Sozialgericht Aurich
Urt. v. 21.03.2012, Az.: S 15 AS 302/09

Verpflichtung zur Ersetzung bezogener Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II wegen zumindest grob fahrlässiger Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit; Kündigung eines Berufskraftfahrers nach Entzug der Fahrerlaubnis aufgrund einer Trunkenheitsfahrt

Bibliographie

Gericht
SG Aurich
Datum
21.03.2012
Aktenzeichen
S 15 AS 302/09
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 42288
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGAURIC:2012:0321.S15AS302.09.0A

Tenor:

  1. 1.

    Der Bescheid des Beklagten vom 08.10.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10.02.2009 wird aufgehoben.

  2. 2.

    Der Bescheid des Beklagten vom 20.04.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.05.2009 wird aufgehoben.

  3. 3.

    Der Beklagte wird verurteilt, den Bescheid vom 26.09.2007 zurückzunehmen.

  4. 4.

    Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

Streitig ist, ob der Kläger verpflichtet ist die von ihm bezogenen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II wegen zumindest grob fahrlässiger Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit zu ersetzen.

Der Kläger stand zuletzt bei der Firma G. in H. in einem Arbeitsverhältnis als Berufskraftfahrer. Das Arbeitsverhältnis endete durch arbeitgeberseitige Kündigung zum 31.07.2007. Zuvor war der Führerschein des Klägers infolge einer privaten Trunkenheitsfahrt mit 2,47 Promille Blutalkoholgehalt eingezogen worden. Durch Strafbefehl des Amtsgerichts H. vom 05.09.2007 wurde ihm sodann die Fahrerlaubnis mit einer Sperrfrist von 8 Monaten entzogen.

Der Kläger beantragte am 24.07.2007 bei der I. als Rechtsvorgängerin des Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Mit Bescheid vom 05.09.2007 bewilligte diese dem Kläger und seiner Ehefrau entsprechende Leistungen für den Zeitraum 01.09.2007 bis 29.02.2008. Mit Schreiben vom selben Tage hörte sie den Kläger zur beabsichtigten Geltendmachung eines Ersatzanspruchs wegen zumindest grob fahrlässiger Herbeiführung der Leistungsvoraussetzungen an. Der Kläger erwiderte dazu, er sei zunächst mit einem Taxi von einer Feier nach Hause gekommen und habe anschließend einen "Black out" gehabt und könne sich demzufolge nicht mehr an Einzelheiten erinnern. Mit Bescheid vom 26.09.2007 stellte die I. die Ersatzpflicht des Klägers dem Grunde nach fest, der Bescheid wurde rechtskräftig. Im weiteren Verlauf zog der Kläger bei seiner Ehefrau aus und ab 01.02.2008 bei einer Frau J. ein. Dort bezog er weiterhin bis zum 31.08.2008 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Zum 01.08.2008 wurde er bei der Firma G. wiederum als Kraftfahrer eingestellt.

Mit Bescheid vom 08.10.2008 bezifferte die I. den Erstattungsbetrag auf 6005,50 Euro. Den dagegen gerichteten Widerspruch des Klägers wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 10.02.2009 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie aus, der Kläger habe sich sozialwidrig verhalten. Bei Berufskraftfahrern, die infolge einer besonders schweren Verletzung der Sorgfaltspflicht im Straßenverkehr (z. B. Trunkenheit) die Fahrerlaubnis verlieren und aus diesem Grund Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts beziehen müssen, liege ein Fall der groben Fahrlässigkeit vor.

Mit der dagegen gerichteten Klage, die unter dem Aktenzeichen S 15 AS 302/09 beim Sozialgericht Aurich anhängig ist, macht der Kläger geltend, er habe nicht grob fahrlässig gehandelt.

Mit Schreiben vom 23.10.2008 beantragte der Kläger die Überprüfung des Bescheides vom 26.09.2007 (Feststellung der Ersatzpflicht dem Grunde nach) bei der I ... Mit Bescheid vom 20.04.2009 lehnte diese den Antrag ab, der dagegen gerichtete Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 27.05.2009 als unbegründet zurück, da die Überprüfung ergeben habe, dass der Bescheid nicht zu beanstanden sei. Die dagegen gerichtete Klage war unter dem Aktenzeichen S 15 AS 699/09 beim Sozialgericht Aurich anhängig.

