Sozialgericht Aurich
Urt. v. 12.07.2012, Az.: S 32 R 426/10

Anspruch eines gesetzlich Rentenversicherten auf Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit

Bibliographie

Gericht
SG Aurich
Datum
12.07.2012
Aktenzeichen
S 32 R 426/10
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 41456
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGAURIC:2012:0712.S32R426.10.0A

Tenor:

Der Bescheid vom 30.06.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.11.2010 wird insoweit aufgehoben, als die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin ab Antragstellung im Mai 2010 eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit zu bewilligen. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Berechtigung der Klägerin, von der Beklagten eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit zu beziehen.

Die Klägerin ist am G. 1954 geboren und beantragte bei der Beklagten mit dem 11.05.2010 eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom 30.06.2010 abgelehnt. Bezüglich einer eventuellen Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nahm der Bescheid darauf Bezug, dass die Klägerin in ihrem bisherigen Beruf als Altenpflegerin nicht mehr mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein könne, als Pflegefachkraft in der Pflegebegutachtung in diesem Umfang jedoch arbeiten könne. Der Widerspruch vom 13.07.2010 der Klägerin wurde mit Widerspruchsbescheid vom 17.11.2010 zurückgewiesen. Inhaltlich betätigte die Widerspruchsentscheidung der Beklagten die Darlegungen im streitigen Ausgangsbescheid.

Die Klägerin leidet unter gesundheitlichen Einschränkungen auf orthopädischem Gebiet in Gestalt eines Wirbelsäulensyndroms ohne Nervenausfall, Verschleiß des rechten Kniegelenks, geringen Verschleiß des rechten Schultergelenks, des Weiteren an Übergewicht, Hypertonie und einer behandelbaren Schilddrüsenerkrankung.

Die Klägerin hat den Beruf der Einzelhandelskauffrau erlernt, einen Abschluss im Jahre 1971 erlangt. Sie war jedoch in diesem Beruf nicht tätig, sondern in der Folgezeit als Krankenpflegegehilfin bis zum Jahre 1994 bei verschiedenen Arbeitgebern. Vom 01.03.1995 bis 01.03.1998 führte sie eine Ausbildung zur Altenpflegerin durch, die sie mit erfolgreichen Examen abschloss. Danach war sie von 1998 bis Oktober 2008 mit Unterbrechungen als Altenpflegerin in verschiedenen Altenpflegeeinrichtungen tätig. Insgesamt war sie in dieser Zeit mehr als 36 Monate tätig, aber weniger als 60 Monate. Nach ihren eigenen Angaben etwa 40 Monate.

Im Verwaltungsverfahren ließ die Beklagte zunächst ein ärztliches Gutachten auf dem Gebiet der Orthopädie durch den Sachverständigen Herrn H. aus I. erstellen, welches mit Datum vom 31.05.2010 vorlag. Der Sachverständige bestätigte die Diagnosen einer Lumbalgie, Valgusgonarthrose recht, Bursitis subacromialis rechts. Er schätzte die berufliche Leistungsfähigkeit der Klägerin dahingehend ein, dass sie in ihrem Beruf als Altenpflegehelferin nur noch unter drei Stunden arbeitstäglich tätig sein könne. Sie könne auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leichte körperliche Tätigkeiten zeitweise im Stehen, zeitweise im Gehen und überwiegend im Sitzen vollführen. Zwangshaltungen für die Wirbelsäule sollten nicht mehr abverlangt werden und Tragen und Heben von Lasten über 10 kg sei ebenfalls sicherlich nicht mehr zumutbar. Die Beklagte ließ durch die Sachverständige Dr. med. J. aus I. ein weiteres Gutachten auf dem Gebiet der Inneren Medizin erstellen. Die Gutachterin diagnostizierte eine Adipositas permagna und stellte fest, dass leichte bis mittelschwere Tätigkeiten im Wechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig verrichtet werden könnten. Weitere Einschränkungen beständen (auf ihrem Fachgebiet) nicht.

