Sozialgericht Aurich
Urt. v. 29.02.2012, Az.: S 23 AY 23/10
Auswirkungen einer früheren Identitätstäuschung durch einen Asylbewerber bei der Gewährung von Sozialleistungen nach einer erneuten Einreise
Bibliographie
- Gericht
- SG Aurich
- Datum
- 29.02.2012
- Aktenzeichen
- S 23 AY 23/10
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2012, 42290
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGAURIC:2012:0229.S23AY23.10.0A
Rechtsgrundlagen
- § 2 AsylbLG
- § 3 AsylbLG
Tenor:
- 1.
Der Bescheid vom 15.06.2010 und die Bescheide durch Auszahlungen in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.11.2010 werden insoweit aufgehoben, als dem Kläger zu 1. Leistungen nach § 2 AsylbLG unter Anrechnung der bereits gewährten Leistungen nach § 3 AsylbLG für die Zeit von Februar bis März und Mai bis Juni 2010 bewilligt werden und den Klägern zu 2. und 3. für August bis Oktober 2009 und für Februar und März sowie Mai bis Juni 2010. Der Beklagte wird zur Auszahlung der Differenzbeträge verpflichtet.
- 2.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
- 3.
Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Kläger zu 90%.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Berechtigung der Kläger, vom Beklagten im streitigen Zeitraum Leistungen nach § 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) in Verbindung mit dem 12. Buch des Sozialgesetzbuches - Sozialhilfe (SGB XII) zu beziehen.
Der Kläger zu 1., geb. 1967 ist der Ehemann der Klägerin zu 2., geb. 1968 und beide sind die Eltern des Klägers zu 3., geb. am 31.08.1992. Die Kläger lebten zumindest ab 2004 im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Beklagten und standen von 2004 zumindest bis 2010 im laufenden Bezug für Leistungen gemäß AsylbLG. Die Kläger stammen aus dem Kosovo und gehören dem Volksstamm der Roma an.
Zunächst von 1992 bis 2002 hielten die Kläger sich im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland auf, sie waren aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien eingereist. Zu dieser Zeit unter dem Namen I ... Sie reisten 2002 aus und zwar nach Schweden. Dort bezogen sie nach Auskunft des Klägers zu 1. in der mündlichen Verhandlung Sozialleistungen und nahmen an Schulungskursen teil. Die Kläger zu 2. und 3. befinden sich seit Dezember 2004 wieder im Bundesgebiet, der Kläger zu 1. seit März 2005.
Die neuerliche Einreise in das Gebiet der Bundesrepublik erfolgte unter dem Namen J. unter Vorlage von Pässen und unter Angabe der Volkszugehörigkeit zum Volke der Roma. Die Kläger erhielten im streitigen Zeitraum laufend Duldungen gemäß § 60a des Aufenthaltsgesetzes.
Der Kläger zu 3. erhält seit dem 01.09.2010 Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG in Verbindung mit SGB XII. Ansonsten wurden den Klägern in der Zeit seit 2004 bzw. 2005 durchgängig Leistungen nach § 3 AsylbLG unter Anrechnung von Einkommen gewährt. Der Kläger zu 1. war vom 01.08.2005 bis 31.01.2006 inhaftiert und erhielt während dieser Zeit keine Leistungen vom Beklagten. In den Monaten Oktober 2009 und November 2009 bezog der Kläger zu 1. ein Einkommen, welches den Bedarf an Sozialleistungen deckte.
Streitig zwischen den Beteiligten ist ein Bescheid vom 15.06.2010, mit dem den Klägern Leistungen nach dem AsylbLG in Form der Grundleistungen gemäß § 3 AsylbLG für den Monat Juni 2010 bewilligt wurden in Gestalt eines Widerspruchsbescheides vom 22.11.2010. Mit diesem Widerspruchsbescheid wurde auch eine Entscheidung bezüglich der bescheidlosen Leistungsbewilligungen ab dem 01.07.2009 für die Kläger getroffen. Jedenfalls für die Monate Januar und April 2010 liegen bestandskräftige Bewilligungsbescheide über Leistungen nach § 3 AsylbLG vor.
Die Zurückweisung des Begehrens der Kläger bezüglich der Analogleistungen im § 2 Abs. 1 AsylbLG in Verbindung mit SGB XII stützte der Beklagte auf ein Fehlverhalten in den Jahren 1992 bis 2002, nämlich eine Identitätstäuschung.
