legislativo Nr. 142/2015, nach dem die Aberkennung von Betreuungsmaßnahmen angeordnet werden kann, wenn der Antragsteller nicht zur Antragstellung oder zur Anhörung erscheint oder das zugeteilte Empfangszentrum ohne vorherige begründete Mitteilung verlässt, wird nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts Minden wie folgt angewandt:

"Ist ein Asylsuchender für mehr als 72 Stunden unentschuldigt abwesend oder bezieht er eine ihm zugewiesene Unterkunft gar nicht erst, wird sein Name durch den Betreiber der Einrichtung der zuständigen Präfektur gemeldet. Daraufhin entzieht der Präfekt dem Asylsuchenden das Recht auf Unterbringung, indem er dessen Namen, ohne ihm dies mitzuteilen, auf eine bei der Präfektur geführte Liste setzt. Mit dem Entzug der Unterkunft verliert der Asylsuchende auch den Zugang zu allen weiteren in der Unterkunft erbrachten staatlichen Leistungen. Dieses Verfahren wird zur Überzeugung des Gerichts nicht nur im Einzelfall, sondern regelhaft durchgeführt, wenn ein Asylsuchender seine Unterkunft unentschuldigt verlässt oder dort nicht erscheint. Eine Studie, die auf Angaben von 58 der 100 italienischen Präfekturen aus den Jahren 2016 und 2017 beruht, ergab, dass in diesem Zeitraum allein in den an der Studie beteiligten Präfekturen circa 40.000 Asylsuchenden das Recht auf Unterkunft entzogen wurde. Zwar kann der Präfekt die Wiederaufnahme von Asylsuchenden in die Unterkunft verfügen, wenn diese sich auf höhere Gewalt, unvorhersehbare Umstände oder schwerwiegende persönliche Gründe berufen. Jedoch haben sowohl ein solcher Antrag als auch ein sich ggf. anschließendes Gerichtsverfahren nur äußerst geringe Erfolgsaussichten und dauern sowohl das behördliche als auch im Falle einer abschlägigen Entscheidung des Präfekten das gerichtliche Verfahren in Abhängigkeit von der jeweiligen Region mehrere Monate. In dieser Zeit hat der Asylsuchende kein Recht auf Unterbringung." (vgl. VG Minden, Urteil vom 13.11.2019 - 10 K 2221/18.A -, juris Rn. 81 - 83)

Diese Einschränkungen sind nach der Rechtsprechung des EuGH mit der Verpflichtung des Art. 20 Abs. 5 Satz 3 AufnahmeRL, einen würdigen Lebensstandard für den Antragsteller zu gewährleisten, unvereinbar. Danach ist auch ein nur zeitweiliger Entzug von sämtlichen im Rahmen der Aufnahme gewährten Leistungen in Bezug auf Unterkunft, Verpflegung und Kleidung unzulässig, weil sie dem Antragsteller die Möglichkeit nähme, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen (vgl. EuGH, Urteil v. 12.11.2019 - C-233/18 - Haqbin, juris Rn. 47, a. A. noch Nds. OVG, Urteil vom 9.4.2018 - 10 LB 92/17 -, juris Rn. 59).

Die Anwendung dieser Regeln wird mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auch die Kläger betreffen. Mit ebenso hinreichender Wahrscheinlichkeit werden ihnen nach der Erkenntmittellage auch keine anderweitigen Möglichkeiten zur Verfügung stehen, eine Unterkunft zu erhalten.

(2) Es ist auch nicht zu erwarten, dass die Klägerin zu 1. in der Lage sein würde, den Lebensunterhalt einschließlich der Kosten für eine Unterkunft für sich und ihre Kinder durch Erwerbsarbeit zu erwirtschaften. Auch insofern ist im Falle der Kläger hinsichtlich der Rückkehrprognose auf die gesamte Familie samt dreier Kinder abzustellen.

Nach diesem Maßstab geht das Gericht davon aus, dass die Klägerin zu 1. in Italien zwar theoretisch eine Arbeitsstelle als ungelernte Arbeitskraft finden könnte, die für sie alleine vielleicht auch zur Sicherung des Existenzminimums reichen könnte. Sie ist als alleinerziehende Mutter allerdings aufgrund der Betreuung ihrer Kinder weder in der Lage, eine derartige Tätigkeit in Vollzeit auszuüben, noch würde das Einkommen aus solcher Arbeit, die regelmäßig dem Niedriglohnsektor zuzurechnen ist, für den Bedarf auch der Kläger zu 2 bis 4. ausreichen (vgl. hierzu etwa BFA, LIB Italien, 11.11.2020, S. 24; SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 10.6.2021, S. 13). Im Übrigen ist das soziale Sicherungsnetz in Italien sehr grobmaschig, eine Sozialwohnung ist regelmäßig nur nach längerer, oft mehrjähriger Wartezeit zu erhalten. Das Gericht ist daher im vorliegenden Einzelfall überzeugt, dass es der Klägerin zu 1. in Italien nicht gelingen wird, die Existenzgrundlage für sich und ihre Kinder zu sichern und sich die Familie daher zeitnah in einer Situation extremer materieller Not befinden würde.

Hiervon geht das Gerichts selbst dann aus, wenn die Kläger noch für sechs Monate in einer Unterkunft der Sekundärunterbringungen unterkommen könnten. Denn selbst in dieser Übergangszeit würde es ihnen zur Überzeugung des Gerichts nicht gelingen, ihre Einkommensverhältnisse derart zu verbessern, dass sie das Existenzminimum für ihre Familie einschließlich ausreichenden Wohnraums selbst sichern könnten.

4. Die Aufhebung der Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung (Nr. 3 des angefochtenen Bescheides) folgt aus § 34 Abs. 1 Nr. 3 AsylG; zugleich entfällt auch die Grundlage des unter Nr. 4 des angefochtenen Bescheides ausgesprochenen Einreise- und Aufenthaltsverbots.

Die in Ziffer 2. des Tenors getroffene Feststellung, dass die Kläger nicht in den Sudan abgeschoben werden dürfen, ist davon nicht betroffen und verletzt diese auch nicht in ihren Rechten, weshalb diese nicht aufzuheben ist.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylG nicht erhoben.

Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.