Die Klägerin ist der Auffassung, dass sie aufgrund ihrer gesundheitlichen Einschränkungen ihren erlernten Beruf als Altenpflegerin nicht mehr ausüben könne. Auf den von der Beklagten aufgeführten Verweisungsberuf der Pflegefachkraft in der Pflegebegutachtung könne sie nicht verwiesen werden, sie könne diese Tätigkeit nicht in einer angemessenen Einarbeitungszeit erlernen und habe auch nicht die für eine Einstellung in entsprechender Stellung vorausgesetzte Berufserfahrung. Sie sei keine fünf Jahre tätig gewesen, sondern nur knapp über drei Jahre.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 30.06.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.11.2010 insoweit aufzuheben, als die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin auf ihren Antrag vom 11.05.2010 eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte ist der Auffassung, dass die medizinischen Voraussetzungen bezüglich der fehlenden Möglichkeit der Ausübung des Berufs der Altenpflegerin zwar vorliegen, aber eine Berufsunfähigkeit im Sinne des Gesetzes nicht vorliege. Die Klägerin könne rechtmäßigerweise auf die Verweisungstätigkeit der Pflegefachkraft in der Pflegebegutachtung verwiesen werden. Zum Beleg dieser Einschätzung reicht sie im gerichtlichen Verfahren berufskundliche Stellungnahmen berufskundlicher Sachverständiger aus anderen Gerichtsverfahren ein, ebenso mehrere berufskundliche Stellungnahmen ihres eigenen berufskundlichen Dienstes. Eine Berufserfahrung von fünf Jahren sei zur Tätigkeit als Pflegefachkraft in der Pflegebegutachtung nicht zwingend erforderlich. Es seien mindestens 300 Stellen bei den einzelnen Medizinischen Diensten der Krankenkassen vorhanden, deren Stellenprofil die Klägerin erfüllen könne.

Die Kammer hat im Rahmen der Ermittlungen Befundberichte des die Klägerin behandelnden Facharztes für Allgemeinmedizin und Orthopäden eingeholt. In diesen Befundberichten wurden die Diagnosen aus den durch die Beklagte eingeholten Gutachten im Grundsatz bestätigt.

Das Gericht führte am 12.07.2012 eine mündliche Verhandlung in der Angelegenheit durch. Gegenstand der Entscheidungsfindung waren die Gerichtsakten des Verfahrens, die von der Beklagten zur Verfügung gestellten Verwaltungsvorgänge und der Inhalt der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtenen Bescheide sind in Bezug auf die Ablehnung der Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit rechtswidrig ergangen. Die Klägerin wurde durch diese Ablehnung in ihren Rechten verletzt. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Bewilligung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit im Sinne des § 240 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI). Sowohl das erforderliche Lebensalter zur Anwendung dieser Regelungen mit einer Geburt vor dem 02.01.1961 liegt bei de Klägerin vor, als auch eine Berufsunfähigkeit im Sinne des Gesetzes.

Nach § 240 SGB VI besteht für Versicherte, die vor dem 2. Januar 1961 geboren sind, ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit, wenn deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfanges ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufes und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Zumutbar ist stets eine Tätigkeit, für die die Versicherten durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben mit Erfolg ausgebildet oder umgeschult worden sind. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Ausgangspunkt für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit ist der bisherige Beruf. Das ist im Falle der Klägerin die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Altenpflegerin. Diese Tätigkeit kann die Klägerin mit dem festgestellten Leistungsvermögen nicht mehr ausüben. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig und diese Einschätzung wird durch die Kammer nach eigener Bewertung der Sachlage geteilt. Damit liegt aber noch nicht ohne weiteres eine Berufsunfähigkeit im rentenrechtlichen Sinne vor. Maßgeblich ist vielmehr, ob die Klägerin noch für andere, ihr zumutbare Verweisungstätigkeiten einsetzbar ist.

Der Gesetzgeber räumt einem Versicherten einen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nicht schon dann ein, wenn er seinen "bisherigen Beruf" aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben kann. Vielmehr verlangt das Gesetz von dem Versicherten, dass er, immer bezogen auf seinen "bisherigen Beruf", einen "zumutbaren" beruflichen Abstieg in Kauf nimmt und sich vor Inanspruchnahme einer Rente mit einer geringerwertigen Erwerbstätigkeit zufrieden gibt. Erst wenn der Versicherte in diesem Sinne nicht auf einen zumutbaren anderen Beruf "verwiesen" werden kann, ist er berufsunfähig i.S. des Gesetzes (BSG, Urt. v. 28.11.1985 - 4a RJ 51/84 -, SozR 2200 § 1246 RVO Nr. 132; LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 24.10.2006 - L 2 KN 32/06 -).