Die Kläger sind der Auffassung, dass eine evtl. Identitätstäuschung in den Jahren 1992 bis 2002 keine Auswirkungen auf die Zeit nach ihrer Wiedereinreise im Jahre 2004 bzw. 2005 haben könne. Deswegen liege bei ihnen keinerlei Rechtsmissbräuchlichkeit im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG vor.
Die Kläger beantragen,
der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 15.06.2010 sowie des Widerspruchsbescheides vom 22.11.2010 verurteilt, den Klägern zu 1. und 2. für die Monate August 2009 bis Oktober 2009, Februar und März 2010 sowie ab Mai 2010 und dem Kläger zu 3. von August 2009 bis Oktober 2009, Februar und März 2010 sowie von Mai 2010 bis zum 30.08.2010 höhere Leistungen nach § 2 AsylbLG unter Anrechnung bereits gewährter Leistungen nach § 3 AsylbLG zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte ist weiterhin der Auffassung, dass die Identitätstäuschung der Kläger aus den Jahren 1992 bis 2002 eine Rechtsmissbräuchlichkeit auch für den streitigen Zeitraum bedinge.
Gegenstand der Entscheidungsfindung waren die Verwaltungsakten des Beklagten, die Gerichtsakte und der Inhalt der mündlichen Verhandlung vom 29.02.2012.
Entscheidungsgründe
Die zulässigen Klagen der Kläger sind im tenorierten Umfang begründet. Die streitigen Bescheide verletzen die Kläger insoweit in ihren Rechten.
1.
Aufgrund des Grundsatzes des individuellen Leistungsanspruchs der Leistungsberechtigten im AsylbLG handelt es sich um mehrere Klagen der Kläger, die als Klagehäufung zulässig sind.
2.
Der zwischen den Beteiligten streitige Zeitraum betrifft die Zeit vom 01.07.2009 bis 30.06.2010 insoweit, als dass mit einem Bescheid vom 15.06.2010 die Leistungsbewilligung nach dem AsylbLG für die Kläger für den Monat Juni 2010 geregelt wurde und in den weiteren streitigen Monaten bescheidlose Bewilligungen von Leistungen nach AsylbLG erfolgt sind. Die Beschränkung des klägerischen Antrages rührt nach ihrer Auskunft daher, dass in denjenigen Monaten, die vom Antrag ausgenommen wurden, Leistungen durch inzwischen bestandskräftige Leistungsbescheide gemäß § 3 AsylbLG bewilligt wurden. Die Begrenzung des streitigen Zeitraumes durch den nächsten nachfolgenden Bewilligungsbescheid erfolgt ab dem 01.07.2010, da der nächste Bescheid vom 16.07.2010 den Monat Juli 2010 regelte.
3.
Die Kläger können in tenoriertem Umfang vom Beklagten Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG in Verbindung mit dem SGB XII beanspruchen. Sie sind als geduldete Ausländer leistungsberechtigt i.S.d. § 1 Abs. 1 AsylbLG. Die Klage des Klägers zu 1. ist bezüglich der Zeit Juli bis Oktober 2009 unbegründet.
§ 2 Abs. 1 AsylbLG regelt: Abweichend von den §§ 3 bis 7 ist das 12. Buch Sozialgesetzbuch auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 48 Monaten Leistungen nach § 3 erhalten haben und die Dauer des Aufenthaltes nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.
Bei den Klägern zu 2. und 3. ist die Vorbezugszeit bezüglich Leistungen nach § 3 AsylbLG jedenfalls ab dem 01.12.2008 und damit vor dem streitigen Zeitraum erfüllt. Bezüglich des Klägers zu 1. ist die Vorbezugszeit erst mit dem 01.10.2009 erfüllt, sodass schon aus diesem Grunde kein Anspruch auf Leistungen gemäß § 2 AsylbLG für die Zeit bis September 2009 besteht ... Diese Differenz resultiert daraus, dass der Kläger zu 1. nicht im Dezember 2004 in das Bundesgebiet eingereist ist, sondern im März 2005. Des Weiteren daraus, dass der Kläger in der Zeit von August 2005 bis Januar 2006 in Haft war und keine Leistungen gemäß § 3 AsylbLG bezogen hat.
