Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 26.02.2019, Az.: 10 LA 218/18
Antragsteller; Asylantrag; Dublin-Raum; Eltern; minderjährige Familienangehörige; Familieneinheit; Kind; nachgeborenes Kind; Mitgliedstaat; Regelungslücke; internationaler Schutz; Zuständigkeit
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 26.02.2019
- Aktenzeichen
- 10 LA 218/18
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2019, 69627
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 26.03.2018 - AZ: 4 A 7582/17
Rechtsgrundlagen
- § 29 Abs 1 Nr 1a AsylVfG
- § 29 Abs 1 Nr 2 AsylVfG
- Art 20 Abs 3 EUV 604/2013
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Der Asylantrag eines in Deutschland nachgeborenen Kindes, dessen Eltern in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union bereits internationalen Schutz erhalten haben, ist gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 a) AsylG unzulässig.
2. Dieser Mitgliedstaat ist in entsprechender Anwendung des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-Verordnung auch für die Durchführung des Asylverfahrens des Kindes zuständig.
Tenor:
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichter der 4. Kammer - vom 26. März 2018 wird abgelehnt.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens.
Gründe
Der Antrag der Beklagten, die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil zuzulassen, hat keinen Erfolg. Denn der von ihr allein geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) liegt nicht vor.
Eine Rechtssache ist nur dann im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG grundsätzlich bedeutsam, wenn sie eine höchstrichterlich noch nicht geklärte Rechtsfrage oder eine obergerichtlich bislang noch nicht beantwortete Tatsachenfrage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im Rechtsmittelverfahren entscheidungserheblich und einer abstrakten Klärung zugänglich ist, im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf, nicht schon geklärt ist und (im Falle einer Rechtsfrage) nicht bereits anhand des Gesetzeswortlauts und der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung sowie auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantwortet werden kann (BVerwG, Beschluss vom 08.08.2018 - 1 B 25.18 -, juris Rn. 5, zu § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO; ferner: GK-AsylG, Stand: November 2018, § 78 AsylG Rn. 88 ff. m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: November 2018, § 78 AsylG Rn. 21 ff. m.w.N).
Die Beklagte hat zur Begründung dieses Zulassungsgrunds die folgende Frage aufgeworfen:
„Ob sich die Zuständigkeit eines Mitgliedstaats der Europäischen Union für die Prüfung des Asylantrags eines in Deutschland nachgeborenen Kindes, dessen Eltern bereits in diesem Mitgliedstaat internationalen Schutz erhalten haben, aus Art. 20 Abs. 3 Dublin-III-VO ergibt, mit der Folge, dass ein Asylantrag des Kindes nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 a), Nr. 2 AsylG unzulässig ist.“
Zur Klärung dieser Frage bedarf es nicht der Durchführung eines Berufungsverfahrens. Sie lässt sich ohne Weiteres aus dem Gesetz und mit Hilfe der üblichen Methoden der Rechtsanwendung sowie unter Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsprechung wie folgt beantworten: Der Asylantrag eines in Deutschland nachgeborenen Kindes, dessen Eltern in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union bereits internationalen Schutz erhalten haben, ist gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 a) AsylG unzulässig. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin III-Verordnung für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Diese Voraussetzung ist erfüllt, da der Mitgliedstaat, in den die Eltern des Kindes aus einem Drittstaat kommend illegal eingereist sind und in dem sie auf ihren Antrag hin internationalen Schutz erhalten haben, in entsprechender bzw. erweiternder Anwendung des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-Verordnung auch für die Durchführung des Asylverfahrens des Kindes zuständig ist (ebenso u. a. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.03.2018 - A 4 S 544/18 -, juris Rn. 9 ff.; VG Berlin, Beschluss vom 23.08.2018 - 23 K 367.18 A -, juris Rn. 3 ff.; VG Ansbach, Urteil vom 26.03.2018 - AN 17 K 18.50055 -, juris Rn. 26; VG Lüneburg, Beschluss vom 14.02.2018 - 4 A 491/17 -, juris Rn. 20; VG Würzburg, Urteil vom 22.01.2018 - W 2 K 17.33334 -, juris Rn. 22; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 19.09.2017 - 9a L 2652/17.A -, juris Rn. 53 ff.; VG München, Beschluss vom 20.06.2017 - M 11 S 17.41493 -, juris Rn. 24).
