Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 26.10.2021, Az.: 8 LA 94/21

Beschäftigungsduldung; Straftaten; Straftaten, geringfügig; Verhältnismäßigkeit

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
26.10.2021
Aktenzeichen
8 LA 94/21
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2021, 71032
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 17.05.2021 - AZ: 12 A 2545/20

Fundstellen

  • KomVerw/B 2023, 92-94
  • KomVerw/MV 2023, 94-97
  • KomVerw/S 2023, 91-94
  • KomVerw/T 2023, 89-92

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Der Erteilung einer Beschäftigungsduldung steht -abgesehen von den Sonderdelikten, die nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylgesetz nur von Ausländern begangen werden können - eine Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Straftat unabhängig vom Strafmaß entgegen.

Tenor:

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 12. Kammer (Einzelrichter) - vom 17. Mai 2021 wird abgelehnt.

Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes für das Zulassungsverfahren wird auf 5000 EUR festgesetzt.

Gründe

Der Kläger hat mit seiner Klage beantragt, die Beklagte zur Erteilung einer Beschäftigungsduldung nach § 60d AufenthG zu verpflichten. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen, weil die Verurteilung wegen Diebstahls geringwertiger Sachen zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen durch rechtskräftigen Strafbefehl vom 24. März 2017 zur Folge habe, dass die Voraussetzung des § 60d Abs. 1 Nr. 7 AufenthG nicht erfüllt sei.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache nach § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO und der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegen nicht vor.

1. Die Richtigkeit des angefochtenen Urteils ist nicht ernstlich zweifelhaft. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind zu bejahen, wenn der Rechtsmittelführer einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 8.12.2009 - 2 BvR 758/07 -, BVerfGE 125, 104, juris Rn. 96). Die Richtigkeitszweifel müssen sich dabei auch auf das Ergebnis der Entscheidung beziehen; es muss also mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass die Berufung zu einer Änderung der angefochtenen Entscheidung führen wird (vgl. BVerwG, Beschl. v. 10.3.2004 - 7 AV 4.03 -, NVwZ-RR 2004, 542, juris Rn. 9 f.). Eine den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO genügende Darlegung dieses Zulassungsgrundes erfordert, dass im Einzelnen unter konkreter Auseinandersetzung mit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung ausgeführt wird, dass und warum Zweifel an der Richtigkeit der Auffassung des erkennenden Verwaltungsgerichts bestehen sollen. Hierzu bedarf es regelmäßig qualifizierter, ins Einzelne gehender, fallbezogener und aus sich heraus verständlicher Ausführungen, die sich mit der angefochtenen Entscheidung auf der Grundlage einer eigenständigen Sichtung und Durchdringung des Prozessstoffes auseinandersetzen (vgl. Senatsbeschl. v. 17.6.2015 - 8 LA 16/15 -, NdsRPfl. 2015, 244, juris Rn. 10; v. 17.5.2016 - 8 LA 40/16 -, juris Rn. 6).

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Beschäftigungsduldung, weil er die Voraussetzung des § 60d Abs. 1 Nr. 7 AufenthG nicht erfüllt. Nach dieser Vorschrift ist einem ausreisepflichtigen Ausländer und seinem Ehegatten oder seinem Lebenspartner, die bis zum 1. August 2018 in das Bundesgebiet eingereist sind, in der Regel eine Duldung nach § 60a Absatz 2 Satz 3 AufenthG für 30 Monate zu erteilen, wenn u.a. der ausreisepflichtige Ausländer und sein Ehegatte oder sein Lebenspartner nicht wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt wurde, wobei Verurteilungen im Sinne von § 32 Abs. 2 Nr. 5 Buchst. a BZRG wegen Straftaten, die nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylgesetz nur von Ausländern begangen werden können, grundsätzlich außer Betracht bleiben.

Zu Recht hat das Verwaltungsgericht die durch den Strafbefehl abgeurteilte Straftat als Straftat im Sinne dieser Vorschrift angesehen. Die Einwände des Antrags auf Zulassung der Berufung dringen nicht durch.

Abgesehen von den Sonderdelikten, die nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylgesetz nur von Ausländern begangen werden können, steht eine Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Straftat unabhängig vom Strafmaß der Beschäftigungsduldung entgegen (vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 60d Rn. 36 (Feb. 2021); Dietz, in: Hailbronner, Ausländerrecht, § 60d AufenthG Rn. 46 (Jan. 2020)).