Streiterheblich bezüglich des Klägers zu 1. ist die Kammer der Auffassung, dass die sogenannte Vorbezugszeit erst ab der zweiten Einreise im Jahre 2005 zu berechnen ist. Dies ergibt sich daraus, dass die Ausreise der Kläger in den Jahren 2002 zu einer Beendigung der Leistungsberechtigung nach dem AsylbLG geführt hatte und daher ab Wiedereinreise ein neuer Leistungsfall vorliegt, der zu einer Neuberechnung der Vorbezugszeit führen muss. Diese Bewertung ergibt sich daraus, dass § 1 Abs. 1 AsylbLG die Leistungsberechtigung eines Ausländers nach dem AsylbLG an den Aufenthaltsstatus wie z. B. die Duldung sowie an den tatsächlichen Aufenthalt im Bundesgebiet anknüpft. Die Leistungsberechtigung endet dementsprechend nach § 1 Abs. 3 AsylbLG u.a. mit der Ausreise. Eine Ausreise hat das Ende des von § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG vorausgesetzten Aufenthaltsstatus der Duldung zur Folge. Eine Ausreise ist das auch nur vorübergehende Verlassen des Gebietes der Bundesrepublik Deutschland durch Überstreiten der Grenze zu einem Nachbarstaat im Sinne eines tatsächlichen Verlassens (Funke-Kaiser in Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz Stand: Februar 2008 § 60a Rn 235 m.w.N.). Diese Bewertung resultiert aus § 13 Aufenthaltsgesetz, der den Grenzübertritt regelt und die Begriffe der Ein- und Ausreise alleine an das Passieren einer Grenzübergangsstelle knüpft.
Aufgrund der rein tatsächlichen Anknüpfung sind für das Erlöschen der Duldungen der Kläger durch den Grenzübertritt nach Schweden (und vermutliche weitere Grenzübertritte) weder die Dauer des Aufenthaltes im Zielstaat, noch die mit der Ausreise verbundenen Motive oder Absichten von Bedeutung. Diese Bewertung der Ausreise und der Folge des Erlöschens einer Duldung entspricht dem Begriff der Ausreise in § 1 Abs. 3 AsylbLG. Durch das Verlassen des Bundesgebietes endet die Leistungsberechtigung (zu allem ausführlich BSG vom 24.09.2009, Az: B 8 AY 10/07 R). Die Beendigung der Leistungsberechtigung nach dem AsylbLG auf diesem Wege ist auch dauerhaft und endgültig. Eine neue Berechtigung zum Bezug von Leistungen nach dem AsylbLG kommt erst bei Wiedereinreise in das Gebiet der Bundesrepublik und neuerlicher Antragstellung bezüglich von Leistungen nach dem AsylbLG in Betracht. Ein sozusagen Wiederaufleben einer evtl. vorherigen Leistungsbewilligung ist gesetzlich nicht vorgesehen.
Die vom Kläger in Haft verbrachte Zeit von August 2005 bis Januar 2006 ist nicht als Vorbezugszeit im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG anzurechnen, da er in der entsprechenden Zeit keinerlei Leistungen nach AsylbLG erhalten hat. Diese Form der fehlenden Leistungsberechtigung nach dem AsylbLG führt aber nicht dazu, dass nach Beendigung der Haft ein neuer Leistungsfall im obigen Sinne eingetreten ist. Eine solche Beendigung der Leistungsberechtigung tritt nicht ein, da der Aufenthaltsstatus des Klägers zu 1. während dieser Zeit unverändert blieb, er das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nicht verlassen hat. Bezugszeiten nach § 3 AsylbLG vor und nach einer solchen vorübergehenden Zeit sind zu addieren bis die relevante Vorbezugszeit von 48 Monaten erreicht ist (BSG a.a.O. m.w.N.; BSG vom 17.06.2008, Az: B 8/9b AY 1/07 R Hohm im Schellhorn, SGB XII-Kommentar, 18. Auflage 2010, § 2 AsylbLG Rn 8 m.w.N.).
Weitere Voraussetzung des Anspruches auf Leistungen nach § 2 AsylbLG in Verbindung mit dem SGB XII ist, dass die Leistungsempfänger ihre Aufenthaltsdauer im Gebiet der Bundesrepublik nicht rechtsmissbräuchlich beeinflusst haben. Ein solches rechtsmissbräuchliches Verhalten kann durch eine Identitätstäuschung durch Angabe falscher Namen bestehen.
