Sozialgericht Aurich
v. 13.01.2012, Az.: S 35 AS 629/11

Rechtmäßigkeit eines gegenüber einem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen ergangenen Eingliederungsverwaltungsaktes

Bibliographie

Gericht
SG Aurich
Datum
13.01.2012
Aktenzeichen
S 35 AS 629/11
Entscheidungsform
Gerichtsbescheid
Referenz
WKRS 2012, 41455
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGAURIC:2012:0113.S35AS629.11.0A

Tenor:

Der Bescheid des Beklagten vom 22.07.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.08.2011 wird aufgehoben. Die Kosten des Rechtsstreits, insbesondere die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers, sind vom Beklagten zu erstatten.

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen den Eingliederungsverwaltungsakt des Beklagten vom 22.07.2011.

In dem Vermittlungsgespräch am 11.07.2011 legte der Beklagte dem Kläger durch seinen Arbeitsvermittler eine Eingliederungsvereinbarung zwecks Abschlusses vor. Nach dieser Eingliederungsvereinbarung sollte der Kläger sich dazu verpflichten, an der Maßnahme "Reintegrationskurs Vermittlung mit intensiver Betreuung" in dem Zeitraum vom 01.08. bis zum 31.10.2011 bei dem Institut für berufliche Bildung (IBB) in D. teilzunehmen. Gegenstand dieser Maßnahme sei die berufliche Eingliederung und Stabilisierung durch intensive, aktive Begleitung und Unterstützung der Vermittlung in eine versicherungspflichtige Beschäftigung. In dem Kurs werde eine Heranführung an das Erwerbsleben erfolgen, das Arbeits- und Sozialverhalten gestärkt werden, sowie Perspektiven erarbeitet und Lernbereitschaft gefördert werden. Weiter sollte der Kläger sich dazu verpflichten, in der Zeit vom 01.08. bis zum 31.10.2011 mindestens fünf Bewerbungsbemühungen als Eigenbemühungen auf geeignete, tatsächlich gemeldete, sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse (ohne Vermittlungsvorschläge durch den Beklagten) zu unternehmen und hierüber jeweils monatlich zum Ersten die oben genannten Eigenbemühungen mit Belegen beim Beklagten vorzulegen. Zu dem Abschluss der Eingliederungsvereinbarung kam es bei dem Vermittlungsgespräch nicht.

Mit Schreiben vom 19.07.2011 wandte der Kläger sich durch seinen Prozessbevollmächtigten an den Beklagten, um Änderungen an der Eingliederungsvereinbarung herbeizuführen. Der Kläger sei grundsätzlich bereit, eine adäquate Eingliederungsvereinbarung abzuschließen. Die in der vorgelegten Eingliederungsvereinbarung vorgeschlagene Maßnahme "Reintegrationskurs Vermittlung mit intensiver Betreuung" sei nicht geeignet, dass berufliche Fortkommen des Klägers zu fördern. Zumal der Kläger in den vergangenen Jahren mehrfach in einer Ein-Euro-Maßnahme auf dem Friedhof in E. tätig gewesen sei, dürfte dem beruflichen Fortkommen eher eine Maßnahme im Bereich in der Gartenpflege und des Gartenbaus dienen. Solche Maßnahmen würden auch der F. und G. in D. angeboten. Es sei dort insbesondere möglich, einen Abschluss als Gartenlandschaftsbauer zu erwerben. Sollte eine Maßnahme im Bereich des Gartenbaus oder der Gartenpflege nicht durchzuführen sein, sei der Kläger aber auch bereit, in anderen Bereichen, die seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten entsprechen, Maßnahmen durchzuführen. Dies sei insbesondere der Fall im Bereich der PC-Wartung und der IT-Pflege, des Brandschutzes, im medizinischen Bereich als Sanitäter und weiteren - unbenannten - Bereichen. Ferner sei auch die Anordnung des Nachweises der Bewerbungsbemühung zum jeweils Ersten eines Monats rechtswidrig. Es sei vielmehr sinnvoll, wenn der Kläger bei dem Vermittlungsgesprächen die erfolgten Bewerbungen vorlegen könne. Es bestehe insofern keine Notwendigkeit, von dieser Regelung abzuweichen.

Mit Bescheid vom 22.07.2011 erließ der Beklagte gegenüber dem Kläger die am 11.07.2011 vorgeschlagene Eingliederungsvereinbarung als Verwaltungsakt. Zur Begründung führte er an, dass eine Eingliederungsvereinbarung über die zur beruflichen Eingliederung erforderlichen Leistungen nicht zustande gekommen sei. Um die beruflichen Integrationschancen des Klägers möglichst kurzfristig zu verbessern, werde die Eingliederungsvereinbarung mit nachfolgendem Inhalt nach § 15 Abs. 1 SGB II als Verwaltungsakt erlassen.

