Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 15.05.2001, Az.: 4 LA 1506/01

Antragsfrist; Prozesskostenhilfe; Rechtsmittel; Rechtsmittelfrist; Versäumung; Wiedereinsetzung; Überlegungsfrist

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
15.05.2001
Aktenzeichen
4 LA 1506/01
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2001, 39528
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 02.08.2000 - AZ: 6 A 140/98

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Lehnt das Rechtsmittelgericht einen Antrag eines Beteiligten auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das beabsichtigte Rechtsmittelverfahren erst nach Ablauf der Rechtsmittelfrist ab, beginnt mit dem Zugang dieser Entscheidung bei dem Beteiligten die Frist des § 60 Abs. 2 VwGO für die Stellung eines Wiedereinsetzungsgesuchs hinsichtlich der versäumten Rechtsmittelfrist zu laufen. Der Beginn dieser Frist wird nicht durch eine zusätzliche "Überlegungsfrist" von einigen Tagen hinausgeschoben (a.A. BGH, Beschl. v. 08.11.1989 - IVb ZB 110/89 -, NJW-RR 1990, 451 = FamRZ 1990, 279).

Gründe

1

Die Beteiligten streiten über die Verpflichtung des Beklagten, dem Kläger Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren. Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 2. August 2000, dem damaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers zugestellt am 14. August 2000, abgewiesen.

2

Mit Schreiben vom 8. September 2000, eingegangen bei dem Oberverwaltungsgericht am 11. September 2000, hat der Kläger beantragt, ihm für einen beabsichtigten Antrag auf Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil und für ein anschließendes Berufungsverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen und ihm seinen jetzigen Prozessbevollmächtigten beizuordnen. Der Senat hat diesen Antrag mit Beschluss vom 20. März 2001 - 4 L 3231/00 - abgelehnt.

3

Mit Schriftsätzen seines Prozessbevollmächtigten vom 11. April 2001, bei Gericht per Telefax eingegangen am selben Tag, begehrt der Kläger die Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Frist für die Stellung des Zulassungsantrages.

4

Die Anträge des Klägers bleiben ohne Erfolg.

5

Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unzulässig. Er ist nicht fristgerecht gestellt worden. Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist dem damaligen Prozessbevollmächtigen des Klägers am 10. August 2000 zugestellt worden. Die Frist von einem Monat, innerhalb der eine Zulassung der Berufung zu beantragen ist (§ 124 a Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist, da der 10. September 2000 ein Sonntag war, am Montag, dem 11. September 2000 abgelaufen. Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist aber erst am 11. April 2001 gestellt worden.

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Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der versäumten Rechtsmittelfrist kann der Kläger nicht beanspruchen.

7

Wenn jemand ohne Verschulden gehindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 60 Abs. 1 VwGO). Der Kläger hat noch innerhalb des Laufs der Rechtsmittelfrist einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für einen beabsichtigten Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt. Über diesen Antrag hat der Senat erst am 20. März 2001 und damit nach Ablauf der Rechtsmittelfrist entschieden. Jedenfalls bis zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Entscheidung über das Prozesskostenhilfegesuch war der Kläger nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ohne Verschulden gehindert, die Rechtsmittelfrist einzuhalten. Der Beschluss des Senats ist ausweislich der Akten am 23. März 2001 an den Kläger abgesandt worden und diesem nach seinen eigenen Angaben am 26. März 2001 zugegangen.

8

Nach § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der versäumten Frist binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Diese Frist begann hier mit dem Zugang des Beschlusses bei dem Kläger am 26. März 2001 zu laufen und ist  am 9. April 2001 abgelaufen. Da der Wiedereinsetzungsantrag erst am 11. April 2001 bei Gericht eingegangen ist, ist er verspätet und muss deshalb erfolglos bleiben.

9

Entgegen der Meinung des Klägers verschiebt sich der Beginn der zweiwöchigen Frist für die Stellung des Wiedereinsetzungsantrages nicht um eine "Überlegungsfrist" von einigen Tagen - in diesem Fall wäre der Wiedereinsetzungsantrag noch rechtzeitig gestellt -.