Ausgangspunkt der Beurteilung der teilweisen Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ist danach der bisherige Beruf. Darunter ist im Allgemeinen diejenige versicherungspflichtige Beschäftigung zu verstehen, die zuletzt auf Dauer, dh mit dem Ziel verrichtet worden ist, sie bis zum Eintritt der gesundheitlichen Unfähigkeit oder bis zum Erreichen der Altersgrenze auszuüben; in der Regel ist das die letzte versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit; dies gilt jedenfalls dann, wenn sie die qualitativ höchste ist (BSG, U. v. 20.07.2005 - B 13 RJ 19/04 R - mit zahlreichen weiteren Nachweisen; LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 24.10.2006 - L 2 KN 32/06 -).

Entscheidend für die Frage des Berufsschutzes kommt es auf die soziale Zumutbarkeit einer auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt angebotenen Verweisungstätigkeit an, die sich nach der Wertigkeit des bisherigen Berufs auf der Grundlage des vom Bundessozialgericht entwickelten Mehrstufenschemas bemisst (vgl. näher BSG Großer Senat, B.v. 19.12.1996 - GS 2/95 -, zit. nach ; BSG, U. v. 03.07.2002 - B 5 RJ 18/01 R -, zit. nach ; BSG, U. v. 22.08.2002 - B 13 RJ 19/02 R -, zit. nach ). Die in diesem Mehrstufenschema genannten Berufsgruppen sind ausgehend von der Bedeutung, die Dauer und Umfang der Ausbildung für die Qualität eines Berufs haben, gebildet worden. Dementsprechend werden die Gruppen durch die Leitberufe des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion und des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters (anerkannter Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren), des angelernten Arbeiters (sonstiger Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildungszeit von drei Monaten bis zu zwei Jahren) und des ungelernten Arbeiters charakterisiert (z.B. BSG, U.v. 28.11.1985 - 4a RJ 51/84 -, = BSGE 59, 201, [BSG 28.11.1985 - 4a RJ 51/84] zit. nach ). Bei einer Zuordnung zu einer der höheren Stufen dieses Schemas hat die Rentenversicherung eine Verweisungstätigkeit zu benennnen.

Ausschlaggebend für die Zuordnung einer bestimmten Tätigkeit zu einer der Gruppen des Mehrstufenschemas ist allein die Qualität der verrichteten Arbeit, das heißt, der aus einer Mehrzahl von Faktoren zu ermittelnde Wert der Arbeit für den Betrieb. Es kommt auf das Gesamtbild an, wie es durch die in § 240 Abs. 2 Satz 2 SGB VI am Ende genannten Merkmale (Dauer und Umfang der Ausbildung, bisheriger Beruf, besondere Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit) umschrieben wird (SG Karlsruhe, U. v. 20.12.2007 - S 4 R 3491/06 -, zit. nach m.w.N.). Indizien für die gebotene Gesamtschau sind auch, wenn eine Ausbildung nicht absolviert wurde, die Dauer der Berufsausübung und die Höhe der Entlohnung, wenn von dieser auf die Qualität der verrichteten Arbeit geschlossen werden kann (Niesel, in Kasseler Kommentar § 240 SGB VI Rn. 43, 60, 61 m. w. N.).