Mit Schreiben vom 03.08.2011 legte der Kläger durch seinen Prozessbevollmächtigten gegen die Eingliederungsvereinbarung vom 22.07.2011 Widerspruch ein. Zur Begründung nahm er im wesentlichen Bezug auf das Schreiben vom 19.07.2011. Er habe zudem weder ein Motivationsproblem noch Schwierigkeiten, seinen Tagesablauf zu regeln. Er bemühe sich eigenständig um Arbeit. Seine Bewerbungen seien weder in formeller noch in inhaltlicher Hinsicht zu beanstanden. Wenn er Arbeiten nachgehe, erfülle er die Erwartungen seines Arbeitgebers zur vollsten Zufriedenheit. Dies habe auch der Gemeindepfarrer, der für seine Anstellung bei dem Friedhof E. zuständig gewesen sei, bescheinigt. Die Probleme, die der Kläger auf dem Arbeitsmarkt habe, ruhten schlicht daher, dass ihm die beruflichen Qualifikationen fehlten.

Mit Widerspruchsbescheid vom 29.08.2011 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Die Reintegrationsmaßnahme "Vermittlung mit intensiver Betreuung" sei für den Kläger geeignet und zumutbar. Allein die Tatsache, dass der Kläger zuletzt im Zeitraum vom 01.05.1999 bis zum 14.12.2001 soziaversicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei und seit dem 15.12.2001 mit lediglich kurzen Unterbrechungen durch seine Tätigkeit bei der Firma H. in I. im Zeitraum vom 27.02. bis zum 25.03.2006 und auch zwischen den diversen beruflichen Maßnahmen und Arbeitsangeboten des Beklagte arbeitslos gewesen sei, ließe erkennen, dass der Kläger Defizite habe, die durch die oben genannte Maßnahme verringert beziehungsweise beseitigt werden könnten. Da der Kläger sich geweigert habe, die Teilnahme an der Maßnahme zu vereinbaren, sei er gemäß § 15 Abs. 1 S. 6 SGB II per Verwaltungsakte hierzu zu verpflichten gewesen.

Mit der am 30.09.2011 eingegangen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren gerichtlich fort.

Er wiederholt zur Begründung im Wesentlichen sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren.

Er beantragt,

den Bescheid vom 22.07.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.08.2011 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Verwaltungsakte und die Prozessakte, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.

Entscheidungsgründe

I.

Die Kammer kann ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist, § 105 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

II.

Die zulässige Klage ist begründet. Die mit Verwaltungsakt vom 22.07.2011 erlassene Eingliederungsvereinbarung rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

1. Es kann dahinstehen, ob der Eingliederungsverwaltungsaktes vom 22.07.2011 in inhaltlicher Hinsicht rechtmäßig st.

2. Es kann ferner dahinstehen, ob dem Kläger ein Anspruch auf Vertragsverhandlungen vor dem Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung zusteht. Der Anspruch ist jedenfalls entsprechend § 362 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) erloschen. Der Kläger hat vor dem Erlass des Eingliederungsverwaltungsakts schriftlich am 19.07.2011 Stellung zu der vorgeschlagenen Eingliederungsvereinbarung genommen. Es bestehen keine durchgreifenden Bedenken gegen den schriftlichen Ablauf der Vertragsverhandlungen.

3. Der Bescheid ist letztlich wegen Ermessensfehlern rechtswidrig. Entsprechend § 54 Abs. 2 S. 2 ist die Rechtswidrigkeit auch gegeben, soweit die Behörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln und die gesetzlichen Grenzen dieses Ermessens unterschritten sind oder von dem Ermessen einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist.

a. Es liegt zunächst Ermessensnichtgebrauch des Beklagten vor. Bereits der Eingliederungsverwaltungsakt vom 22.07.2011 lässt keine Ermessensausübung erkennen. Dort heißt es lediglich, dass eine Eingliederungsvereinbarung nicht zustande gekommen sei. Um die beruflichen Integrationschancen möglichst kurzfristig zu verbessern, würden die nachfolgenden Inhalte als Verwaltungsakt erlassen. Diese Formulierung lässt jedoch nicht erkennen, ob die Behörde überhaupt erkannt hat, dass ihr Ermessen zusteht.

Auch durch den Erlass des Widerspruchsbescheides vom 09.08.2011 ist dieser Mangel nicht ausgeräumt worden. Dort heißt es, dass der Kläger gemäß § 15 Abs. 1 S. 6 SGB II per Verwaltungsakt zur Teilnahme an der Maßnahme zu verpflichten war, da er sich weigerte, die Teilnahme zu vereinbaren. In der Prüfung am Empfängerhorizont des § 133 BGB deutet diese Formulierung darauf hin, dass der Beklagte sich an die gewählte Rechtsfolge gebunden fühlte.