10

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) in Zivilsachen ist einer Partei, deren Prozesskostenhilfegesuch wenige Tage vor Ablauf einer Rechtsmittelfrist abgelehnt wird, eine zusätzliche Überlegungsfrist von wenigen Tagen zuzubilligen, innerhalb derer sie an der Einlegung des Rechtsmittels gehindert ist (vgl. z.B. BGH, Beschl. v. 6.2.1979 - VI ZR 13/79 -, VersR 1979, 444; Beschl. v. 28.11.1984 - IV B ZB 119/84 -, NJW 1986, 257 = MDR 1985, 657 = FamRZ 1985, 370). Maßgebend hierfür ist die Erwägung, dass bei dieser Konstellation der Partei von der verbleibenden Rechtsmittelfrist nur ein Teil für die Überlegung zur Verfügung steht, ob sie das Kostenrisiko trotz der Ablehnung des Prozesskostenhilfegesuchs auf sich nehmen will. Der andere Teil der verbleibenden Tage wird - anders als dann, wenn sich noch die zweiwöchige Frist des § 234 Abs. 1 ZPO anschließt - für technische Vorkehrungen benötigt (Beauftragung eines Prozessbevollmächtigten, Fertigung der Rechtsmittelschrift usw.). Dieser Rechtsprechung haben sich u.a. der Bundesfinanzhof (vgl. Urt. v. 27.11.1991 - III B 566/90 -, BFH/NV 1992, 686) und - mit Einschränkungen - das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) angeschlossen (vgl. z.B. BVerwG, Beschl. v. 16.2.1999 - BVerwG 8 B 10.99 -, Buchholz 310, § 60 VwGO Nr. 222 = NVwZ-RR 1999, 472). In dem Beschluss des BVerwG vom 16.2.1999 heißt es dazu u.a.: "Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wird bei Wegfall eines Hindernisses für die Rechtsmitteleinlegung noch innerhalb der Rechtsmittelfrist nicht etwa von diesem Zeitpunkt an ohne weiteres eine "Überlegungsfrist" von zwei Wochen entsprechend § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO oder von geringerer Dauer in Lauf gesetzt; vielmehr kommt es auf die Umstände des Einzelfalls - insbes. die Schwierigkeit der Beurteilung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs - an, ob eine über die eigentliche Rechtsmittelfrist hinausreichende zusätzliche "Beratungsfrist" einzuräumen ist."

11

Nach der Rechtsprechung des BGH beginnt aber auch in dem Fall, dass über das Prozesskostenhilfegesuch erst nach Ablauf der Rechtsmittelfrist entschieden worden ist, die Frist für die Stellung des Wiedereinsetzungsantrags nicht schon mit der Bekanntgabe der Entscheidung an die Partei. Vielmehr ist auch hier noch eine "Überlegungsfrist" zu gewähren. Der BGH hat hierzu z.B. in seinem Beschluss vom 8.11.1989 - IV b ZB 110/89 -, NJW-RR 1990, 451 = FamRZ 1990, 279) ausgeführt: "Diese Frist [für den Wiedereinsetzungsantrag] beginnt mit dem Tage, an dem das Hindernis behoben ist (§ 234 Abs. 2 ZPO). Dieses bestand jedenfalls solange, wie das Oberlandesgericht über das rechtzeitig vor Ablauf der Berufungsfrist gestellte Prozesskostenhilfegesuch noch nicht entschieden hatte, denn die Klägerin durfte darauf vertrauen, dass die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die erbetene Prozesskostenhilfe vorlagen, und es gereicht ihr auch nicht zum Verschulden, wenn sie wegen der gegen das Urteil vorgetragenen Angriffe mit einem Erfolg ihres Rechtsmittels rechnete. Mit der Zustellung des die Prozesskostenhilfe verweigernden Beschlusses am ... entfiel dieses Vertrauen. Gleichwohl begann damit die Zwei-Wochen-Frist des § 234 Abs. 1 ZPO nicht sofort zu laufen. Denn die Klägerin brauchte sich nicht schon während der Laufzeit ihres Prozesskostenhilfeantrages darüber schlüssig zu werden, ob sie im Falle der (unerwarteten) Ablehnung ihres Antrages das Rechtsmittel auch auf eigene Kosten durchführen werde. Hierfür stand ihr nach der Verweigerung der Prozesskostenhilfe nach der ständigen Rechtsprechung des BGH noch eine kurze Überlegungsfrist zu, die üblicherweise auf drei bis vier Tage bemessen wird, jedenfalls aber die hier in Anspruch genommenen zwei Tage betrug ... Für die Dauer dieser Überlegungszeit bestand das Hindernis fort."

