Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 16.11.2022, Az.: 5 B 3897/22

Beschäftigung; Familiennachzug; Kindernachzug; overstay; Schengenvisum; Stillstandsklausel; Verfahrensduldung

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
16.11.2022
Aktenzeichen
5 B 3897/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 59313
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Der Antrag wird abgelehnt.

Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 7.500 EUR festgesetzt.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe

I.

Die Antragsteller begehren einstweiligen Rechtsschutz gegen die Beendigung ihres Aufenthalts im Bundesgebiet.

Sie sind minderjährige, 2006, 2010 und 2015 in der Republik Türkei geborene türkische Staatsangehörige und im Mai 2022 in Begleitung ihrer Mutter mit bis 21. Mai 2022 gültigen Schengen-Visa für touristische Zwecke in das Bundesgebiet eingereist. Die Mutter der Antragsteller reiste zwischenzeitlich wieder aus dem Bundesgebiet aus. Die elterliche Sorge für die Antragsteller ist mit Urteil des Gerichts erster Instanz Birecik vom 24. Januar 2019 auf den Vater übertragen worden. Ausweislich der Urteilsgründe hat die Kindesmutter zu ihrem Antrag erklärt, dass sie die Kinder nicht versorgen könne, die finanziellen Verhältnisse des Vaters seien besser, die Kinder würden im Ausland eine bessere Erziehung erhalten. Der Vater der Antragsteller wünsche die Übertragung der elterlichen Sorge auf seine Person, damit die Ausbildung seiner Kinder im Ausland erfolgen könne und sie dort eine bessere Erziehung erhielten.

Der Vater der Antragsteller beantragte am 17. Juli 2022 für diese die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen zum Zwecke des Familiennachzugs.

Der Vater der Antragsteller ist selbst ebenfalls türkischer Staatsangehöriger, 2016 erstmals in das Bundesgebiet eingereist und beantragte zunächst am 24. Juni 2016 die Anerkennung als Asylberechtigter. Am 4. November 2016 heiratete er eine türkische Staatsangehörige und erhielt am 19. November 2018 eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug, die zunächst auf ein Jahr befristet war und sodann am 19. November 2018 bis zum 18. November 2020 verlängert worden war. Bei einer Vorsprache des Vaters der Antragsteller mit seiner Ehefrau am 29. November 2018 gab diese an, dass sie seit einem Monat nicht mehr mit dem Vater der Antragsteller zusammenlebe. Am 18. November 2020 bestätigten die Eheleute gegenüber der Ausländerbehörde schriftlich, dass sie seit dem 1. März 2019 nicht mehr zusammenlebten. Ebenfalls am 18. November 2020 beantragte der Vater der Antragsteller die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis und erhielt seitdem Fiktionsbescheinigungen nach § 81 Abs. 4 AufenthG. Das Schutzgesuch des Vaters der Antragsteller wurde am 19. Juli 2017 (unanfechtbar seit 13. April 2019) abgelehnt.

Dem Vater der Antragsteller ist seit Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit vom 23. April 2017 die Beschäftigung gestattet. Am 18. April 2020 trat er in ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis bei der H. Bau GmbH ein, das nach einer Aufstellung der Krankenkasse über seine Versicherungszeiten bis 30. November 2019 dauerte. Danach war der Vater der Antragsteller vom 17. Dezember 2019 bis 15. Mai 2020 arbeitslos. Im Mai und Juni 2020 war der Vater der Antragsteller bei wechselnden Bauunternehmen beschäftigt, von September 2020 bis 31. Juli 2021 durchgehend bei einem weiteren Bauunternehmen beschäftigt.

Mit Bescheid vom 19. August 2022 lehnte die Antragsgegnerin die Anträge ab, forderte die Antragsteller zur Ausreise innerhalb von 30 Tagen auf und drohte ihnen andernfalls die Abschiebung in die Republik Türkei an. Zur Begründung führte sie aus, dass die Antragsteller ohne das erforderliche Visum eingereist seien. Die bei der Einreise verwendeten Schengen-Visa genügten nicht für einen längerfristigen Aufenthalt. Die Antragsteller hätten auch keinen Anspruch auf die Erteilung von Aufenthaltstiteln. Ihr Vater sei nicht im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis, sondern lediglich einer Fiktionsbescheinigung. Er habe daher kein Aufenthaltsrecht, von dem ein Anspruch der Antragsteller auf Familiennachzug abgeleitet werden könne. Es sei außerdem nicht ersichtlich, dass der Vater der Antragsteller im Sinne von § 32 Abs. 1 AufenthG allein sorgeberechtigt sei.

