Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 22.12.2008, Az.: 4 ME 326/08
Bestimmung des Klagegegners bei Geltendmachung eines Anspruches eines Kindes auf einen Platz in einer Kindertagesstätte; Wunschrecht und Wahlrecht bei dem Besuch einer Kindertagesstätte
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 22.12.2008
- Aktenzeichen
- 4 ME 326/08
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2008, 27974
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2008:1222.4ME326.08.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Braunschweig - 09.10.2008 - AZ: 3 B 167/08
Rechtsgrundlagen
- § 12 Abs. 1 S. 1 KiTaG
- § 24 SGB VIII
- § 69 Abs. 1 S. 2 SGB VIII
- § 86 SGB VIII
Fundstellen
- KommJur 2010, 57-59
- NVwZ-RR 2009, VI Heft 6 (amtl. Leitsatz)
- NVwZ-RR 2009, 425-426
- NdsVBl 2009, 144-145
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Der Anspruch eines Kindes auf einen Platz in einer Kindertagesstätte ist gegenüber dem Landkreis als dem örtlichen Träger der Jugendhilfe und nicht gegenüber der Gemeinde geltend zu machen, die aufgrund einer Vereinbarung mit dem Landkreis Aufgaben der öffentlichen Jugendhilfe wahrnimmt.
- 2.
Zur Ausübung des Wunsch- und Wahlrechts bei dem Besuch einer Kindertagesstätte.
Gründe
Die Beschwerde der Antragsgegnerin zu 1. gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Denn das Verwaltungsgericht hat die Antragsgegnerin zu 1. zu Unrecht im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin eine Bescheinigung über die Übernahme der Ausgleichszahlung für ihre Betreuung in der Kindertagesstätte A. der Beigeladenen auszustellen. Die Antragsgegnerin zu 1. ist für den von der Antragstellerin geltend gemachten Anspruch auf einen Kindergartenplatz in der Kindertagesstätte A. der Beigeladenen nicht passiv legitimiert (1.). Dieser Anspruch richtet sich vielmehr gegen den Antragsgegner zu 2. (2.).
Dabei ist zunächst klarzustellen, dass der Antrag der Antragstellerin, wie sich aus dem Schriftsatz vom 3. September 2008 ergibt, darauf gerichtet ist, ihr durch einstweilige Anordnung einen Platz in der Kindertagesstätte A. der Beigeladenen zuzuweisen.
1.
Die Antragsgegnerin zu 1. ist für den Anspruch auf Besuch einer Kindertagesstätte nicht passiv legitimiert, weil sie nicht örtliche Trägerin der Jugendhilfe ist.
Nach § 12 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über Tageseinrichtungen für Kinder - KiTaG - hat jedes Kind nach Maßgabe des § 24 SGB VIII und damit vom vollendeten dritten Lebensjahr bis zum Schuleintritt einen Anspruch auf den Besuch eines Kindergartens. Nach § 12 Abs. 1 Satz 3 KiTaG ist der Anspruch gegenüber dem örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe geltend zu machen, in dessen Gebiet sich das Kind nach Maßgabe des § 86 SGB VIII gewöhnlich aufhält. Örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe sind nach § 69 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII die Kreise und die kreisfreien Städte. § 69 Abs. 5 SGB VIII eröffnet zudem dem Landesgesetzgeber die Möglichkeit, kreisangehörige Gemeinden und Gemeindeverbände zur Durchführung von Aufgaben der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen und zur Tagespflege heranzuziehen, wovon in Niedersachsen bisher allerdings kein Gebrauch gemacht worden ist. Weiterhin können nach § 69 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII kreisangehörige Gemeinden und Gemeindeverbände, die nicht örtliche Träger sind, für den örtlichen Bereich Aufgaben der Jugendhilfe wahrnehmen, wobei gemäß § 69 Abs. 6 Satz 4 SGB VIII Landesrecht das Nähere regeln kann. Hierzu bestimmt § 13 Abs. 1 des Gesetzes zur Ausführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes - AG KJHG -, dass Gemeinden, die nicht örtliche Träger nach § 1 Abs. 2 AG KJHG sind, im Einvernehmen mit dem örtlichen Träger Aufgaben der öffentlichen Jugendhilfe wahrnehmen können. Dabei obliegt dem örtlichen Träger die Gesamtverantwortung für die Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe einschließlich der Verantwortung für die Planung auch insoweit, als die Gemeinden Aufgaben nach § 13 Abs. 1 AG KJHG wahrnehmen (§ 13 Abs. 3 Satz 1 AG KJHG).
