Sozialgericht Aurich
Urt. v. 12.01.2012, Az.: S 55 AS 385/11
Aufhebung und Rückforderung von SGG-II-Leistungen bei Auszug aus einer mit der Mutter geführten Bedarfsgemeinschaft ohne Meldung des Auszugs
Bibliographie
- Gericht
- SG Aurich
- Datum
- 12.01.2012
- Aktenzeichen
- S 55 AS 385/11
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2012, 42289
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGAURIC:2012:0112.S55AS385.11.0A
Verfahrensgang
- nachfolgend
- LSG Niedersachsen-Bremen - AZ: L 13 AS 44/12
Rechtsgrundlagen
- § 50 Abs. 1 SGB X
- § 38 SGB II
- § 39 SGB II
Tenor:
Der Bescheid vom 17.01.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.05.2011 wird aufgehoben. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Aufhebungs- und Erstattungsbescheides des Beklagten gegenüber der Klägerin.
Die Klägerin ist am H. geboren und lebte im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Beklagten in I ... Die Eltern der Klägerin sind geschieden. Bis zum 27.09.2009 lebte die Klägerin bei ihrer Mutter. Dort bezog sie in Bedarfsgemeinschaft Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Weitere Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft zum damaligen Zeitpunkt waren die Mutter und zwei Schwestern der Klägerin. Dieser Bedarfsgemeinschaft wurden mit Bewilligungsbescheid vom 30.06.2009 in Form eines Änderungsbescheids vom 26.11.2009 Leistungen für den Zeitraum bis Dezember 2009 bewilligt. Die Leistungen für die Klägerin ausweislich des Änderungsbescheides erreichten einen Betrag von 255,63 Euro pro Monat. Mit Bescheid vom 11.01.2010 wurden der Bedarfsgemeinschaft auf den Folgeantrag vom 21.12.2009 weiter Leistungen für die Zeit von Januar bis Juni 2010 bewilligt. Die Leistungshöhe für die Klägerin erreichte in diesem Bescheid in den Monaten Januar und Februar 2010 den Betrag von 226,80 Euro.
Mit dem 27.09.2009 zog die Klägerin in Einvernehmen mit ihren Eltern bei der Mutter aus und bei ihrem Vater ein. Dort bezog sie keine Leistungen nach dem SGB II. Weder die Klägerin noch die Mutter gaben ihren Umzug beim Beklagten an. Im Folgeantrag vom 21.12.2009 kreuzte die Mutter an, dass bezüglich der Zusammensetzung der Bedarfsgemeinschaft keine Änderungen gegenüber dem Vorzeiträumen beständen.
Jedenfalls im streitigen Zeitraum bestand gemeinsames Sorgerecht der geschiedenen Eltern für die Klägerin.
Nachdem der Beklagte Kenntnis vom Auszug der Klägerin aus der Bedarfsgemeinschaft der Mutter erlangt hatte, erließ er den hier streitigen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 17.01.2011. Der Bescheid wurde an die Klägerin adressiert zu Händen des gesetzlichen Vertreters, ihres Vaters. Es wurde verfügt, dass gemäß § 48 Abs. 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren (SGB X) der Bewilligungsbescheid vom 30.06.2009 und der Änderungsbescheid vom 26.11.2009 über die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II betreffend der Zeiträume vom 01.09.2009 bis 31.12.2009 teilweise aufgehoben wurde. Des Weiteren wurde verfügt, dass der Bewilligungsbescheid vom 11.01.2010 betreffs der Zeiträume vom 01.01.2010 bis 28.02.2010 gemäß § 45 Abs. 1 SGB X teilweise aufgehoben wurde. Als dritter Verfügungssatz fand sich folgendes: Gemäß § 50 SGB X fordere ich hiermit die in den Monate September 2009 bis Februar 2010 für ihre Tochter zu unrecht gezahlten Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 614,00 Euro von ihr zurück. Als Begründung wurde angegeben, dass der Klägerin für den oben genannten Zeitraum kein Leistungsanspruch nach dem SGB II in Bedarfsgemeinschaft mit ihrer Mutter zugestanden hätte. Sie sei bei der Mutter ausgezogen. Die Aufhebung könne erfolgen, da weder die Mutter noch die Tochter den Umzug mitgeteilt hätten. Damit liege ein Verstoß gegen Mitteilungspflichten vor. Dies führe auch dazu, dass eine Berufung auf Vertrauensschutz ausscheide. Es wurde auch erwähnt, dass die Aufhebung der Leistungen aufgrund des Individualisierungsgrundsatzes gegenüber jedem einzelnem Mitglied der ehemaligen Bedarfsgemeinschaft zu erfolgen habe. Zu erstatten seien deswegen 614,00 EUR. Eine Aufschlüsselung des Rückforderungsbetrages fand nicht statt. Der Widerspruch der Klägerin wurde mit Widerspruchsbescheid vom 03.05.2011 zurückgewiesen.