Das Gericht hat die Verfahren durch Beschluss vom 02.10.2009 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung miteinander verbunden.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 08.10.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10.02.2009 aufzuheben, den Bescheid des Beklagten vom 20.04.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.05.2009 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, den Bescheid vom 26.09.2007 zurückzunehmen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er ist der Auffassung, der Kläger habe sich sozialwidrig verhalten. Er habe infolge einer besonders schweren Verletzung der Sorgfaltspflichten im Straßenverkehr seine Fahrerlaubnis verloren. Damit habe er sich grob fahrlässig in die Situation gebracht Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II beziehen zu müssen.

Das Gericht hat die Verwaltungsakte des Beklagten (K.) beigezogen und bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt. Ferner wurde der Kläger im Verhandlungstermin persönlich angehört. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Akten ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig.

Der Landkreis L. ist seit dem 01.01.2012 Rechtsnachfolger des zuvor als Arbeitsgemeinschaft zwischen Bundesagentur für Arbeit und Landkreis L. betriebenen Jobcenters L. und damit richtiger Beklagter.

Bei einem Wechsel der Trägerschaft oder der Organisationsform tritt der zuständige Träger oder die zuständige Organisationsform an die Stelle des bisherigen Trägers oder der bisherigen Organisationsform; dies gilt auch für laufende Verwaltungs- und Gerichtsverfahren (§ 76 Abs. 3 S. 1 SGB II).

Ausweislich der Zweiten Verordnung zur Änderung der Kommunalträger-Zulassungsverordnung vom 14. April 2011 (BGBl. I S. 645) wurde u. a. der Landkreis L. zur alleinigen Wahrnehmung der Aufgaben der Grundsicherung für Arbeitsuchende zugelassen.

Inhaltlich ist die Klage auch begründet.

Das Verhalten des Klägers ist aufgrund der besonderen Begleitumstände nicht als grob fahrlässig zu werten, so dass die Voraussetzungen eines Ersatzanspruchs nicht vorliegen und der angefochtene Bescheid vom 08.10.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10.02.2009 aufzuheben war.

Wer nach Vollendung des 18. Lebensjahres vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für seine Hilfebedürftigkeit oder die Hilfebedürftigkeit von Personen, die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben, oder die Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts an sich oder an Personen, die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben, ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat, ist zum Ersatz der deswegen gezahlten Leistungen verpflichtet (§ 34 Abs. 1 Satz 1 SGB II in der bis zum 31.03.2011 gültigen Fassung).

Die Vorschrift beinhaltet einen quasideliktischen Anspruch, wobei der Ersatzanspruch auf die Fälle begrenzt ist, in denen das Verhalten des Betroffenen aus Sicht der Gemeinschaft, die die Grundsicherung für Arbeitsuchende durch Steuern finanziert, zu missbilligen ist (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10.07.2007 -L 5 B 410/07 AS ER; Schwitzky in: LPK-SGB II, § 34, Rn 8; Schellhorn in: Hohm, GK zum SGB II, § 34, Rn 10; Link in: Eicher/Spellbrink, Kommentar zum SGB II, § 34 Rdn. 14). Diese auch als Sozialwidrigkeit bezeichnete Missbilligung setzt ein Verschulden zumindest in Form der groben Fahrlässigkeit voraus. Maßgebend sind dabei stets die Gesamtumstände des Einzelfalls (Schellhorn a.a.O.).

Grob fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt. Bei der Feststellung der groben Fahrlässigkeit kommt es auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit, das Einsichtsvermögen und Verhalten des Leistungsempfängers sowie auf die besonderen Umstände des Falles an; der subjektive Fahrlässigkeitsbegriff gilt auch hier. Grobe Fahrlässigkeit setzt demnach eine Sorgfaltspflichtverletzung ungewöhnlich hohen Ausmaßes, d. h., eine besonders grobe und auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung voraus, die das übliche Maß der Fahrlässigkeit erheblich übersteigt. Subjektiv schlechthin unentschuldbar ist ein Verhalten, wenn schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt werden, wenn nicht beachtet wird, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen (vgl. etwa Urteil des Bundessozialgerichts vom 13.12.1972 - 7 RKg 9/69; Urteil vom 31.08.1976 - 7 RAr 112/74; Urteil vom 11.06.1987 - 7 RAr 105/85).

