Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 04.05.2001, Az.: 4 MA 1500/01

Briefkasten; Mitwirkungshandlung; Mitwirkungspflicht; Poststempel; Sozialleistung: Kürzung; Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
04.05.2001
Aktenzeichen
4 MA 1500/01
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2001, 39527
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 29.01.2001 - AZ: 7 B 251/01

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Ein auf dem Briefumschlag aufgebrachter Poststempel rechtfertigt nicht unwiderleglich die Annahme, dass dieser erst an dem betreffenden Tag in den Briefkasten des Postamtes eingeworfen wurde und steht der schlüssigen und substantiierten Darlegung, dass der Brief bereits am Vortage abgesandt worden ist, nicht entgegen.

2. Zur Frage schuldhafter Fristversäumnis gem. § 60 Abs. 1 VwGO, wenn einem Empfänger Mitteilungen von Behörden und Gerichten nicht erreichen, weil ihm der Vermieter den Briefkastenschlüssel vorenthält.

3. Eine Kürzung oder Versagung der Sozialleistung nach § 61 SGB I i.V.m. § 66 Abs. 1 SGB I setzt voraus, dass die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert wird, wenn die geforderte Mitwirkungshandlung unterbleibt.

Gründe

1

Der Antrag der Antragsgegner auf Zulassung der Beschwerde ist zulässig. Die Antragsgegner haben den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für den beabsichtigten Antrag auf Zulassung der Beschwerde zwar erst am 16. Februar 2001 und damit einen Tag nach Ablauf der Antragsfrist gemäß § 146 Abs. 5 Satz 1 VwGO gestellt. Den Antragsgegnern ist aber gemäß § 60 Abs. 1 VwGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil sie glaubhaft gemacht haben, dass sie ohne Verschulden verhindert waren, die Antragsfrist einzuhalten.

2

Verschuldet ist ein Fristversäumnis dann, wenn der Betroffene nicht die Sorgfalt walten lässt, die für einen gewissenhaften, seine Rechte sachgerecht wahrnehmenden Beteiligten geboten und ihm nach den gesamten Umständen zumutbar ist (vgl. BVerwG, Urteile vom 27. Februar 1976 - BVerwG 4 C 74.74 - BVerwGE 50, 248 und vom 8. März 1983 - BVerwG 1 C 34.80 - Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 129). Nach diesen Grundsätzen haben die Antragsgegner das Fristversäumnis nicht verschuldet. Die Antragsgegner haben nach ihren Angaben ihr als Antrag auf Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts auszulegendes Schreiben vom 14.02.2001 noch am selben Tage, also innerhalb der bis zum 15.02.2001 laufenden Zweiwochenfrist, an das beschließende Gericht übersandt. Sie haben dargelegt, dass sie ihren Antrag in einem Briefumschlag noch vor der Postleerung um 19.00 Uhr in einen Postkasten der Hauptpost H. in der K.-S.-Strasse in H. eingeworfen haben. Für die Glaubhaftigkeit dieses Vorbringens spricht, dass die Antragsgegner die Umstände der Übersendung ihres Antrags in allen Einzelheiten beschrieben, damit einen in sich stimmigen Geschehensablaufs geschildert und sich nicht etwa auf die schlichte Behauptung rechtzeitiger Absendung des Antrages beschränkt haben.