Die Antragsteller haben am 14. September 2022 Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist – 5 B 3897/22 – und zugleich um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht.

Zur Begründung machen sie geltend, dass die Antragsgegnerin ihre Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ermessensfehlerhaft abgelehnt habe. Soweit sie darauf abstelle, dass die Sicherung des Lebensunterhalts der Antragsteller nicht nachgewiesen sei, habe die Antragsgegnerin solche Nachweise im Verwaltungsverfahren nicht gefordert. Auch zum Sorgerecht, dessen alleinige Ausübung durch den Antragsteller die Antragsgegnerin bezweifelt habe, habe sie die Antragsteller nicht angehört. Infolgedessen habe die Antragsgegnerin auch ermessensfehlerhaft entschieden, dass die Nachholung des Visumverfahrens nicht entbehrlich sei. Der Vater der Antragsteller genieße die Rechtsstellung aus dem Assoziationsratsbeschluss ARB 1/80. Er sei seit 13. Februar 2017 nahezu durchgehend im Baugewerbe beschäftigt. Sie seien daher gem. Art. 9 ARB 1/80 zum Schulbesuch berechtigt. Aufgrund der Stillstandsklausel in Art. 13 ARB 1/80 sei in ihrem Fall außerdem die gegenüber § 32 AufenthG günstigere Regelung in § 2 Abs. 2 Nr. 1 AuslG 1965 weiter anwendbar, nach der Ausländer, die das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, keiner Aufenthaltserlaubnis bedürften. Der Verweis auf das Visumverfahren aus lediglich ordnungsrechtlichen Gründen sei unionsrechtlich unzulässig.

Die Rückkehr in die Republik Türkei sei ihnen auch deshalb unzumutbar, weil ihre Mutter es ablehne, sie zu sich zurückzunehmen. Der Aufenthaltsort ihrer Mutter sei unbekannt.

Die Antragsteller beantragen,

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, vorläufig von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen Abstand zu nehmen.

Die Antragsgegnerin beantragt unter Bezugnahme auf den angefochtenen Bescheid,

den Antrag abzulehnen.

Ergänzend führt sie aus, dass der Aufenthaltsstatus des Vaters der Antragsteller immer noch ungeklärt sei und daher schon ein Anspruch der Antragsteller auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bisher nicht ersichtlich sei. Der Vater der Antragsteller sei trotz mehrfacher Aufforderung, mit seiner Ehefrau gemeinsam vorzusprechen, stets alleine erschienen. Belege über eine tatsächlich bestehende eheliche Lebensgemeinschaft habe er nicht vorgelegt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen. Der Inhalt sämtlicher Akten war Gegenstand der Entscheidungsfindung.

II.

Die Entscheidung ergeht durch den Einzelrichter, dem die Kammer den Rechtsstreit mit Beschluss vom 25. Oktober 2022 zur Entscheidung übertragen hat (§ 6 Abs. 1 VwGO).

1. Der Antrag, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, bis zur Entscheidung über seine Klage in der Hauptsache keine aufenthaltsbeendenden Schritte zu unternehmen, bleibt ohne Erfolg.

a. Der Antrag ist statthaft. Lehnt die Behörde – wie hier – einen Antrag auf Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis ab, handelt es sich in der Hauptsache um eine Verpflichtungssituation, bei der vorläufiger Rechtsschutz gemäß § 123 Abs. 5 VwGO nicht auf der Grundlage des § 80 Abs. 5 VwGO i. V. m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, sondern auf Grundlage des § 123 Abs. 1 VwGO zu gewähren ist. Anderes gilt allenfalls dann, wenn der Antrag auf Erteilung oder Verlängerung des Titels eine Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 oder 4 AufenthG begründet und diese Wirkung durch die Entscheidung der Ausländerbehörde über den Antrag wieder erloschen ist (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 16.2.2021 – 11 S 3852/20 –, juris Rn. 6 und vom 7.7.2020 – 11 S 2426/19 –, juris Rn. 13). Dies ist hier nicht der Fall.

