Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 12.01.2006, Az.: 5 A 408/05

Abschiebungsschutz; Abschiebungsschutzberechtigte; Bleiberecht; Einjahresfrist; Familienabschiebungsschutz; Geburt; In-Kraft-Treten; minderjährige Kinder; Neuregelung

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
12.01.2006
Aktenzeichen
5 A 408/05
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2006, 53153
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Der Ausschluss von Familienabschiebungsschutz nach Ablauf der Einjahresfrist des § 26 Abs. 4 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 AsylVfG gilt auch dann, wenn die Frist nicht gehalten werden konnte, weil die Geburt des Kindes im Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der Vorschrift des § 26 Abs. 4 AsylVfG am 1. Januar 2005 bereits länger als ein Jahr zurücklag.

Tatbestand:

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Der Kläger begehrt die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG, hilfsweise gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG.

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Der am 30. August 2002 in Celle geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit moslemischen Glaubens. Hinsichtlich seiner Eltern stellte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge mit Bescheid vom 10. Juli 2002 ein Abschiebungshindernis gemäß § 51 Abs. 1 AuslG - nunmehr § 60 Abs. 1 AufenthG - fest. Hierzu war es aufgrund des rechtskräftigen Urteils des Verwaltungsgerichts Lüneburg vom 22. Mai 2002 - 3 A 539/98 - verpflichtet worden.

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Am 14. März 2005 stellten die Eltern des Klägers für diesen einen auf die Feststellung eines Verbotes der Abschiebung gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG beschränkten Asylantrag, zu deren Begründung sie sich auf die seit dem 1. Januar 2005 geltende Neufassung des § 26 Abs. 4 AsylVfG beriefen.

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Mit Bescheid vom 4. Oktober 2005 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag des Klägers ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen. Zur Begründung führte es an, für den Kläger seien in eigener Person keine abschiebungsschutzrelevanten Gefahren geltend gemacht worden. Die Voraussetzungen des § 26 Abs. 4 AsylVfG seien nicht erfüllt, da der Antrag auf Familienabschiebeschutz für ein nach der unanfechtbaren Anerkennung des abschiebungsschutzberechtigten Elternteils im Bundesgebiet geborenes Kind innerhalb eines Jahres zu stellen sei. Diese Frist habe der Kläger nicht eingehalten, da das Verfahren seiner Eltern seit dem 17. Juni 2002 bestandskräftig abgeschlossen sei, der Antrag für den am 30. August 2002 geborenen Kläger aber erst am 14. März 2005 und damit außerhalb der Einjahresfrist gestellt worden sei. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG seien nicht gegeben.

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Daraufhin hat der Kläger am 11. Oktober 2005 Klage erhoben, zu deren Begründung er vorträgt, ihm könne nicht entgegengehalten werden, dass er die Jahresfrist nicht eingehalten habe. Im Zeitpunkt seiner Geburt habe die Möglichkeit der Feststellung eines Familienabschiebungsschutzes gesetzlich noch nicht bestanden. Daher sei davon auszugehen, dass der Antrag innerhalb eines Jahres nach Schaffung der Neuregelung zu stellen sei.

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Der Kläger beantragt,

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den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 4. Oktober 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in seiner Person hinsichtlich der Türkei vorliegen,

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hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungshindernisse gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen,

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und verweist zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten dieses Verfahrens sowie des Verfahrens 3 A 539/98 und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage, über die der Einzelrichter im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist unbegründet.

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Der Kläger hat keinen Anspruch auf den begehrten Abschiebungsschutz. Zur Begründung wird zunächst auf den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes verwiesen, dessen Gründe der Einzelrichter folgt. Ergänzend und vertiefend sei unter Bezugnahme auf die mit diesem Fall vergleichbare Problematik des zum 1. Juli 1992 in Kraft getretenen § 26 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG in der bis zum 31. Dezember 2004 geltenden Fassung des Asylverfahrensgesetzes, die dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. März 1995 - 9 C 389/94 - (NVwZ 1995, 791) zugrunde lag, Folgendes ausgeführt:

