Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 16.05.2001, Az.: 4 PA 1168/01
Befreiung; Eigenanteil; Härtefall; Krankenhilfe; Nachrang der Sozialhilfe; Sozialhilfe; sozialhilferechtliche Kenntnisgrundsatz
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 16.05.2001
- Aktenzeichen
- 4 PA 1168/01
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2001, 39441
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 12.03.2001 - AZ: 7 A 3350/00
Rechtsgrundlagen
- § 2 Abs 1 BSHG
- § 5 BSHG
- § 37 BSHG
- § 16 Abs 2 SGB 1
- § 61 SGB 5
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Es ist einem Hilfesuchenden in der Regel nicht zuzumuten, seinen (vermeintlichen) Rechtsanspruch unter Inanspruchnahme sozialgerichtlicher Hilfe zu verfolgen. Lehnt ein Sozialleistungsträger das Begehren eines Hilfesuchenden ab, so muss dieser dagegen nicht gerichtlich vorgehen, um dem Einwand des Trägers der Sozialhilfe zu begegnen, der Hilfe stehe § 2 Abs. 1 BSHG entgegen.
2. § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I gilt - unbeschadet der Einfügung des § 5 Abs. 2 in das BSHG - auch im Recht der Sozialhilfe.
3. Die Anwendung der Härtefallregelung des § 61 SGB V durch die Krankenkasse bei Festsetzung des Kassenzuschusses deutet darauf hin, dass der Krankenkasse der sozialhilferechtliche Bedarf des Versicherten bekannt war.
4. Aus § 37 Abs. 2 Satz 2 BSHG ergibt sich nicht, dass Sozialhilfe nur in der Höhe gewährt werden kann, in der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung in Betracht kommen.
Gründe
Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 12. März 2001 hat Erfolg. Die Klägerin hat jedenfalls in Umrissen - und damit in diesem Verfahren der Prozesskostenhilfe hinreichend - dargelegt, dass sie ernstliche Zweifel im Sinne des § 146 Abs. 4 i. V. m. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO an der Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses hat. Diese Zweifel bestehen auch. Denn die Verpflichtungsklage der Klägerin auf Erstattung des in der Rechnung der Zahnärzte Dr. W. und W. vom 24. Januar 2000 ausgewiesenen Eigenanteils in Höhe von 968,31 DM als Maßnahme der Krankenhilfe (§ 37 BSHG) hat eine im Sinne des § 166 VwGO i. V. m. § 114 ZPO hinreichende Erfolgsaussicht. Deshalb ist auf die Beschwerde der angefochtene, Prozesskostenhilfe versagende Beschluss des Verwaltungsgerichts zu ändern und die Prozesskostenhilfe antragsgemäß zu bewilligen.
Der Annahme, die Verpflichtungsklage habe hinreichende Erfolgsaussicht, steht nicht § 2 Abs. 1 BSHG, der Nachrang der Sozialhilfe, entgegen, weil es die Klägerin bislang nicht versucht hat, ihre Ansprüche auf Übernahme der gesamten Kosten der Zahnbehandlung einschließlich des Eigenanteils gegen ihre Krankenkasse (DAK) gerichtlich durchzusetzen. Es ist nämlich einem Hilfesuchenden in der Regel nicht zuzumuten, seinen (vermeintlichen) Rechtsanspruch unter Inanspruchnahme sozialgerichtlicher Hilfe zu verfolgen. Ebenso wie die Gerichte ist die vollziehende Gewalt an Recht und Gesetz gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG). Lehnt ein Sozialleistungsträger das Begehren eines Hilfesuchenden ab, so muss dieser dagegen nicht gerichtlich vorgehen, um dem Einwand des Trägers der Sozialhilfe zu begegnen, der Hilfe stehe § 2 Abs. 1 BSHG entgegen. Er kann sich vielmehr darauf verlassen, dass der Sozialleistungsträger es zu Recht abgelehnt hat, die beantragte Leistung zu erbringen (Senat, Beschl. v. 17. 10. 1989 - 4 M 92/89 -, FEVS 39, 289, 292 f.; Beschl. v. 31. 5. 1990 - 4 M 51/90 -, info also 1991, 79, 80).