Dieses Auslegungsergebnis folgt zunächst aus dem Wortlaut. Auch die Gesetzesbegründung führte aus, dass vom Erwerb der Beschäftigungsduldung Ausländer ausgeschlossen seien, die unabhängig vom Strafmaß wegen einer vorsätzlichen Straftat verurteilt worden seien (BT-Drs. 19/8286, S. 17). Die Gesetzessystematik bestätigt, dass Ausnahmen wegen einer geringen Strafhöhe nicht vorgesehen sind. Das zeigt sich bereits daran, dass § 60d Abs. 1 Nr. 7 AufenthG selbst bei den Sonderdelikten durch den Verweis auf § 32 Abs. 2 Nr. 5 Buchst. a BZRG den Ausschluss an eine Mindeststrafhöhe bindet. Nach dieser Vorschrift werden in das Führungszeugnis nicht aufgenommen Verurteilungen, durch die auf Geldstrafe von nicht mehr als neunzig Tagessätzen oder Freiheitsstrafe oder Strafarrest von nicht mehr als drei Monaten erkannt worden ist, wenn im Register keine weitere Strafe eingetragen ist. Für Straftaten, die keine Sonderdelikte im oben bezeichneten Sinne sind, ist eine vergleichbare Einschränkung gerade nicht vorgesehen. Noch weitergehend schließt § 60d Abs. 1 Nr. 7 AufenthG sogar Ausländer von der Beschäftigungsduldung aus, die selbst gar keine Straftat begangen haben, wenn der Ehegatte oder Lebenspartner wegen einer Straftat verurteilt worden ist. Auch an anderer Stelle sind einzelne Fälle, in denen die Voraussetzungen des § 60d Abs. 1 AufenthG „knapp“ verfehlt werden, gesondert geregelt worden. Daraus ist zu schließen, dass es in nicht geregelten Fällen dabei bleiben soll, dass die Erfüllung des Tatbestandes der Vorschrift erforderlich ist. So ermöglicht § 60d Abs. 4 AufenthG eine Ermessensentscheidung, wenn die Identität nicht geklärt ist, der Ausländer aber ausreichende Bemühungen entfaltet hat. Nach § 60d Abs. 3 Satz 2 AufenthG bleiben bei der Prüfung eines Widerrufs kurzfristige Unterbrechungen der Beschäftigung, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, unberücksichtigt. Bei der Bestimmung von Sinn und Zweck der Vorschrift ist zu berücksichtigen, dass diese Kompromisscharakter hat und durch das Bemühen gekennzeichnet ist, möglichst wenig Auslegungsspielräume für den Verwaltungsvollzug zu belassen (vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 60d Rn. 2 (Feb. 2021)). Die Aufzählung der tatbestandlichen Voraussetzungen bezweckt demnach eine grundsätzlich am Wortlaut orientierte Prüfung ohne freie Abwägung der für und gegen eine Integration sprechenden Gesichtspunkte. Entgegen dem Zulassungsverbringen ist folglich kein Raum für eine Berücksichtigung von anderweitigen Integrationsleistungen des Klägers. Zu dem Zulassungsvorbringen ist im Übrigen anzumerken, dass das Verwaltungsgericht keineswegs das Vorliegen der übrigen Voraussetzungen des § 60d Abs. 1 Satz 1 AufenthG bejaht hat. Es hat festgehalten, dass „jedenfalls“ die in § 60d Abs. 1 Nr. 7 AufenthG bezeichnete Voraussetzung nicht gegeben ist.

Dass § 60d Abs. 1 Nr. 7 AufenthG Straftaten unabhängig vom Strafmaß erfasst, ist auch nicht durch eine teleologische Reduktion zu korrigieren. Es handelt sich nicht um eine unbeabsichtigt überschießende Regelung. Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich vielmehr, dass die Anwendung unabhängig vom Strafmaß vom historischen Gesetzgeber beabsichtigt war und sich in den Plan des Gesetzes einfügt.

Dieses Ergebnis verstößt nicht gegen höherrangiges Recht. Die Beschäftigungsduldung wird einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer, dessen Abschiebung möglich ist, erteilt. Sie stellt eine migrationspolitisch motivierte Begünstigung dar. Die Duldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG, auf deren Erteilung § 60d Abs. 1 AufenthG einen Anspruch begründet, kommt in Betracht, wenn der vorübergehende Aufenthalt zwar aus dringenden humanitären oder persönlichen Gründen oder erheblichen öffentlichen Interessen erforderlich ist, sich der Aufenthaltszweck jedoch nicht zu einem rechtlichen Abschiebungshindernis nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG verdichtet hat und tatsächliche Abschiebungshindernisse nicht vorliegen (BT-Drs. 16/5065, S. 187). § 60d AufenthG konkretisiert die dringenden persönlichen Gründe.