Auf der Grundlage dieser Vorschriften hat der Antragsgegner zu 2. als örtlicher Träger der Jugendhilfe mit der Antragsgegnerin zu 1., der Beigeladenen und anderen Städten und Gemeinden eine Vereinbarung über die Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der öffentlichen Jugendhilfe - Kinderbetreuung - geschlossen. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 dieser Vereinbarung übernehmen die Gemeinden Aufgaben der Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen nach dem Sozialgesetzbuch VIII (SGB VIII) und nach dem Gesetz über Tageseinrichtungen für Kinder (KiTaG). In § 1 Abs. 2 der Vereinbarung ist festgelegt, dass dem Antragsgegner zu 2. als örtlichem Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Gesamtverantwortung für die Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe einschließlich der Verantwortung für die Planung auch insoweit obliegt, als die Gemeinden örtliche Aufgaben der öffentlichen Jugendhilfe wahrnehmen. §§ 3 und 4 der Vereinbarung sehen ein Verfahren zur Aufnahme von Kindern in Kindertagesstätten außerhalb der Gemeinde ihres Wohnsitzes vor.
Durch diese Vereinbarung wird lediglich die verwaltungsmäßige Abwicklung der Aufgaben der öffentlichen Jugendhilfe geregelt. Damit ist jedoch keine Verlagerung von Kompetenzen (Delegation) in dem Sinne verbunden, dass nunmehr die Antragsgegnerin zu 1. als örtliche Trägerin der Jugendhilfe handelt und der Anspruch auf einen Kindergartenplatz ihr gegenüber geltend zu machen ist. Eine solche Kompetenzverlagerung wäre auch mit § 13 Abs. 1 und 3 AG KJHG und § 69 Abs. 6 SGB VIII nicht vereinbar. Aus diesen Regelungen geht eindeutig hervor, dass nur eine Beteiligung der Gemeinden an der verwaltungsmäßigen Durchführung der dem Landkreis obliegenden Aufgaben der öffentlichen Jugendhilfe ermöglicht werden soll, während die Gesamtverantwortung für die Erfüllung der Aufgaben und damit auch die Zuständigkeit beim Landkreis als örtlichem Träger der Jugendhilfe verbleibt (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 27.11.1996 - 4 M 4787/96 -, FEVS 47, 248). Gegner eines Anspruchs auf einen Kindergartenplatz ist daher der Landkreis als örtlicher Träger der öffentlichen Jugendhilfe und nicht die kreisangehörige Gemeinde (siehe auch: 12. Senat des Nds. OVG, Beschl. v. 9.12.2005 - 12 ME 422/05 -; Wiesner, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, Kommentar, 3. Aufl., § 24 Rn. 30, § 69 Rn. 49 ff.; LPK- SGB VIII, § 24 Rn. 37, § 69 Rn. 11, 11a).
Da sich somit der Anspruch der Antragstellerin auf einen Kindergartenplatz nach § 12 Abs. 1 Satz 1 KiTaG i.V.m. § 24 SGB VIII nicht gegen die Antragsgegnerin zu 1., sondern gegen den Antragsgegner zu 2. richtet, ist die Beschwerde der Antragsgegnerin zu 1. gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts begründet.
2.
Die Antragstellerin hat ihr Begehren hilfsweise auch gegenüber dem Antragsgegner zu 2. geltend gemacht. Insofern hat ihr Antrag Erfolg.
Die Antragstellerin hat glaubhaft gemacht, dass sowohl der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO erforderliche Anordnungsanspruch als auch der ebenfalls notwendige Anordnungsgrund vorliegen.