Der beabsichtigten Rechtsverfolgung fehlt es auch nicht deshalb an den für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe erforderlichen hinreichenden Erfolgsaussichten, weil sich aus dem Inhalt der Akten und dem Vorbringen der Beteiligten bereits jetzt ergäbe, dass dem Klageanspruch der sozialhilferechtliche Kenntnisgrundsatz (§ 5 Abs. 1 BSHG) entgegenstünde. Gemäß § 5 Abs. 1 BSHG setzt die Sozialhilfe (erst) ein, sobald dem Träger der Sozialhilfe oder den von ihm beauftragten Stellen bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Gewährung vorliegen. Die Klägerin hat hier zwar, worauf das Verwaltungsgericht zutreffend hinweist, den Antrag auf Übernahme der Zahnbehandlungskosten aus Sozialhilfemitteln erst am 28. Januar 2000, also nach Abschluss der Zahnbehandlung, bei der für den Beklagten handelnden Stadt Hildesheim gestellt. Es spricht jedoch vieles dafür, dass die Voraussetzungen für das Einsetzen der Sozialhilfe nach § 5 BSHG erfüllt sind, weil hier zugunsten der Klägerin § 16 Abs. 2 SGB I eingreift.
In § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB I ist bestimmt, dass Anträge, die bei einem unzuständigen Leistungsträger, bei einer für die Sozialleistung nicht zuständigen Gemeinde oder bei einer amtlichen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland im Ausland gestellt werden, unverzüglich an den zuständigen Leistungsträger weiterzuleiten sind. Ist die Sozialleistung von einem Antrag abhängig, gilt gemäß § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I der Antrag als zu dem Zeitpunkt gestellt, in dem er bei einer der in Satz 1 genannten Stellen eingegangen ist. Dass § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I auch im Recht der Sozialhilfe gilt - unbeschadet der Einfügung des § 5 Abs. 2 in das BSHG -, ist in der Rechtsprechung des Senats hinreichend geklärt (Urt. d. Sen. v. 19. 1. 1999 - 4 L 2970/98 -; ebenso OVG Lüneburg, Beschl. v. 21. 10. 1999 - 12 L 3780/99 -).
Die Voraussetzungen des § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I könnten hier aus folgenden Gründen vorliegen: Aus dem Inhalt der Akten ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass der Krankenkasse der Klägerin mit der Vorlage des vor Beginn der Zahnbehandlung erstellten Heil- und Kostenplans des Zahnarztes der Klägerin (der als Antrag der Klägerin auf Übernahme der Kosten für ihre Zahnersatzbehandlung auszulegen ist) der sozialhilferechtliche Bedarf der Klägerin bekannt geworden ist. Aus einem in der Gerichtsakte befindlichen Schreiben der DAK an die Prozessbevollmächtigte der Klägerin vom 28. Februar 2000 ergibt sich, dass bei der Festsetzung des Kassenzuschusses durch die DAK am 22. November 1999 von der Härtefallregelung des § 61 SGB V (vollständige Befreiung) Gebrauch gemacht worden ist. In diesem Schreiben wird nämlich ausgeführt, dass mit dem Kassenzuschuss von 20,-- DM für Nichtedelmetallkosten pro Abrechnungseinheit bei einer vollständigen Befreiung von Zuzahlungen gemäß § 61 SGB V die entstehenden Kosten voll abgedeckt sind. Die Anwendung der Härtefallregelung des § 61 SGB V setzt nach § 61 Abs. 2 SGB V jedoch das Vorliegen einer unzumutbaren Belastung voraus, die unter anderem bei niedrigem Einkommen des Versicherten (§ 61 Abs. 2 Nr. 1 SGB V) und in Fällen, in denen der Versicherte Hilfe zum Lebensunterhalt, Arbeitslosenhilfe und andere Sozialleistungen erhält (§ 61 Abs. 2 Nr. 2 SGB V), angenommen wird. Bei Festsetzung des Kassenzuschusses war der Krankenkasse also wahrscheinlich bekannt, dass die Klägerin über ein niedriges Einkommen verfügt oder ihren Lebensunterhalt aus Mitteln der Sozialhilfe bestreitet. Dies könnte darauf schließen lassen, dass mit dem Antrag der Klägerin auf Übernahme der Zahnbehandlungskosten aufgrund des bestehenden Versicherungsverhältnisses nicht nur dieses Begehren kundgetan worden