Der Antrag der Antragsteller auf erstmalige Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hat unter keinem erdenklichen Gesichtspunkt eine Erlaubnis- oder Fortgeltungsfiktion nach § 81 Abs. 3 oder Abs. 4 Satz 1 AufenthG auslösen können. Eine Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 AufenthG kommt schon nicht in Betracht, weil sie daran anknüpft, dass der Antrag auf eine Aufenthaltserlaubnis gestellt worden ist, während ein Ausländer sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Die Antragsteller haben sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten, weil sie vor ihrer Einreise in das Bundesgebiet nicht das erforderliche Visum eingeholt haben. Welches Visum erforderlich ist, ergibt sich aus § 6 AufenthG. Gemäß § 6 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist für längerfristige Aufenthalte ein Visum für das Bundesgebiet (nationales Visum) erforderlich, das vor der Einreise erteilt wird, das Schengen-Visum genügt dagegen nicht. Dass ein längerfristiger Aufenthalt der Antragsteller von Anfang an beabsichtigt war, steht angesichts der Einlassungen der Eltern der Antragsteller im Verfahren vor dem Familiengericht in der Türkei außer Zweifel.

Die Antragsteller haben sich auch nicht im Sinne von § 81 Abs. 3 AufenthG im Bundesgebiet aufgehalten, ohne im Besitz von Aufenthaltstiteln zu sein, denn ihre Schengen-Visa sind gem. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG Aufenthaltstitel.

Eine danach nurmehr mögliche Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 AufenthG scheidet schon aus, weil der Gesetzgeber in § 81 Abs. 4 S. 2 AufenthG Visa nach § 6 Abs. 1 AufenthG von der Fiktionswirkung ausgenommen hat. Das gilt auch für die Schengen-Visa der Antragsteller. Die Antragsteller haben den Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zudem erst nach Ablauf der Geltungsdauer ihrer Visa gestellt.

b. Der Antrag ist jedoch unbegründet. Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Voraussetzung hierfür ist, dass sowohl ein Anordnungsanspruch, d. h. der materielle Anspruch, für den der Antragsteller um vorläufigen Rechtsschutz nachsucht, als auch ein Anordnungsgrund, der insbesondere die Eilbedürftigkeit einer vorläufigen Regelung begründet, glaubhaft gemacht werden, § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2, § 294 ZPO. Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.

Einen Anordnungsanspruch auf Aussetzung der Abschiebung haben die Antragsteller nicht glaubhaft gemacht. Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.

Die Antragsteller sind spätestens nach Ablauf ihrer Schengen-Visa vollziehbar ausreisepflichtig (§ 50 Abs. 1 AufenthG) und ihrer Ausreise stehen weder rechtliche noch tatsächliche Hindernisse entgegen.

aa. Rechtliche Hindernisse der Abschiebung ergeben sich nicht aus einem Anspruch auf eine sogenannte Verfahrensduldung.

Die Abschiebung kann nicht allein deshalb für die Dauer des Aufenthaltserlaubniserteilungsverfahrens ausgesetzt werden, weil der Ausländer den Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Klageverfahren geltend macht und ihn im Bundesgebiet durchsetzen will (Nds. OVG, Beschluss vom 22.8.2017 – 13 ME 213/17 –, juris Rn. 3; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 11.1.2016 – 17 B 890/15 –, juris Rn. 6; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 24.2.2010 – 2 M 2/10 –, juris Rn. 7). Ein verfahrensbezogenes Bleiberecht in Form einer Erlaubnis-, Duldungs- oder Fortgeltungsfiktion hat der Bundesgesetzgeber nur für die in § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG genannten Fälle bestimmt, die hier gerade nicht gegeben sind.