§ 60d AufenthG betrifft demnach insbesondere Fälle, in denen die Abschiebung nicht aus Rechtsgründen unmöglich ist. Folglich wird dem Betroffenen keine Rechtsposition genommen, wenn er keine Beschäftigungsduldung erhält. Er kommt lediglich nicht in den Genuss einer Begünstigung, die der Gesetzgeber in freier Entscheidung eingeführt hat, ohne dazu durch höherrangiges Recht verpflichtet zu sein. Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung, bei der die Schwere eines Eingriffs zu dem damit verfolgten öffentlichen Interesse ins Verhältnis zu setzen wäre, scheidet mangels Eingriffs aus. Der Gesetzgeber ist zwar auch bei der Regelung derartiger Begünstigungen an die Grundrechte gebunden. Diese verpflichten ihn aber nicht zur Erweiterung des begünstigten Personenkreises, sondern in erster Linie zu einer diskriminierungsfreien und mittelbare Grundrechtsbeeinträchtigungen vermeidenden Ausgestaltung. Dagegen wird durch den Ausschluss aller Personen mit strafrechtlicher Verurteilung nicht verstoßen. Es liegt im weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, die Begünstigung einer Beschäftigungsduldung an eine solche Bedingung zu knüpfen. Greift hingegen die Aufenthaltsbeendigung in unverhältnismäßiger Weise in ein Grund- oder Menschenrecht des Betroffenen, insbesondere in das Recht auf Achtung des Privatlebens gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK, ein, kommt ein Duldungsanspruch gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in Betracht. Dieser ist aber nicht Gegenstand des Zulassungsverfahrens.

Soweit mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung weiter geltend gemacht wird, der Kläger habe den Diebstahl nicht begangen, fehlt eine Auseinandersetzung mit der Begründung des Verwaltungsgerichts, wonach es auf das Vorliegen einer Verurteilung ankommt und es nicht Aufgabe der Ausländerbehörden ist, rechtskräftige Strafbefehle auf ihre Richtigkeit zu prüfen.

2. Die Berufung ist nicht wegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zuzulassen. Solche Schwierigkeiten sind nur dann anzunehmen, wenn die Beantwortung einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage oder die Klärung einer entscheidungserheblichen Tatsache in qualitativer Hinsicht mit überdurchschnittlichen Schwierigkeiten verbunden ist (vgl. Senatsbeschl. v. 26.1.2011 - 8 LA 103/10 -, juris Rn. 44; v. 24.3.2017 - 8 LA 197/16 -, juris Rn. 29). Daher erfordert die ordnungsgemäße Darlegung dieses Zulassungsgrundes eine konkrete Bezeichnung der Rechts- oder Tatsachenfragen, in Bezug auf die sich solche Schwierigkeiten stellen, und Erläuterungen dazu, worin diese besonderen Schwierigkeiten bestehen (vgl. Senatsbeschl. v. 11.10.2010 - 8 LA 65/10 -, juris Rn. 17).

Der Antrag auf Zulassung der Berufung führt an, dass elf Voraussetzungen zu prüfen sind. Daraus ergibt sich eine solche Schwierigkeit nicht ansatzweise. Eine Abwägung hat, wie oben ausgeführt, in Bezug auf die strafrechtliche Verurteilung gerade nicht stattzufinden.

3. Die Berufung ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen. Eine solche grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine höchstrichterlich noch nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine obergerichtlich bislang ungeklärte Tatsachenfrage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die sich im Rechtsmittelverfahren stellen würde und im Interesse der Einheit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung durch das Berufungsgericht bedarf (vgl. Senatsbeschl. v. 4.7.2011 - 8 LA 288/10 -, GewArch. 2011, 494, juris Rn. 37 m.w.N.). Um die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO darzulegen, hat der Zulassungsantragsteller die für fallübergreifend gehaltene Frage zu formulieren sowie näher zu begründen, weshalb sie eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat und ein allgemeines Interesse an ihrer Klärung besteht. Darzustellen ist weiter, dass sie entscheidungserheblich ist und ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten steht (vgl. Senatsbeschl. v. 15.8.2014 - 8 LA 172/13 -, GewArch. 2015, 84, juris Rn. 15; v. 17.5.2016 - 8 LA 40/16 -, juris Rn. 32).

Die Frage,

ob die Antragsgegnerin an den reinen Wortlaut gebunden ist oder gehalten ist, eine Gesamtschau zu treffen, ob im Einzelfall eine gelungene Integration vorliegt,

ist nicht klärungsbedürftig. Soweit sie sich im vorliegenden Verfahren stellen kann, nämlich in Bezug auf den Ausschluss im Falle einer strafrechtlichen Verurteilung, ergibt sich die Antwort bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes und wird durch die Anwendung der üblichen Auslegungsmethoden eindeutig bestätigt. Der Antrag auf Zulassung der Berufung zeigt auch nicht auf, dass die Auslegung insoweit in der Rechtsprechung oder auch nur in der Literatur umstritten wäre.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).