Die (objektive und subjektive) Zumutbarkeit einer Verweisung auf andere Berufe (nach dem vom BSG in ständiger Rechtsprechung entwickelten sog. Mehrstufenmodell; siehe u.a. BSGE 62, 64 [BSG 25.06.1987 - 5b RJ 62/86] u. 68, 277) richtet sich nach Art, Dauer und Umfang der beruflichen Ausbildung, aber auch nach gleichwertigen Fähigkeiten und Kenntnissen, die der Versicherte außerhalb einer regulären beruflichen Ausbildung durch berufliche Praxis erworben hat; dabei sind die Anforderungen des Verweisungsberufs (Anforderungsprofil) mit denen des bisherigen Berufs zu vergleichen (Reinhardt in: LPK-SGB VI, § 240 Rz. 8). Auf Tätigkeiten, für die der Versicherte durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§§ 33 ff. SGB IX) mit Erfolg ausgebildet oder umgeschult worden ist, kann er unabhängig davon, ob die Umschulungstätigkeit den subjektiven Zumutbarkeitskriterien entspricht, in jedem Fall verwiesen werden; auf die jeweilige Arbeitsmarktlage kommt es nicht an (vgl. BSG, Urt. v. 26.11.1981 - 4 RJ 79/80 und BSG, Urt. v. 14.05.1996 - 4 RA 60/94). Zum Erfolg der Umschulung gehört nur, dass der Umschüler die Abschlussprüfung bestanden hat, nicht hingegen, dass er nach Beendigung der Umschulung auch eine entsprechende Tätigkeit aufnimmt. Das Risiko der Arbeitslosigkeit hat nicht die Rentenversicherung zu tragen (BSG, U.v. 29.01.2008 - B 5a/5 R 20/06 R -). Im Ergebnis ist eine Verweisung auf Tätigkeiten möglich, für die eine Anlernzeit von drei Monaten im Falle der versicherten Person ausreichend ist. (ständige Rechtsprechung der Obergerichte; Nachweise bei Niesel in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht 73. Ergänzungslieferung 2012 § 240 Rn 92 m.w.N.).

Die Einordnung der relevanten Bezugstätigkeit der Klägerin als Tätigkeit der 2. Stufe des sogenannten 4. Stufen Schemas des Bundessozialgerichts ist zwischen den Beteiligten unstreitig und kann durch das Gericht nach eigener Prüfung bestätigt werden. Die Tätigkeit als Altenpflegerin bedurfte einer 3-jährigen Ausbildung, die die Klägerin erfolgreich abgeschlossen hat. Die Klägerin war auch in diesem Beruf in relevanten Umfang versicherungspflichtig tätig. Nach Auffassung der Kammer kommt jedoch die von der Beklagten vorgenommene Verweisungstätigkeit als Pflegefachkraft in der Pflegebegutachtung im Fall der Klägerin nicht rechtmäßigerweise in Betracht.

Dies resultiert zum einen daraus, dass nach Auffassung der Kammer die Klägerin in Ermangelung der erforderlichen Berufserfahrung nicht einen entsprechenden Arbeitsplatz erhalten könnte. Schon nach den Stellungnahmen in den von der Beklagten eingereichten berufskundlichen Unterlagen wird darauf Bezug genommen, dass üblicherweise mindestens fünf Jahre der entsprechenden Berufsausübung erforderlich sind. Die Klägerin war nicht fünf Jahre in dem Beruf als Altenpflegerin tätig. Insofern, als die Beklagte mit letzter Stellungnahme vom 01.08.2011 darauf Bezug nimmt, dass "üblicherweise" ein Zeitraum von fünf Jahren vorausgesetzt werde, der Zeitraum jedoch nicht bindend sei und nach Bundesland variiere, hat das Gericht durch Einsicht in Internet angebotene Stellen als Pflegefachkraft in der Pflegebegutachtung feststellen können, dass für die allein angebotenen Stellen als Pflegefachkräfte in freiberuflicher Tätigkeit auf Honorarbasis in Niedersachsen mindestens 5 Jahre Berufserfahrung ausdrücklich gefordert werden, gleichermaßen durch den MDK K ... Der MDK L. und MDK M. fordern in den Stellenausschreibungen mehrjährige pflegerische Erfahrungen. Nach Auffassung der Kammer sind Berufserfahrungen in verschiedenen Stellen mit Unterbrechung von weniger als vier Jahren, gar nur knapp mehr als drei Jahren nicht ausreichend, um entsprechende Stellen antreten können. Hierbei handelt es sich jedoch ausdrücklich nicht um eine genau verifizierte Ermittlung der entsprechenden Anforderungen.