Darüber hinaus kann ein Duldungsanspruch zwar zur Sicherung eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) in Betracht kommen, wenn sich aus den aufenthaltsrechtlichen Regelungen (vgl. etwa §§ 39ff. AufenthV, § 5 Abs. 2 Satz 2, § 25b, § 25 Abs. 2 und 5 AufenthG) ergibt, dass der angestrebte aufenthaltsrechtliche Status aus dem Inland verfolgt werden kann, und die Aussetzung der Abschiebung zugleich notwendig ist, um die für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erforderlichen und tatsächlich gegebenen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Dauer des Aufenthaltserlaubniserteilungsverfahrens aufrecht zu erhalten und so sicherzustellen, dass eine aufenthaltsrechtliche Regelung einem möglicherweise Begünstigten zu Gute kommen kann. Das betrifft Titel, die tatbestandlich an eine bestehende Duldung anknüpfen, nicht jedoch die Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug zu einem ausländischen Ehegatten oder Elternteil. Ein Anspruch auf eine Verfahrensduldung zur Durchsetzung eines Anspruchs zum Zusammenleben mit dem Vater der Antragsteller kommt daher nach der Rechtsprechung des Nds. Oberverwaltungsgerichts per se nicht in Betracht (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 22.8.2017 – 13 ME 213/17 –, juris).

bb. In den Personen der Antragsteller ist auch weder ein Abschiebungsverbot im Sinne von § 60a Abs. 2 AufenthG vorgetragen oder sonst ersichtlich, noch ergibt sich ein rechtliches Hindernis der Abschiebung mittelbar aus dem Schutz der familiären Lebensgemeinschaft durch Art. 6 Abs. 1 GG.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährt Art. 6 GG zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 und 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den Aufenthalt begehrenden Ausländers dem Gewicht dieser Bindungen entsprechend in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers bzw. der Trägerin des Grundrechts aus Art. 6 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine bzw. ihre familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen.

Für die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG ist die Frage, ob es den anderen Familienangehörigen zumutbar ist, die Antragsteller sein Herkunftsland zu begleiten, von erheblicher Bedeutung. Denn wenn die familiäre Lebensgemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland gelebt werden kann, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurück. Eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 GG liegt dagegen fern, wenn die Lebensgemeinschaft zumutbar auch im gemeinsamen Herkunftsland geführt werden kann. Denn Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet nicht das Recht, die familiäre Lebensgemeinschaft in Deutschland zu führen, wenn dies auch in einem anderen Land zumutbar möglich ist. Auch für die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK kommt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte der Frage erhebliche Bedeutung zu, ob das Familienleben ohne Hindernisse auch im Herkunftsland möglich ist oder ob der Nachzug das einzige adäquate Mittel darstellt, in familiärer Gemeinschaft zu leben (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.4.2009 – BVerwG 1 C 3.08 –, Rn. 18, juris m. w. N.).

Hieran gemessen geht das Gericht davon aus, dass es den Antragstellern zumutbar ist, das Bundesgebiet zu verlassen, auch wenn sie dabei von ihrem im Bundesgebiet lebenden Vater getrennt werden. Die Antragsteller haben bereits vor ihrer Einreise jahrelang nicht mit ihrem Vater zusammengelebt, sondern bei ihrer Mutter in der Republik Türkei. Ihre Mutter hält sich weiterhin in der Republik Türkei auf. Dass der Vater der Antragsteller geltend macht, dass er nichts über den Aufenthalt der Kindesmutter wisse, begründet keine Unzumutbarkeit einer wenigstens vorübergehenden Ausreise der Antragsteller. Auch die im Januar 2019 erfolgte Übertragung der elterlichen Sorge auf den Vater der Antragsteller stand zumindest bis zur Ausreise der Antragsteller im Mai 2022 deren Aufenthalt bei der Kindesmutter offenbar nicht entgegen.

Ihr Vater ist wie die Antragsteller selbst türkischer Staatsangehöriger und kann daher problemlos besuchsweise in das gemeinsame Heimatland reisen, um die familiäre Lebensgemeinschaft zu pflegen und die minderjährigen Antragsteller bei der Ausreise zu begleiten. Genauso kann er daher auch die Antragsteller begleiten und innerhalb der Republik Türkei den Aufenthalt der Mutter der Antragsteller ermitteln.