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Das Vorbringen der Antragsgegner ist auch nicht bereits deshalb unglaubhaft, weil der Briefumschlag mit dem Poststempel "Briefzentrum 30; 15.-2.01-21" versehen, also offensichtlich erst am 15.02.2001 um 21 Uhr von dem Briefzentrum abgestempelt worden ist. Wie die Deutsche Post AG über die "Niederlassung Vertrieb BRIEF - Kundenservice Center" auf Anfrage des Gerichts am 29.03.2001 mitgeteilt hat, werden zwar grundsätzlich Sendungen, die arbeitstäglich bis 19.00 Uhr in einen der Briefkästen der Post in der K.-S.-Strasse eingelegt werden, noch am selben Tag gestempelt und weiterbearbeitet. Es sei aber nicht völlig auszuschließen, dass Sendungen erst am nächsten Tag abgestempelt würden. Dies könne zum Beispiel durch betriebliche Störungen oder dadurch passieren, dass sich die Sendung in einem Transportbehältnis verfangen habe. Damit lässt sich nicht mit hinreichender Sicherheit ausschließen, dass die Verzögerung der Briefsendung auf einem im Verantwortungsbereich der Post liegenden Umstand beruht. Der auf dem Briefumschlag aufgebrachte Poststempel rechtfertigt damit nicht unwiderleglich die Annahme, dass dieser erst am 15.02.2001 in den Briefkasten des Postamtes eingeworfen wurde und steht der schlüssigen und substantiierten Darlegung, dass der Brief bereits am Vortage abgesandt worden ist, nicht entgegen. Angesichts der Bedeutung der Wiedereinsetzung für den verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechtsschutz des Betroffenen (vgl. BVerfG E 25, 158, 166; Beschl. v. 11. April 1991, NJW 1991, S. 2277; Beschl. vom 23. September 1992, NJW 1993, S. 720 [BVerfG 23.09.1992 - 2 BvR 871/92], und Beschl. vom 6. Oktober 1992, NJW 1993, S. 847) dürfen restliche Zweifel, zu welchem Zeitpunkt der Brief zur Post gegeben wurde, nicht zu Lasten der Antragsgegner gehen.

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Wenn es aber im Rahmen der Prüfung der Wiedereinsetzung in die versäumte Frist als glaubhaft gemacht anzusehen ist, dass die Antragsgegner die Antragsschrift am 14.02.2001 vor der Postleerung um 19.00 Uhr in den Briefkasten vor dem Postgebäude der K.-S.-Straße in H. eingeworfen haben, ist eine schuldhafte Fristversäumnis nicht festzustellen. Die Antragsgegner durften nämlich - auch auf der Grundlage der ihnen nach ihren Angaben durch einen Schalterbeamten der Post erteilten Auskunft - erwarten, dass die Briefsendung bei einer üblichen Postlaufzeit von einem Tag von H. nach L. das beschließende Oberverwaltungsgericht am 15.02.2001, also innerhalb der Rechtsmittelfrist, erreichen würde. Insbesondere kann ein Verschulden der Antragsgegner nicht deshalb angenommen werden, weil sie die Verzögerung hätten voraussehen können. So gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass es für die Antragsgegner ersichtlich gewesen wäre, dass die normalen Postlaufzeiten hier nicht hätten eingehalten werden können, weil ein störungsfreier Postverkehr nicht gewährleistet gewesen wäre.

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Schließlich ist eine schuldhafte Fristversäumnis nicht deshalb anzunehmen, weil es die Antragsgegner unterlassen haben, sich um eine andere Zustellmöglichkeit zu bemühen, obwohl ihnen der Vermieter den Briefkastenschlüssel schon länger vorenthält und sich bereits in der Vergangenheit Verzögerungen bei der Abholung von niedergelegten Schriftstücken ergeben haben. Zwar hat jedermann allgemein Vorsorge dafür zu treffen, dass ihn Mitteilungen der Behörden und Gerichte erreichen und er so z.B. auch die ihm gebotene Möglichkeit des rechtlichen Gehörs wahrnehmen kann. Dazu gehört auch, dass ein ordnungsgemäßer und in Ordnung gehaltener Briefkasten unterhalten wird. Dies war den Antragsgegnern aber gerade nicht möglich, weil ihnen ihr Vermieter den Briefkastenschlüssel entzogen hatte. Es gibt auch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass es den Antragsgegnern nach ihren konkreten Lebensumständen möglich und zumutbar gewesen wäre, eine andere Zustellungsmöglichkeit zu schaffen - etwa die Beauftragung eines Freundes oder Nachbarn als Zustellungsempfänger, wie die Antragstellerin in ihrem Schriftsatz vom 25.04.2001 vorbringt. Es spricht auch nichts dafür, dass es der Vermieter der Antragsgegner geduldet hätte, wenn diese eigenmächtig einen eigenen (zusätzlichen) Briefkasten am Haus angebracht hätten.

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Da die Antragsgegner bis zur Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten ohne Verschulden gehindert waren, den dem Vertretungszwang (§ 67 Abs. 1 VwGO) unterliegenden Zulassungsantrag zu stellen, ist ihnen auch hinsichtlich der insoweit versäumten Antragsfrist nach § 60 Abs. 1 VwGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren

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Der Antrag auf Zulassung der Beschwerde ist auch begründet.