ist, sondern die Klägerin auch deutlich gemacht hat, dass sie zur Tragung der Zahnbehandlungskosten, soweit diese nicht durch die Krankenkasse gedeckt sind, nicht in der Lage ist. Der Antrag könnte damit als ein Begehren auf "Übernahme der Zahnbehandlungskosten - aus welchem Rechtsgrund auch immer, also gegebenenfalls auch aus Sozialhilfemitteln" - zu verstehen sein. Er wäre in diesem Falle gemäß § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I geeignet, auch einem Sozialhilfeträger die Kenntnis von einem Bedarf an Sozialhilfe zu vermitteln. Diese Frage lässt sich in dem Verfahren auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe jedoch nicht abschließend klären; ihr müsste im Hauptsachverfahren weiter nachgegangen werden. Falls das Verwaltungsgericht eine weitere Sachverhaltsermittlung für erforderlich hält, bietet es sich an, die Verwaltungsvorgänge der Krankenkasse beizuziehen, um zu ermitteln, ob und gegebenenfalls in welcher Weise sich die Klägerin (neben der ihr zuzurechnenden Vorlage des Heil- und Kostenplans, s. o.) bereits vor der Zahnbehandlung an ihre Krankenkasse gewandt und auf einen Hilfebedarf hingewiesen hat.
An hinreichenden Erfolgsaussichten der Klage fehlt es auch nicht deshalb, weil sich bereits jetzt feststellen ließe, dass die Voraussetzungen für die Gewährung von Krankenhilfe nach § 37 Abs. 1 und 2 BSHG nicht vorliegen. Zum einen steht § 37 Abs. 2 Satz 2 BSHG der Übernahme (restlicher) Kosten des Zahnersatzes durch den Träger der Sozialhilfe nicht entgegen. Wenn es in dieser Vorschrift heißt, dass Leistungen der Krankenhilfe in der Regel den Leistungen entsprechen sollen, die nach den Vorschriften über die gesetzliche Krankenversicherung gewährt werden, bedeutet dies nicht, dass Sozialhilfe nur in der Höhe gewährt werden kann, in der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung in Betracht kommen. Während nämlich in der gesetzlichen Krankenversicherung Teilleistungen und damit ein dem Versicherten verbleibender Eigenanteil vorgesehen sind, ist im Sozialhilferecht die Hilfeleistung so zu bemessen, dass der Hilfebedürftige seinen notwendigen Bedarf tatsächlich in vollem Umfang befriedigen kann. Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung, durch die dieser Bedarf nicht in voller Höhe gedeckt wird, können deshalb zwar - im Hinblick auf den Vorrang dieser Leistungen (§ 2 Abs. 2 BSHG) - zur Kürzung, nicht aber zum gänzlichen Wegfall der Sozialhilfe führen (Senat, Beschl. v. 30. 11. 1998 - 4 M 4495/98 -, FEVS 49, 405 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BVerwG).
Zum anderen bestehen keine Bedenken gegen die Notwendigkeit der Zahnersatzbehandlung als solcher. Eine abschließende Entscheidung darüber, ob die Behandlungskosten der Höhe nach notwendig waren oder ob die Zahnersatzbehandlung der Klägerin preisgünstiger hätte durchgeführt werden können, ist dagegen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich. Der von der Krankenkasse nicht getragene Eigenanteil der Klägerin beruht nämlich darauf, dass die in der Zahnarztrechnung vom 24. Januar 2000 aufgeführten Metallkosten in Höhe von 1208,31 DM von der Krankenkasse nur anteilig - nämlich in Höhe von 20,- DM für jede der zwölf behandelten Kronen und Brückenglieder, insgesamt also 240,- DM - übernommen worden sind. Ob es möglich und aus medizinischen Gründen ausreichend gewesen wäre, der Klägerin Kronen mit Metallkosten zu jeweils 20,- DM einzufügen, oder ob es in ihrem Fall geboten war, höherwertiges Material zu verwenden, lässt sich ohne weitere Sachaufklärung nicht feststellen. Insbesondere kommt in Betracht, eine Stellungnahme des behandelnden Zahnarztes zu dieser Frage einzuholen. Die erforderliche Sachaufklärung muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben, für das der Klägerin deshalb Prozesskostenhilfe zu bewilligen ist.