Die Antragstellerin kann von dem Antragsgegner zu 2. nach § 12 Abs. 1 Satz 1 KiTaG i.V.m. § 24 SGB VIII verlangen, dass dieser die notwendigen Maßnahmen ergreift, um sicherzustellen, dass für sie vorläufig ein Kindergartenplatz in der Kindertagesstätte A. der Beigeladenen zur Verfügung gestellt wird. Denn der Anspruch der Antragstellerin auf den Besuch eines Kindergartens ist nicht bereits dadurch erfüllt, dass ihr von der Antragsgegnerin zu 1. ein Platz in der von dieser betriebenen Kindertagesstätte B. zur Verfügung gestellt worden ist. Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII haben die Leistungsberechtigten das Recht, zwischen Einrichtungen und Diensten verschiedener Träger zu wählen und Wünsche hinsichtlich der Gestaltung der Hilfe zu äußern. Der Wahl und den Wünschen soll nach § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII entsprochen werden, sofern dies nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist. Dieses Wunsch- und Wahlrecht führt hier dazu, dass die Antragstellerin einen Platz in der Kindertagesstätte A. der Beigeladenen beanspruchen kann.
Die Eltern der Antragstellerin haben nachvollziehbar dargelegt, dass die Kindertagesstätte A. der Beigeladenen mit einer Entfernung von 5,6 km näher an ihrem Wohnsitz liegt als die 8,4 km entfernte, von der Antragsgegnerin zu 1. betriebene Kindertagesstätte B., sie die Kindertagesstätte A. von zuhause bzw. auf dem Weg zu ihren Arbeitsstätten in Wolfsburg und Braunschweig schneller erreichen können, in A. sich die für sie nächstgelegenen Einkaufsmöglichkeiten, Ärzte, Apotheke usw. befinden, Kinder aus den nahe gelegenen Orten C. und D. ebenfalls diese Kindertagesstätte besuchen, so dass die Pflege von Freundschaften erleichtert wird, und C. und D. zudem über Radwege gut mit dem Fahrrad erreichbar sind. Da der Anspruch auf einen Kindergartenplatz nach § 12 Abs. 1 Satz 4 KiTaG möglichst ortsnah zu erfüllen ist, das Wunsch- und Wahlrecht auch die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Kindererziehung erleichtern soll (vgl. Wiesner, a.a.O., § 24 Rn. 21, § 69 Rn. 50) und zudem Kontakte in der Familie und dem sozialen Umfeld erhalten und gepflegt werden sollen (vgl. § 80 Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII), liegen berechtigte Gründe für die Wahl der Kindertagesstätte A. durch die Antragstellerin vor. Folglich ist dem Wunsch zu entsprechen.
Der Ausübung des Wahlrechts stehen schließlich auch keine unverhältnismäßigen Mehrkosten entgegen. Beide Kindertagesstätten werden von öffentlichen Trägern betrieben und von dem Antragsgegner zu 2. durch pauschalierte Betriebskostenzuschüsse gefördert. Außerdem sieht § 4 Abs. 3 der Vereinbarung zwischen dem Antragsgegner zu 2. und den Städten und Gemeinden vor, dass die Gemeinde, die der Inanspruchnahme eines Platzes in einer Kindertagesstätte außerhalb des Wohnsitzes der Personensorgeberechtigten zugestimmt hat, an die für die in Anspruch genommene Einrichtung zuständige Gemeinde einen pauschalierten Betrag entsprechend der der Vereinbarung beigefügten Tabelle leistet. Durch diese Bestimmung, die auf der Regelung des § 69 Abs. 5 Satz 3 SGB VIII beruht, wird sichergestellt, dass die Ausübung des Wunsch- und Wahlrechts durch einen Finanzausgleich zwischen den Gemeinden bei der Aufnahme gemeindefremder Kinder flankiert wird (vgl. Wiesner, a.a.O., § 69 Rn. 51). Da davon auszugehen ist, dass die Antragsgegnerin zu 1. an die Beigeladene einen Pauschalbetrag zum Ausgleich der Betriebskostenzuschüsse zu zahlen hat, entstehen keine unverhältnismäßigen Mehrkosten.
Da der Antragstellerin nicht zuzumuten ist, den Ausgang des Klageverfahrens abzuwarten, ist auch der erforderliche Anordnungsgrund zu bejahen.