Eine weitere Ermittlung war jedoch im Fall der Klägerin nicht erforderlich, da aus anderen Gründen die Verweisung auf den Beruf der Pflegefachkraft in der Pflegebegutachtung zwingend ausscheidet. In Anbetracht der Qualifikationen der Klägerin gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass sie sich in einer kurzen Zeit von 3 Monaten in die Tätigkeit als Fachkraft in der Pflegebegutachtung einarbeiten könnte. Zwar hat die Klägerin einen Berufsabschluss als Altenpflegerin erworben, aber alleine die Qualifikation im Rahmen dieses Berufsbildes ermöglicht nicht die Tätigkeit als Fachkraft in der Pflegebegutachtung.

Dies ergibt sich zunächst daraus, dass in den von der Beklagten vorgelegten berufskundlichen Stellungnahmen davon ausgegangen wird, dass eine Einarbeitung in der Regel 6 Monate dauert. Bei der Klägerin sind keine zusätzlichen Fachkenntnisse erkennbar, die eine kürzere Einarbeitungszeit bedingen. Solche entsprechenden zusätzlichen Fachkenntnisse lagen jedoch bei den von der Beklagten im Verfahren ausführlich zitierten Entscheidungen zweier Landessozialgerichte zur Möglichkeit der Verweisung auf den Beruf der Fachkraft in der Pflegebegutachtung vor. In der Entscheidung des LSG Niedersachsen vom 17.06.2009 (Aktenzeichen L 2 R 65/09) war die dortige Klägerin bereits als Pflegefachkraft in der Pflegebegutachtung tätig gewesen, so dass sie individuell umfassende Kenntnisse von dieser Tätigkeit hatte. Dementsprechend nimmt der vom Landessozialgericht in der mündlichen Verhandlung der Angelegenheit einvernommene berufskundliche Sachverständige im übrigen nach dem Inhalt des durch die Beklagte vorgelegten Sitzungsprotokolls auch keine Stellung zur Frage der notwendigen Einarbeitungszeit der Klägerin. Die Klägerin hatte neben der einschlägigen Berufserfahrung im Übrigen auch im administrativen Bereich als Heimleitung zumindest teilweise nachgewiesene Tätigkeiten ausgeübt.

In der ebenfalls von der Beklagten umfassend in dieses Verfahren eingeführten Entscheidung des Landssozialgericht Mecklenburg-Vorpommern vom 05.11.2008 (Aktenzeichen L 7 R 140/06) und den von der Beklagten überreichten berufskundlichen Unterlagen aus diesem Verfahren hatte die dortige Klägerin ebenfalls umfassende Vorkenntnisse in Bezug auf die Tätigkeit als Fachkraft in der Pflegebegutachtung vorzuweisen. Die dortige Klägerin war zwar nicht bereits im entsprechenden Beruf tätig gewesen. Aber in der berufskundlichen Stellungnahme der Sachverständigen N. der Arbeitsagentur O. vom 02.11.2008 ist ausdrücklich aufgeführt, dass die dortige Klägerin eine Facharbeiterprüfung als Handelskauffrau absolviert hatte und deswegen besondere Kenntnisse im Bereich der Sachbearbeitung hatte. Des Weiteren war der dortigen Klägerin ausdrücklich der Erwerb von PC - Kenntnissen innerhalb von 3 Monaten möglich. Der hiesigen Klägerin fehlen nicht nur die Kenntnisse in der elektronischen Datenverarbeitung, sondern auch dazu nach Aktenlage und Vortrag der Beteiligten jegliche weiteren besonderen Kenntnisse der Sachbearbeitung und Arbeitsorganisation.