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Nach §§ 146 Abs. 4, 124 Abs. 2 VwGO (i.d.F. des 6. VwGO-Änderungsgesetzes vom 1. November 1996, BGBl. I S. 1626) ist die Beschwerde nur zuzulassen,

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1. wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses bestehen,

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2. wenn die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist,

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3. wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,

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4. wenn der angefochtene Beschluss von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder

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5. wenn ein der Beurteilung des Beschwerdegerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

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Hier liegt der hinreichend dargelegte Zulassungsgrund gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO vor. Es bestehen ernstliche rechtliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung, die zur Zulassung und zum Erfolg der Beschwerde führen.

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Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts haben sich die Tatsachen, welche den Beschlüssen des Senats vom 24. November 2000 zugrunde lagen, nicht entscheidungserheblich geändert. Die Antragstellerin beruft sich zu Unrecht darauf, dass sie die Leistungen nunmehr nach § 66 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 i.V.m. § 61 SGB I versagen könne und die genannten Beschlüsse des Senats folglich aufzuheben seien.

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Der Senat lässt offen, ob eine Einstellung der mit den Beschlüssen vom 24. November 2000 geregelten Leistungen bereits deshalb unzulässig ist, weil die Antragsgegner - nach ihrem Vorbringen - die Aufforderung zum persönlichen Erscheinen vom 20. Dezember 2000, auf die sich die Antragstellerin stützt, nicht erhalten haben. Denn Gründe für eine Änderung des Sachverhalts ergeben sich aus diesem Schreiben der Antragstellerin nicht und sind auch sonst nicht ersichtlich. Die Antragstellerin sieht den Zweck des persönlichen Erscheinens darin, einen "persönlichen Eindruck" von den Antragsgegnern zu gewinnen und eine "schriftliche wahrheitsgemäße Erklärung" über die Gründe ihrer Bedürftigkeit aufzunehmen. Dies sei erforderlich, weil ihres Erachtens die wirtschaftlichen Verhältnisse der Antragsgegner "noch immer ungeklärt" seien, sie ihre Hilfebedürftigkeit und Mittellosigkeit nicht glaubhaft nachgewiesen hätten, und "erfahrungsgemäß" auch eine schriftliche Klärung erfolglos sein werde. Damit stützt sich die Antragstellerin nicht auf neue Umstände, sondern setzt der Wertung des bekannten Sachverhalts durch den Senat in den genannten Beschlüssen nur eine andere Wertung entgegen.

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Das Schreiben der Antragstellerin ist aber auch im Übrigen nicht geeignet, eine Versagung der Leistungen zu rechtfertigen, weil die Antragsgegner bis jetzt der Aufforderung zum persönlichen Erscheinen nicht gefolgt sind. Nach § 61 SGB I soll, wer Sozialleistungen beantragt oder erhält, auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers zur mündlichen Erörterung des Antrags oder zur Vornahme anderer für die Entscheidung über die Leistung notwendiger Maßnahmen persönlich erscheinen. Kommt derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten u.a. nach § 61 SGB I nicht nach und wird hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert, kann der Leistungsträger nach § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind. Eine Kürzung oder Versagung der Leistung setzt folglich voraus, dass die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert wird, wenn die geforderte Mitwirkungshandlung unterbleibt. Die erwähnten Gründe der Antragstellerin für ihre Forderung nach einem persönlichen Erscheinen der Antragsgegner - Gewinnung eines persönlichen Eindrucks und Aufnahme einer schriftlichen Erklärung - reichen nicht aus, diese Voraussetzung zu erfüllen. Es ist nicht erkennbar, weshalb ein persönlicher Eindruck der Antragstellerin von den Antragsgegnern der Aufklärung des Sachverhalts förderlich sein soll und weshalb eine schriftliche Erklärung der Antragsgegner nicht auch schriftlich eingereicht werden kann, sondern die von der Antragstellerin für erforderlich erachtete weitere Aufklärung des Sachverhalts nur dadurch erreicht werden kann, dass die Antragsgegner bei der Aufnahme einer schriftlichen Erklärung persönlich anwesend sind.

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Nach § 166 VwGO i.V.m. den §§ 114, 115 ZPO ist den Antragstellern auch für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen, da die Beschwerde Erfolg hat.