Dies ergibt sich daraus, dass nach Art. 20 Abs. 3 Satz 1 Dublin III-Verordnung die Situation des minderjährigen Familienangehörigen eines Antragstellers „für die Zwecke dieser Verordnung“ untrennbar mit dessen Situation verbunden ist. Die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens des minderjährigen Familienangehörigen des Antragstellers fällt daher nach dieser Vorschrift in die Zuständigkeit des Mitgliedstaats, der für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers zuständig ist, sofern dies dem Wohl des Minderjährigen dient. Nach Art. 20 Abs. 3 Satz 2 Dublin III-Verordnung wird ebenso bei Kindern verfahren, die nach der Ankunft des Antragstellers im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats geboren werden, ohne dass ein neues Zuständigkeitsverfahren für diese eingeleitet werden muss. Zwar sind in den Fällen, in denen den Eltern des Kindes die Flüchtlingseigenschaft bereits in dem betreffenden Mitgliedstaat zuerkannt worden ist, die Eltern nach der Legaldefinition des Art. 2 c) Dublin III-Verordnung nicht mehr “Antragsteller“, sondern “Begünstigte internationalen Schutzes“ im Sinne des Art. 2 f) Dublin III-Verordnung. Die Regelung des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-Verordnung ist aber in diesen Fällen analog bzw. erweiternd anzuwenden, da der Verordnungsgeber die Problematik der nach der Schutzgewährung für die Eltern im Dublin-Raum nachgeborenen Kinder offenbar übersehen hat. Denn der Verordnungsgeber hat zwar hinsichtlich dieses Personenkreises allgemeine Regelungen in Art. 9 und 10 Dublin III-Verordnung getroffen, es fehlt aber an einer Vorschrift, die - so wie in Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO vorgegeben - eine verfahrensmäßige Akzessorietät zwischen dem Minderjährigen und seinen bereits in einem anderen Mitgliedstaat anerkannten Familienangehörigen regelt. Es liegt daher insoweit eine Regelungslücke vor, die eine analoge Anwendung der Norm ermöglicht (ebenso u. a. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.03.2018 - A 4 S 544/18 -, juris Rn. 9; VG Berlin, Beschluss vom 23.08.2018 - 23 K 367.18 A -, juris Rn. 4; VG Hamburg, Gerichtsbescheid vom 08.05.2017 - 16 A 808/15 -, juris Rn. 21).
Die Notwendigkeit einer analogen bzw. erweiternden Anwendung von Art. 20 Abs. 3 Dublin III-Verordnung ergibt sich ferner daraus, dass die Dublin III-Verordnung gemäß deren Erwägungsgründen 13 bis 17 nach dem bei minderjährigen Kindern grundrechtlich zwingend vorgegebenen Grundsatz der untrennbaren Familieneinheit konstruiert ist (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.03.2018 - A 4 S 544/18 -, juris Rn. 9). Nach dem Erwägungsgrund 15 der Dublin III-Verordnung soll mit der gemeinsamen Bearbeitung der von den Mitgliedern einer Familie gestellten Anträge auf internationalen Schutz durch ein und denselben Mitgliedstaat sichergestellt werden, dass die diesbezüglichen Entscheidungen kohärent sind und die Mitglieder einer Familie nicht voneinander getrennt werden. Beides ließe sich jedoch nicht gewährleisten, wenn für das Asylverfahren der Eltern einerseits und des Kindes andererseits unterschiedliche Mitgliedstaaten zuständig wären. Die Situation des Kindes muss daher auch nach dem Abschluss des Asylverfahrens seiner Eltern untrennbar mit deren Situation verbunden bleiben. Nur so wird der Grundsatz der Einheit der Familiengemeinschaft geachtet und damit auch dem Wohl des Kindes (vgl. Art. 20 Abs. 3 Satz 1 letzter Halbsatz und Erwägungsgrund 16 Dublin III-Verordnung) hinreichend Rechnung getragen (VG Berlin, Beschluss vom 23.08.2018 - 23 K 367.18 A -, juris Rn. 4).