Bezüglich der entsprechenden Fachkenntnisse kann auch nicht auf die Inhalte der von der Klägerin absolvierte Ausbildung zur Altenpflegerin Bezug genommen werden. Diesbezüglich sind weitergehende Kenntnisse und Fähigkeiten für die Fachkraft in der Pflegebegutachtung erforderlich. So begutachtet eine Fachkraft in der Pflegebegutachtung im Rahmen der Tätigkeit für die medizinischen Dienste der Krankenkassen/Pflegekassen nicht nur alte Menschen in Bezug auf ihre Pflegebedürftigkeit, sondern auch behinderte Menschen und Kinder. Auch diese Personengruppen fallen in den Regelungsbereich des 11. Buches des Sozialgesetzbuches - soziale Pflegeversicherung. Bezüglich dieser Gruppen der pflegebedürftigen Menschen bedarf es besonderen spezifischen Fachwissens, da bei der Bewertung des Pflegebedarfs auf andere Aspekte und Bewertungsmaßstäbe abzustellen ist. (vgl. Richtlinien des GKV Spitzenverbandes zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem Elften Buch des Sozialgesetzbuches in der Fassung vom 08.06.2009). Das Berufsbild der Altenpflegerin umfasst ein abweichendes Berufsbild im Vergleich zur Pflegefachkraft beim MDK. Dies ergibt sich auch durch Einsichtnahme in das "Konzept zur Einarbeitung neuer Pflegefachkräfte im MDK" im Vergleich zur Altenpflegeausbildungs- und Prüfungsverordnung. (Hierzu auch LSG Nordrhein-Westfalen vom 30.03.2011, Aktenzeichen L 8 R 602/10 in umfassender Darstellung). Mit dieser Darstellung stimmt das erkennende Gericht nach eigener Überprüfung und Bewertung der Sachlage überein.

Die nach eigenen Angaben der Klägerin 17-jährige Tätigkeit als Krankenpflegehelferin bedingt keine besonderen individuellen Kenntnisse dergestalt, das die Klägerin Computerfachwissen hätte oder weitergehende administrative Kenntnisse. Als Krankenpflegehelferin (ohne formelle Ausbildung) hat die Klägerin keine solchen Aufgaben übernommen, sondern die körperlichen Arbeiten im Rahmen der Krankenpflege.

Aufgrund dieser tragenden Erwägungen bezüglich der fehlenden Verweisbarkeit der Klägerin auf die Tätigkeit als Pflegefachkraft in der Pflegebegutachtung stellt sich ein weiterer Aspekt nicht als tragend entscheidungserheblich dar. So hat der Vorsitzende der Kammer im Rahmen der Vorbereitung der Angelegenheit eine Überprüfung der durch die Medizinischen Dienste der Krankenkassen in gesamt Deutschland angebotenen Stellen für Fachkräfte in der Pflegebegutachtung vorgenommen. Dies Internetrecherche (auf den jeweiligen Internetseiten der Medizinischen Dienste der Krankenkassen) ergab, dass zumindest zum Zeitpunkt der Entscheidung Fachkräfte in der Pflegebegutachtung von den Medizinischen Diensten der Krankenkassen gesucht werden, aber ausschließlich als Freiberufler und Honorarkräfte und nicht als festangestellte Kräfte. Inwieweit es sich hierbei um eine reine Momentaufnahme handelt und weitere Festanstellungen im entsprechenden Berufsbild möglich und beabsichtigt sind, musste das Gericht in Anbetracht der obigen Erwägungen nicht mehr überprüfen. Entsprechende weitere Ermittlungen dürften jedoch in anders gelagerten Fällen eventuell erforderlich sein. Es besteht zumindest ein Anschein, dass die Medizinischen Dienste der Krankenkassen als alleinige Arbeitgeber für festangestellte Fachkräfte in der Pflegebegutachtung aktuell keine Festanstellungen mehr vornehmen und auch keine wohl unstreitig vorhandenen festangestellten Kräfte ersetzen. Es besteht damit zumindest die Möglichkeit, dass das Berufsbild der festangestellten Fachkraft für Pflegebegutachtung durch die allein vorhandenen Arbeitgeber in Form der medizinischen Dienste der Krankenkassen vollständig durch externe Pflegefachkräfte als Gutachter auf Honorarbasis ersetzt worden ist und damit nicht mehr existiert.

Die Beklagte hat keine weiteren möglichen Verweisungsberufe benannt, was im Falle einer Annahme einer Berufsunfähigkeit erforderlich wäre. Das Gericht hat auch keine Kenntnis von Berufsbildern, die sich als Verweisungsberufe aufdrängen würden.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes. Die Klägerin ist mit ihrem Begehren, welches sie im Gerichtsverfahren geltend gemacht hat, im vollen Umfange durchgedrungen.

Nippen