Bei den Klägern liegt eine Rechtsmissbräuchlichkeit in diesem Sinne bezüglich des zu entscheidenden Zeitraumes nicht vor. Bezüglich der Ermittlung eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG ist nach Auffassung der Kammer grundsätzlich auf den aktuellen Leistungsfall des leistungsberechtigten Ausländers abzustellen.
Dies ergibt sich aus den obigen Erwägungen, wonach bei Ausreise und Verlassen des Bundesgebietes durch Grenzübertritt ein vollständig neuer Leistungsfall im Sinne des AsylbLG vorliegt. (s.o.) Es würde einen Widerspruch innerhalb des Gesetzes darstellen, wenn man zum einen bezüglich der relevanten Vorbezugszeit auf einen Zeitraum erst nach Wiedereinreise abstellt und zum anderen eine Rechtsmissbräuchlichkeit die in vorherigen Zeiten liegt als relevant ansehen würde. (zur Frage der Fortwirkung eines Rechtsmissbrauchs siehe unten)
Die Kläger haben in der Zeit seit ihrer zweiten Einreise ausweislich der Akten und dem Vorbringen der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung kein rechtsmissbräuchliches Verhalten im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG an den Tag gelegt. Insbesondere begingen sie nach Wiedereinreise in die Bundesrepublik keine Identitätstäuschung bezüglich ihres Namens mehr, da sie bei dieser Einreise gültige Passpapiere vorlegten und unter diesen ihren wirklichen Namen einreisten. Anhaltspunkte dafür, dass auch diese angegebenen Namen nicht die Namen der Kläger sind, bestehen für das Gericht wie auch für den Beklagten nicht. Auch haben die Kläger nicht über ihre Identität in Bezug auf ihre Volks- oder Staatsangehörigkeit getäuscht. Eine solche wäre im übrigen für die Zeit nach der Wiedereinreise sinnlos gewesen, da zumindest im streitigen Zeitraum eine Abschiebung der Kläger als Volksangehörige der Roma abstrakt nicht möglich war.
Nach Auffassung der Kammer könnte auf ein Verhalten der leistungsberechtigten Ausländer vor der Wiedereinreise in das Bundesgebiet abzustellen sein, wenn dieses Verhalten der Beeinflussung der gesamten Dauer des zweiten Aufenthaltes dient (vgl. BSG vom 18.06.2008, Az: B 8/9b AY 1/07 R). Wenn ein Verhalten während des ersten Aufenthaltes oder während der Abwesenheit aus dem Bundesgebiet sich auch bezüglich der zweiten Dauer des Aufenthaltes weiterhin auswirkt, ist es auch für die erkennende Kammer gerechtfertigt, hierbei eine Rechtsmissbräuchlichkeit auch bezüglich des zweiten Aufenthaltszeitraums anzunehmen. Eine solche Konstellation ist bezüglich der Kläger aus den Akten und aus dem Vorbringen der Beteiligten nicht ersichtlich. Die Kläger haben unstreitig in den Jahren 1992 bis 2002 während ihres ersten Aufenthaltes falsche Namen angegeben. Dies war bezüglich des damaligen Aufenthaltes wohl rechtsmissbräuchlich, was die Kammer aber hier aktuell nicht zu entscheiden hat. Da die Kläger jedoch bei der zweiten Wiedereinreise ihre richtigen Namen angaben und durch Papiere nachwiesen, wirkt sich die Angabe eines anderen Namens in der Vorzeit aktuell nicht weiter aus. Die jetzige Dauer des Aufenthalts ist von der früheren Täuschung unabhängig. Andere rechtsmissbräuchliche Verhaltensweisen sind für das Gericht nicht erkennbar.
Der Kläger zu 1. unterliegt mit seinem Begehren bezüglich der Bewilligung höherer Leistungen für den Monat Oktober 2009 aufgrund der Tatsache, dass er in diesem Monat ausweislich der Akten und des Vorbringens des Beklagten ein Einkommen erzielt hat, welches seinen Bedarf an Leistungen nach dem AsylbLG wie auch nach dem SGB XII deckte.
4.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Die Kläger haben in überwiegendem Umfange mit ihrem Begehren obsiegt. Ein Unterliegen liegt nur bezüglich des Klägers zu 1. für die Monate August bis Oktober 2009 vor. Dies ergibt gerundet eine Kostentragungspflicht von 90 % der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Kläger für den Beklagten.