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Das Bundesamt hat einen Anspruch des Klägers auf Gewährung von Abschiebungsschutz auf der Grundlage der für sein Begehren allein in Betracht kommenden Vorschrift des § 26 Abs. 4 AsylVfG zu Recht mit der Begründung verneint, dass die in dieser Vorschrift in Bezug genommene Regelung des § 26 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG diesem Anspruch entgegensteht. Nach § 26 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG gelten die Absätze 1 bis 3 des § 26 AsylVfG entsprechend, wenn ein Ausländer (zwar) nicht als Asylberechtigter anerkannt worden ist, für ihn aber unanfechtbar das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG festgestellt wurde. Gemäß § 26 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG ist der Antrag für im Bundesgebiet nach der Zuerkennung von Abschiebungsschutz geborene Kinder innerhalb eines Jahres nach der Geburt zu stellen. Hieran fehlt es.

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Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger einen Antrag auf Gewährung von Familienabschiebungsschutz innerhalb eines Jahres nach seiner Geburt mangels einer entsprechenden gesetzlichen Vorschrift erfolgversprechend gar nicht stellen konnte. Der Anwendungsbereich des § 26 Abs. 4 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 AsylVfG kann entgegen der Ansicht des Klägers weder im Wege der Auslegung noch der richterlichen Rechtsfortbildung dahingehend ausgelegt werden, dass diese Regelung nicht auf die minderjährigen Kinder Abschiebungsschutzberechtigter Anwendung findet, die - wie der Kläger - zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der Regelung am 1. Januar 2005 bereits so alt waren, dass sie die dort vorgesehene Jahresfrist zur Stellung eines Antrages auf Gewährung von Abschiebungsschutzes objektiv nicht einhalten konnten. Der Wortlaut der Vorschrift, der Grenze jeder Auslegung ist, ist eindeutig. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Regelung nach der Zweckrichtung des Gesetzes diesem Sachverhalt nicht gerecht wird, weil sie dessen Besonderheiten in systemwidriger Weise außer acht lässt. Der Gesetzgeber hat mit der Schaffung des § 26 Abs. 4 AsylVfG erkennbar nicht allen in Deutschland nach der Zuerkennung von Abschiebungsschutz an ein Elternteil geborenen minderjährigen und ledigen Kindern die Möglichkeit einräumen wollen, Familienabschiebungsschutz zu erhalten. Er wollte vielmehr einen Teil der minderjährigen Kinder von Abschiebungsschutzberechtigten, die bei In-Kraft-Treten der Neuregelung das erste Lebensjahr bereits vollendet hatten, vom Familienabschiebungsschutz ausschließen. Andernfalls hätte er eine Übergangsregelung für die bereits geborenen Kinder vorgesehen oder - wie in § 26 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG - eine „unverzügliche“ Antragstellung genügen lassen.

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Ein Verstoß gegen Verfassungsvorschrift ist nicht gegeben. Weder Art. 16 a Abs. 1 Satz 1 GG noch Art. 6 Abs. 1 GG zwingen den Gesetzgeber, die Gewährung von Abschiebungsschutz auf die Familienangehörigen eines nach § 60 Abs. 1 AufenthG (bisher § 51 Abs. 1 AuslG) Abschiebungsschutzberechtigten zu erstrecken. Aus Art. 6 Abs. 1 GG kann lediglich gefolgert werden, dass den minderjährigen Kindern eines Abschiebungsschutzberechtigten ein Bleiberecht in Deutschland zu gewähren ist. Dem Gesetzgeber steht insoweit ein weiter Gestaltungsspielraum zu, der es ihm unbenommen lässt, dem Interesse des Abschiebungsschutzberechtigten und seiner Angehörigen an der Fortführung der familiären Gemeinschaft durch Schaffung entsprechender ausländerrechtlicher Regelungen - wie etwa hier durch § 32 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 25 Abs. 2 und § 101 Abs. 2 AufenthG - Rechnung zu tragen. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG ist ebenfalls nicht gegeben (vgl. hierzu die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts in seinem Urteil vom 7.3.1995 - 9 C 389/94 -, a. a. O., S. 792 a. E.).

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.