Der Kläger hat vorliegend ausweislich der Feststellungen im Strafverfahren (StA L. M.) eine fahrlässige Trunkenheitsfahrt begangen. Dabei war ein Blutalkoholwert von 2,47 Promille festgestellt worden, mithin ein Wert der deutlich im Bereich der absoluten Fahruntüchtigkeit liegt. Das Führen eines Kraftfahrzeuges im Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit, also mit einem Blutalkoholgehalt von über 1,1 Promille, gehört zu den schwersten Verkehrsverstößen überhaupt und gibt regelmäßig Anlass von einer groben, weil gänzlich naheliegende Überlegungen außer Acht lassenden, Fahrlässigkeit auszugehen (vgl. dazu aus der strafrechtlichen Rechtsprechung Urteil des BGH vom 22.02.1989 - IVa ZR 274/87; Urteil des Landgerichts Tübingen vom 26.04.2010 - 4 O 326/09; Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 24.09.2010 - 13 O 1964/10). Gerade dem Kläger als langjährigen Berufskraftfahrer musste dies unmittelbar einleuchten.

Allerdings ist auch in derartigen Fällen immer eine Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalls erforderlich (vgl. u. a. Link, a. a. O.; Schellhorn, a. a. O.). Bei Trunkenheitsfahrten, die zum Führerschein- und damit zum Arbeitsplatzverlust führen, sind dabei auch die Vorkehrungen zu berücksichtigen, die der Leistungsberechtigte getroffen hat, um die Benutzung des PKW in alkoholisiertem Zustand zu vermeiden (vgl. zur ähnlichen Konstellation im Versicherungsrecht BGH, Urteil vom 22.06.2011 - IV ZR 225/10).

Der Kläger hat hierzu vorgetragen, dass er bereits seit 1983 mit Unterbrechungen als Berufskraftfahrer tätig gewesen ist und bislang weder eine Trunkenheitsfahrt begangen, noch wegen eines anderen Verkehrsdeliktes den Führerschein verloren habe. Die geringe Dauer der Sperre für die Wiedererlangung der Fahrerlaubnis im strafrechtlichen Verfahren spricht dafür, dass die Auszüge aus dem Bundeszentralregister, die dem Strafrichter vorlagen aber nicht Bestandteil der staatsanwaltlichen Akte geworden sind, dies bestätigen.

Der Kläger hat im Termin zur mündlichen Verhandlung ferner vorgetragen, dass er sich seinerzeit in einer Lebenskrise befunden habe, da sich seine Frau, mit der er 33 Jahre verheiratet gewesen sei, frisch von ihm getrennt habe. Anhaltspunkte für eine eventuelle Unrichtigkeit dieser Angaben liegen nicht vor.

Schließlich ist auch zu berücksichtigen, dass der Kläger nach seinen Schilderungen sowohl im Strafverfahren, als auch im Termin zur mündlichen Verhandlung im Vorfeld Vorkehrungen getroffen hat, die grundsätzlich geeignet waren, eine spätere Trunkenheitsfahrt zu vermeiden. So ist er mit dem Taxi zu der von ihm anvisierten Feier gefahren und hatte beabsichtigt bei einer Freundin zu übernachten. Aufgrund eines nicht vorhersehbaren Ablaufs des Abends kam es dann nicht dazu, da man sich aus den Augen verloren hatte und die Wohnung der Freundin später verschlossen war.

All diese Umstände in ihrer Gesamtheit führen zwar nicht dazu, dass das Verhalten des Klägers nicht mehr als fahrlässig zu bewerten ist. Der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit lässt sich nach Überzeugung der Kammer aufgrund dieser besonderen Umstände aber nicht aufrecht erhalten. Die außergewöhnliche Lebenssituation nach Trennung von seiner Ehefrau, die jahrzehntelange beanstandungsfreie Teilnahme am Straßenverkehr und die Sorgfalt im Vorfeld, die nur aufgrund einer Verkettung nicht vorhersehbarer Umstände im Ergebnis nicht ausreichend war, lässt das Verhalten des Klägers in einem milderen Licht erscheinen. Damit aber fehlt es an dem für die Geltendmachung eines Ersatzanspruchs nach § 34 SGB II erforderlichen Grad des Verschuldens.

Aus diesen Gründen war auch der Bescheid vom 20.04.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.05.2009 aufzuheben und der Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 26.09.2007 zurückzunehmen; denn der Beklagte bzw. seine Rechtsvorgängerin hat insoweit das Recht unrichtig angewandt.

Soweit sich im Einzelfall ergibt, das bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb u.a. Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen (§ 44 SGB X).

Die unrichtige Rechtsanwendung ergibt sich aus den oben ausgeführten Erwägungen, wonach dem Kläger ein Schuldvorwurf in Form der groben Fahrlässigkeit nicht gemacht werden kann.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Frank