Die Klägerin ist der Auffassung, dass eine Rückforderung ihr gegenüber rechtswidrig sei, es käme höchstens eine Rückforderung gegenüber der Mutter in Betracht. Die Leistungsbeträge seien nicht an sie ausgezahlt worden, sondern an ihre Mutter.
Dementsprechend beantragt die Klägerin,
den Bescheid vom 17.01.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.05.2011 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte ist der Auffassung, dass dem Individualisierungsgrundsatz genüge getan sei und eine Rückforderung gegenüber der Klägerin rechtmäßig sei.
Gegenstand der Entscheidungsfindung waren die Gerichtsakten, die vom Beklagten überreichten Verwaltungsakten und der Inhalt der mündlichen Verhandlung vom 12.01.2012.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid vom 17.01.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.05.2011 ist gegenüber der Klägerin rechtswidrig ergangen. Dieser Betrag kann nicht gemäß § 50 SGB X von der Klägerin gefordert werden.
1. Bezüglich der Leistungen für das Jahr 2009 kann der Beklagte die erbrachten Leistungen nicht gemäß § 50 Abs. 1 SGB X von der Klägerin zurückfordern. § 50 Abs. 1 SGB X lautet: Soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist, sind bereits erbrachte Leistungen zu erstatten. Diese Regelung besagt, dass erbrachte Leistungen zu erstatten sind. Dies bedeutet, dass nur diejenigen Leistungen zu erstatten sind, die der Adressat der Erstattungsverfügung auch erhalten hat. Für die Zeit ab September 2009 hat der Beklagte die Leistungen nicht direkt an die Klägerin ausgezahlt, sondern auf das Konto der Mutter für die Klägerin gezahlt. Dies entspricht auch der üblichen Verwaltungspraxis, da § 38 SGB II die Vermutung einer Empfangsvollmacht des Vertreters der Bedarfsgemeinschaft konstituiert.
Diese Vermutung des § 38 Satz 2 SGB II war jedoch für die Zeit ab September 2009 betreffs der Klägerin nicht mehr anwendbar. Diese Regelung erfordert im Tatbestand als Voraussetzung der Vermutungswirkung, dass mehrere erwerbsfähige Hilfebedürftige in einer Bedarfsgemeinschaft zusammen leben. Mit dem Auszug vom 27.09.2009 war jedoch das Bestehen der Bedarfsgemeinschaft der Klägerin mit ihrer Mutter beendet. Die Geldbeträge können dementsprechend nicht bei der Klägerin gefordert werden. Sie sind nur an die Mutter der Klägerin geleistet worden, die Klägerin hat keine Leistungen erhalten.
Da schon aus diesem Grund die Rückforderung gegenüber der Klägerin für die Monate im Jahre 2009 rechtswidrig ist, kann nach Auffassung der Kammer dahingestellt bleiben, ob eine Aufhebung für die streitigen Zeiten in 2009 rechtmäßig erfolgt ist. Hierfür würde sprechen, dass die fehlenden Angaben des Auszugs der Mutter gemäß §§ 278 bzw. 1629 des Bürgerlichen Gesetzbuches der Klägerin zuzurechnen sein dürften.