Der Vater der Antragsteller ist darüber hinaus selbst lediglich im Besitz einer Fiktionsbescheinigung und hat keinen verfestigten Aufenthalt im Bundesgebiet, sondern leitet sein Aufenthaltsrecht von einer Ehe ab, deren tatsächlichen Fortbestand die Antragsgegnerin mit substantiellen Einwänden in Zweifel zieht, und die selbst bei Fortbestehen kein zwingendes Recht auf Verbleib im Bundesgebiet begründen würde, weil die Ehefrau des Vaters der Antragsteller selbst türkische Staatsangehörige ist und die eheliche Lebensgemeinschaft ohne weiteres in der Republik Türkei fortsetzen könnte.

Auch aus dem Assoziationsratsbeschluss 1/80 ergibt sich keine Unzumutbarkeit der Ausreise der Antragsteller. Sie selbst sind nicht aus diesem Beschluss berechtigt, weil die für sie allein in Betracht kommende Vorschrift des Art. 7 ARB 1/80 einen mindestens dreijährigen rechtmäßigen Aufenthalt voraussetzt, selbst aber kein Recht auf Einreise vermittelt. Soweit die Antragsteller sinngemäß geltend machen, dass eine Trennung von ihrem Vater dessen Rechtsstellung aus dem ARB 1/80 beeinträchtige, weil sie ihn vor die Wahl stelle, seine Rechte aus dem ARB 1/80 oder die familiäre Lebensgemeinschaft aufzugeben, haben sie schon nicht glaubhaft gemacht, dass ihr Vater die geltend gemachte Rechtsstellung aus dem ARB 1/80 innehat.

Denn er ist bei seinem gegenwärtigen Arbeitgeber erst seit dem 15. Juli 2022 beschäftigt und erfüllt in diesem Beschäftigungsverhältnis schon keine der in Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 genannten Voraussetzungen. Die Dauer früherer Beschäftigungen bei anderen Arbeitgebern bleibt bei der Berechnung der dort genannten Fristen außer Betracht. Beschäftigungszeiten sind außerdem nur anzurechnen, solange sie von einem rechtmäßigen Aufenthalt getragen sind, Fiktionszeiten genügen dazu nicht. Die Rechtsstellung aus dem ARB 1/80 kann der Vater der Antragsteller daher nur dann erworben haben, wenn er vor dem Ablauf seiner Aufenthaltserlaubnis am 18. November 2020 über einen Zeitraum von mindestens drei Jahren bei demselben Arbeitgeber beschäftigt gewesen ist. Dies ergibt sich weder aus den Akten, noch haben die Antragsteller derartiges glaubhaft gemacht. Der Vater der Antragsteller ist erst seit der Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit vom 24. März 2017 berechtigt, eine Beschäftigung aufzunehmen. Seit dem 18. April 2017 war er bei der Fa. H. Bau GmbH in Mülheim an der Ruhr beschäftigt, die Beschäftigung endete ausweislich der Bescheinigung über Versicherungszeiten am 30. November 2019 und dauerte damit keine drei Jahre. Im Mai 2020, Juni 2020 und Juli 2020 war der Vater der Antragsteller bei wechselnden Arbeitgebern beschäftigt und hat schon deshalb keine durchgehenden Beschäftigungszeiten bei dem gleichen Arbeitgeber sammeln können.

Schon vor diesem Hintergrund können die Antragsteller keine für sie günstigere Rechtslage aus der Stillstandsklausel des Art. 13 ARB 1/80 ableiten; ohnehin ist die Aufhebung der Befreiung von der Aufenthaltserlaubnispflicht für unter 16-Jährige nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts durch einen solchen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt und daher mit Unionsrecht vereinbar (vgl. BVerwG, Urteil vom 6.11.2014 – BVerwG 1 C 4.14 –, juris Rn. 22).

2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 31 Abs. 1 GKG.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG. Die Höhe des Streitwertes folgt aus § 39 Abs. 1, § 53 Abs. 2, § 52 Abs. 1 GKG und entspricht Nrn. 1.1, 1.5, 8.1 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. NordÖR 2014, 11).

3. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist nicht begründet. Prozesskostenhilfe erhält gemäß §§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO, 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Hier hat der Antrag aus den dargelegten Gründen keine hinreichenden Erfolgsaussichten.