Dafür spricht schließlich auch, dass die Zuständigkeitsordnung der Dublin III-Verordnung nicht durch die Weiterwanderung von bereits in einem Mitgliedstaat als international schutzberechtigt anerkannten Ausländern in einen anderen Mitgliedstaat, der sogenannten sekundären Migration, und anschließender Geburt eines Kindes in dem anderen Mitgliedstaat außer Kraft gesetzt werden kann. Den binnenmigrierenden Ausländern darf nicht durch die Wahl ihres tatsächlichen Aufenthaltsorts im Gebiet der Europäischen Union die Bestimmung der Zuständigkeit zwischen den Mitgliedstaaten überlassen werden. Drittstaatsangehörige sollen vielmehr von einem sogenannten “forum shopping“ und letztlich von einer Sekundärmigration innerhalb der Europäischen Union abgehalten werden (Bayerischer VGH, Beschluss vom 22.11.2018 - 21 ZB 18.32867 -, juris Rn. 20 m.w.N.).
Dementsprechend ist Art. 9 Dublin III-VO nicht so zu verstehen, dass ein Mitgliedstaat nur dann für die Prüfung des Asylantrags eines Kindes, das geboren wurde, nachdem seinen Eltern durch diesen Staat internationaler Schutz gewährt wurde, zuständig ist, wenn die „betreffenden Personen“ das - schriftlich - wünschen (VG Berlin, Beschluss vom 23.08.2018 - 23 K 367.18 A -, juris Rn. 4). Ein solches Verständnis liefe dem genannten übergeordneten Sinn und Zweck der Dublin III-Verordnung zuwider, eine verbindliche objektive Zuständigkeitsverteilung zwischen den EU-Mitgliedstaaten vorzugeben, die es gerade ausschließt, dass Schutzsuchende den für die Prüfung ihres Begehrens zuständigen Mitgliedstaat selbst bestimmen (vgl. BVerwG, Urteil vom 22.03.2016 - 1 C 10.15 -, juris Rn. 26). Deshalb ist die allgemeine Regelung des Art. 9 Dublin III-Verordnung in der Zusammenschau mit Art. 20 Abs. 3 Satz 2 Dublin III-Verordnung dahingehend (einschränkend) auszulegen, dass die Ablehnung des Asylantrags des Kindes in Deutschland als unzulässig sowie seine Rückführung im Familienverband in den Mitgliedstaat, in dem seine Eltern als schutzberechtigt anerkannt worden sind, durch diese Regelung nicht gesperrt wird (ebenso VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.03.2018 - A 4 S 544/18 -, juris Rn. 11).
Zu demselben Ergebnis - Unzulässigkeit des Asylantrags des in Deutschland nachgeborenen Kindes - gelangt man aber auch dann, wenn man - wie der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (Beschluss vom 22.11.2018 - 21 ZB 18.32867 -, juris Rn. 17 ff.; ebenso u. a. VG Hamburg, Gerichtsbescheid vom 08.05.2017 - 16 A 808/15 -, juris Rn. 21) - zwar Art. 20 Abs. 3 Dublin III-Verordnung in diesen Fällen für nicht anwendbar hält, den Asylantrag des Kindes jedoch in entsprechender Anwendung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig ansieht. Auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof stellt insoweit eine planwidrige Regelungslücke mit der Begründung fest, dass es dem das Gemeinsame Europäische Asylsystem beherrschenden Grundsatz, wonach der Asylantrag eines Drittstaatsangehörigen (nur) von einem einzigen Mitgliedstaat zu prüfen sei (Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO), zuwiderliefe, wenn mit dem Asylantrag eines minderjährigen Kindes, das in Deutschland geboren worden sei, anders zu verfahren wäre, als mit dem Asylantrag der Eltern, die in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union bereits internationalen Schutz erhalten hätten. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof schließt diese Regelungslücke allerdings nicht durch die hier für richtig gehaltene entsprechende Anwendung von Art. 20 Abs. 3 Dublin III-Verordnung, sondern durch § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG analog.
Die Kostenentscheidungen beruhen auf § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).