In § 15 Abs. 1 S. 6 SGB II heißt es aber vielmehr: Kommt eine Eingliederungsvereinbarung nicht zustande, sollen die Regelungen nach § 15 Abs. 1 S. 2 durch Verwaltungsakt erfolgen. Dem Wort "sollen" ist zwar zu entnehmen, dass die Behörde im Regelfall die Eingliederungsvereinbarung durch Verwaltungsakt erlassen soll. Daneben kann es aber auch atypische Fälle geben. In atypischen Fällen muss eine Eingliederungsvereinbarung weder vereinbart werden, noch durch Verwaltungsakt erlassen werden. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn es der Eingliederungsvereinbarung gar nicht bedarf (Berlit in LPK-SGB II, § 15 RdNr. 42).

Entgegen der Ansicht des Beklagten ist auch nicht der der Entscheidung des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 28.02.2008, Aktenzeichen L 25 AS 522/06, abrufbar unter www..de, zu folgen. In dem dort entschiedenen Fall ist der Beklagte sich des bestehenden Ermessens ersichtlich bewusst gewesen. In dem dort angefochtenen Widerspruchsbescheid wurde nach Ansicht des Landessozialgerichts durch Unterstreichung des Wortes "soll" das Vorliegen des Regelfalls verdeutlicht. Die Sache liegt hier anders.

Der Beklagte hätte zunächst erkennen geben müssen, dass ihm Ermessen zusteht und sodann prüfen müssen, ob hier nicht ein atypischer Fall vorliegt. Der Kläger hatte einen Anspruch auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens des Beklagten aus § 39 Abs. 1 S. 2 SGB I.

b. Als selbständig tragende Erwägung tritt neben die vorbenannten Gründe, dass der Beklagte jedenfalls sein Ermessen nicht entsprechend dem Zweck der Ermächtigung ausgeübt hat, vgl. § 39 Abs. 1 SGB I.

aa. Der Kläger hatte zwar keinen Anspruch auf den Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung eines bestimmten Inhalts. Welche Maßnahmen zur beruflichen Eingliederung des Klägers sinnvoll sind, obliegt vielmehr der Arbeitsmarkteinschätzung und im Übrigen dem pflichtgemäßen Ermessen des Beklagten, vgl. die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 22.09.2009, Az.: B 4 AS 13/09 R, abrufbar unter www..de.

bb. Der Leistungserbringer soll jedoch mit jedem erwerbsfähigen Leistungsberechtigten die für ihre Eingliederung erforderlichen Leistungen vereinbaren. Bereits aus dem Wortlaut des § 15 Abs. 1 S. 1 SGB II ergibt sich, dass die Eingliederungsvereinbarung regelmäßig nicht bloß durch einseitige Rechtsetzung zu Stande kommen soll, sondern vielmehr in Zusammenarbeit mit den Leistungsberechtigten entwickelt werden soll. Entsprechend der vorbenannten Entscheidung des Bundessozialgerichts ist zwar grundsätzlich dem Leistungsberechtigtem nicht jede Eingliederungsleistung zu bewilligen. Das Bundessozialgericht sieht vielmehr den Leistungsberechtigten dadurch hinreichend geschützt, dass gemäß § 16 SGB II ein Anspruch auf die begehrte Leistung bestehen kann.

Zweck der Eingliederungsvereinbarung ist es insofern auch, eine passgenaue Eingliederungsvereinbarung mit dem Leistungsberechtigten abzuschließen. Daher ist es sinnvoll und für einen Vereinbarungsprozess erforderlich, sich mit den Anregungen und Einwendungen des Leistungsberechtigten auseinander zu setzen.

Daher hätten vorliegend die Einwendungen des Klägers auch bereits auf Ermessensebene gewürdigt werden müssen. Die Eingliederungsvereinbarung vom 22.07.2011 lässt insofern nicht rechtssicher erkennen, ob der Arbeitsvermittler sich bereits im Zeitpunkt des Erlasses der Eingliederungsvereinbarung mit den Anregungen des Klägers hinreichend auseinander gesetzt hat. Nach dem Eindruck des Kammervorsitzenden in dem Erörterungstermin in der Sache S 35 AS 320/11 ER hat der Arbeitsvermittler sich zwar durchaus Gedanken über die Sinnhaftigkeit der Maßnahme gemacht. Diese Erwägungen des Arbeitsvermittlers müssen dem Kläger aber auch ersichtlich werden. Dies dient einerseits seinem Verständnis der getroffenen Maßnahmen.

cc. Andererseits dient es aber auch dem Rechtsschutz des Leistungsberechtigten. Das Gericht soll im Nachhinein prüfen können, ob die Anordnung des Eingliederungsverwaltungsaktes pflichtgemäßen Ermessen entsprochen hat und insbesondere ob alle ermessenswesentlichen Gesichtspunkte eingestellt worden sind.

dd. Vorliegend war schließlich zu berücksichtigen, dass der Kläger mit dem Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 19.07.2011 die Zuweisung in eine Maßnahme des Gartenbaus beantragt hat. Wenn mit dem erlassenen Verwaltungsakt gleichzeitig eine von Kläger beantragte Maßnahme als nicht sinnvoll eingestuft wird, hätte dies auf Ermessensebene offenbart werden müssen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Schellong