2. Bezüglich der Monate Januar und Februar 2010 sind ebenfalls Erwägungen betreffs § 38 SGB II entscheidungserheblich. Da in diesem Zeitraum ebenfalls keine Bedarfsgemeinschaft der Klägerin mit ihrer Mutter mehr bestand, kann die Vermutungsregelung des § 38 Satz 2 SGB II nicht einschlägig sein. Eine Empfangsvollmacht der Mutter für die Klägerin bestand nicht. Die streitigen Geldbeträge wurden nicht an die Klägerin geleistet.
Bezüglich der Aufhebung des Bescheides vom 11.01.2010 für die Monate Januar und Februar 2010 gegenüber der Klägerin ist die Kammer der Auffassung, dass es einer solchen Aufhebung inhaltlich nicht bedurfte. Vielmehr war die Bewilligung bezüglich der Klägerin für diesen Zeitraum ihr gegenüber nicht existent. Es gab keinen entsprechenden Verwaltungsakt. Ein Verwaltungsakt wird nur dann rechtswirksam, wenn er dem Adressaten bekannt gegeben wird, § 39 SGB X. Der Bescheid vom 11.01.2010 wurde der Klägerin nicht bekannt gegeben. Eine Bekanntgabe gegenüber der Mutter ist der Klägerin gegenüber zu dieser Zeit nicht wirksam. Dies folgt daraus, dass die Vermutung des § 38 S. 1 SGB II nicht einschlägig ist, die ebenfalls das Zusammenleben in einer Bedarfsgemeinschaft voraussetzt. Diese bestand nicht.
3. Vor diesem Hintergrund der fehlenden Anwendbarkeit des § 38 SGB II bestand keine Veranlassung, sich mit der aktuellen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Bestimmtheit von Erstattungsforderungen (BSG vom 07.07.2011, Aktenzeichen B 14 AS 153/10 R) auseinander zu setzen. Es spricht jedoch sehr viel dafür, dass die dort konstatierten Anforderungen der Nachvollziehbarkeit der Forderung bzw. Erkennbarkeit der Forderung als Voraussetzung einer Erstattung nicht erfüllt sind. Der Betrag von 614,00 Euro ist nicht nachvollziehbar. Er wird weder im Ursprungsbescheid noch im Widerspruchsbescheid erläutert. Die Zahl erschließt sich auch nicht daraus, dass für die Klägerin in der Sache in den streitigen Monaten in der Sache eine vollständige Aufhebung der Leistungen erfolgt ist, denn dies würde zu deutlich höheren Beträgen führen. (4 x 225,63 und 2 x 226,08 Euro). Im Übrigen wurde im streitigen Bescheid auch nur eine teilweise Aufhebung geregelt, was aber wohl nicht durchgeführt wurde. Nur eine vollständige Aufhebung entspricht der Begründung des Bescheides. Zwar stellt der Betrag von 614,00 Euro einen deutlich geringeren Betrag als dasjenige dar, was bei vollständiger Aufhebung von der Klägerin zurückzufordern gewesen wäre, aber da in den Verfügungssätzen ausdrücklich eine teilweise Aufhebung verfügt wurde, bestand keine Überprüfbarkeit im Sinne des § 33 SGB X bezüglich der hier streitigen Bescheide.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Klägerin ist mit ihrem Begehren im vollen Umfange erfolgreich gewesen.
Der Berufungsstreitwert des § 144 SGG ist nicht erreicht. Jedoch besteht nach Auffassung der Kammer eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 144 Abs. 2 SGG, so dass die Berufung zuzulassen war. Diese grundsätzliche Bedeutung resultiert daraus, dass nach Kenntnis der Kammer aktuell keine Rechtsprechung zur formalen Betrachtung des § 38 SGB II existiert.