12

Soweit ersichtlich liegt eine entsprechende Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nicht vor. Der Rechtsprechung des BGH kann auch nicht gefolgt werden. Die Einräumung einer zu der Rechtsmittelfrist hinzutretenden Überlegungsfrist ist in den Fällen gerechtfertigt, in denen die Entscheidung über das PKH-Gesuch so kurz vor Ablauf der Rechtsmittelfrist ergeht, dass innerhalb der verbleibenden Rechtsmittelfrist eine Entscheidung über das "ob" der Rechtsmitteleinlegung und die tatsächliche Rechtsmitteleinlegung nicht mehr möglich ist, die Partei also für einen einige Tage über den Ablauf der Rechtsmittelfrist hinausgehenden Zeitraum ohne Verschulden gehindert ist, das Rechtsmittel fristgerecht einzulegen. Diese Erwägung lässt sich auf den Fall, dass die Entscheidung über das Prozesskostenhilfegesucht erst nach Ablauf der Rechtsmittelfrist ergeht, nicht übertragen. In diesem Fall gibt es eine zu wahrende Rechtsmittelfrist nicht mehr. Der Gesetzgeber sieht für diesen Fall sowohl nach § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO als auch nach § 234 Abs. 1 ZPO eine Frist von zwei Wochen für die Einlegung des Rechtsmittels und die Stellung des Wiedereinsetzungsgesuchs als ausreichend an. Durchgreifende Gründe, weshalb der Beginn dieser Zwei-Wochen-Frist, also der Zeitpunkt des Wegfalls des Hindernisses auf einige Tage nach der Bekanntgabe der Entscheidung über das Prozesskostenhilfegesuch ("Überlegungsfrist") verlegt werden müsste, sind nicht ersichtlich. Dass die Partei sich nicht schon während der Laufzeit ihres Prozesskostenhilfeantrags darüber schlüssig zu werden brauche, ob sie im Fall der unerwarteten Ablehnung ihres Antrags das Rechtsmittel auf eigene Kosten durchführen werde, wird vom BGH zwar behauptet, aber nicht begründet. Vor Ablauf der Rechtsmittelfrist mag die Partei sich darauf verlassen dürfen, dass die Entscheidung über das Prozesskostenhilfegesuch so rechtzeitig ergehen werde, dass sie sich über die Rechtsmitteleinlegung noch schlüssig werden und die Rechtsmitteleinlegung tatsächlich fristgerecht werde abwickeln können. Wird dann dieser Zeitraum durch eine späte Entscheidung des Gerichts zu knapp, ist die Einräumung einer "Überlegungsfrist" gerechtfertigt. Ist die Rechtsmittelfrist aber erst einmal abgelaufen, greift diese Erwägung nicht durch. Von einer Partei, der bekannt ist, dass eine fristgerechte Rechtsmitteleinlegung auf keinen Fall mehr möglich ist, kann durchaus erwartet werden, sich zu überlegen, wie sie sich im Fall der - möglicherweise auch unerwarteten - Ablehnung ihres Prozesskostenhilfegesuchs verhalten will. Damit werden an die Partei unzumutbare Anforderungen nicht gestellt. Die Einräumung einer zusätzlichen Überlegungsfrist, durch die der Lauf der der Partei ohnehin zur Verfügung stehenden Zwei-Wochen-Frist für die Stellung des Wiedereinsetzungsantrags hinausgeschoben wird, ist deshalb nicht geboten.

13

Dem Kläger ist im vorliegenden Fall auch nicht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Frist für die Stellung des Wiedereinsetzungsgesuchs zu gewähren. Es ist nicht ersichtlich, dass er ohne Verschulden - ein Verschulden seines Prozessbevollmächtigten ist ihm wie eigenes Verschulden zuzurechnen - gehindert gewesen wäre, das Wiedereinsetzungsgesuch fristgerecht zu stellen. Der Prozessbevollmächtigte hat zwar offenbar angenommen, dass die vom BGH in Zivilsachen entwickelte Rechtsprechung zur Einräumung einer "Überlegungsfrist" auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren gelte. Er durfte sich indessen hierauf nicht verlassen. Er hat sich selbst ausschließlich auf Nachweise aus der Rechtsprechung des BGH berufen. Eine entsprechende Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hat er nicht benannt und liegt ersichtlich auch nicht vor. In einer solchen Situation ist der Prozessbevollmächtigte gehalten, vorsorglich von einem Lauf der Zwei-Wochen-Frist des § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO ab dem Zeitpunkt der Bekanntgabe der Ablehnung des Prozesskostenhilfegesuchs ohne Zwischenschaltung einer Überlegungsfrist auszugeben. Das ist hier nicht geschehen.