Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 11.12.2008, Az.: 6 A 6291/06
Anspruch einer 76 Jahre alten auf den Beistand und die Betreuung durch ihren im Bundesgebiet lebenden deutschen Sohn angewiesenen Ausländerin auf Erteilung eines Aufenthaltsrechts; Voraussetzungen für ein rechtliches Abschiebungshindernis aus Art. 6 Abs. 1 GG; Verdichtung des behördliche Ermessens in § 25 Abs. 1 S. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) und § 5 Abs. 3 S. 2 AufenthG zu einem Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis; Voraussetzungen für eine besonders schutzwürdige Beistandsgemeinschaft nach Art. 6 Abs. 1 GG
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 11.12.2008
- Aktenzeichen
- 6 A 6291/06
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2008, 32240
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2008:1211.6A6291.06.0A
Verfahrensgang
- nachfolgend
- VG Hannover - 11.12.2008 - AZ: 6 A 6291/06
Rechtsgrundlagen
- Art. 6 Abs. 1 GG
- § 5 Abs. 3 S. 2 AufenthG
- § 25 Abs. 5 AufenthG
Amtlicher Leitsatz
Ist eine 76 Jahre alte Ausländerin auf den Beistand und die Betreuung durch ihren im Bundesgebiet lebenden deutschen Sohn angewiesen, verdichtet sich das behördliche Ermessen in § 25 Abs. 1 Satz 1 und § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zu einem Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis.
Rechtliches Abschiebungshindernis aus Art. 6 Abs. 1 GG im Fall einer Ausländerin, die auf die Beistandsgemeinschaft mit Ihrem erwachsenen Sohn in Deutschland angewiesen ist
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen.
Die am X.X.1932 in D. /Irak geborene Klägerin ist irakische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit. Sie reiste am X.X.1999 in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am X.X.1999 beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Dazu erklärte sie im Rahmen ihrer Anhörung, dass sie vor ihrer Ausreise aus dem Irak allein in ihrem Haus in D. gelebt habe. Ihr Ehemann sei 1984 gestorben, ihr am X.X.X. geborener Sohn E. F. lebe als politischer Flüchtling in Deutschland. Sie habe keine weiteren Kinder. In D. lebe nur noch ihr älterer Bruder, der sehr krank sei und an Herzschwäche leide. Sie selbst sei dringend pflegebedürftig und wolle von ihrem in Deutschland lebenden Sohn und ihrer Schwiegertochter gepflegt werden.
Das Bundesamt lehnte zwar mit Bescheid vom 04.02.2000 das Asylbegehren der Klägerin ab, gewährte ihr aber zugleich Abschiebungsschutz wegen drohender politischer Verfolgung im Irak. Dazu heißt es, der Klägerin drohe bereits wegen des gestellten Asylantrages im Falle ihrer Rückkehr in den Irak politische Verfolgung. Sie habe auch keine innerstaatliche Fluchtalternative im Irak, weil außer ihrem pflegebedürftigen Bruder dort keine Verwandten mehr lebten. Ohne männliche Verwandte werde die 67 Jahre alte Klägerin in eine existenzbedrohende Lage geraten.
Auf die Klage des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten hob das VG Münster mit Urteil vom 02.08.2004 (10 K 447/00.A) den Bescheid des Bundesamtes hinsichtlich des gewährten Abschiebungsschutzes auf, weil der Klägerin zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Irak keine vom irakischen Staat oder von einer staatsähnlichen Organisation zu verantwortende politische Verfolgung mehr drohe. Ein Rechtsmittel wurde gegen dieses Urteil nicht eingelegt.
Das Bundesamt prüfte daraufhin, ob der Klägerin aus anderen Gründen, insbesondere wegen ihres Gesundheitszustandes, Abschiebungsschutz zu gewähren sei. Die Klägerin legte in diesem Zusammenhang dem Bundesamt mehrere ärztliche Atteste vor, die u. a. einen Bluthochdruck, ein Wirbelsäulensyndrom und eine Herzinsuffizienz auswiesen. Das Bundesamt lehnte es mit Bescheid vom 15.12.2004 ab, der Klägerin Abschiebungsschutz zu gewähren, forderte sie zur Ausreise aus dem Bundesgebiet auf und drohte ihr die Abschiebung in den Irak an. Dazu heißt es im Wesentlichen, die vorgelegten Atteste belegten nicht hinreichend, dass sich das Krankheitsbild der Klägerin bei einer Rückkehr in den Irak deutlich verschlechtern würde. Außerdem könne davon ausgegangen werden, dass sie gemeinsam mit ihrem Sohn in den Irak zurückkehre. Der Widerruf seiner Flüchtlingsanerkennung werde geprüft.
Die Klägerin erhob gegen diesen Bescheid Klage zum Verwaltungsgericht Münster. Das Verwaltungsgericht Münster wies mit Urteil vom 10.02.2006 (10 K 4/05.A) die Klage ab und führte dazu aus, die Klägerin habe nicht belegt, dass sich ihr Krankheitszustand im Irak verschlimmern werde. Sie befinde sich in einer gewiss bedauernswerten Situation, die sie mit vielen anderen älteren Menschen teile, die unter den derzeit obwaltenden Umständen im Irak zurecht kommen müssten. Auch könne ihr Sohn sie notfalls in den Irak begleiten, um ihr dort die erforderliche Hilfe und Unterstützung zu gewähren. Die Klägerin legte gegen dieses Urteil - soweit ersichtlich - kein Rechtsmittel ein.
Die Klägerin hielt sich während dieses Klageverfahrens schon seit längerer Zeit besuchsweise bei ihrem Sohn in Hannover auf. Die Stadt G. hatte dazu mit Schreiben vom 03.09.2004 erklärt, dass sich die Klägerin aufgrund ihres Alters und ihrer Erkrankung bei ihrem in Hannover lebenden Sohn aufhalte. Sie sei auf Begleitung und Pflege angewiesen. Mit Bescheid der ZASt Braunschweig vom 14.03.2005 wurde die Umverteilung der Klägerin von G. nach Hannover gestattet. Mit Urkunde der Landeshauptstadt Hannover vom 26.08.2005 wurde ihr Sohn E. F. eingebürgert und erlangte dadurch die deutsche Staatsangehörigkeit. Dieser Umstand wurde - soweit ersichtlich - dem VG Münster vor Erlass des Urteils vom 10.02.2006 nicht mitgeteilt.
Nach Abschluss des Klageverfahrens vor dem VG Münster beantragte die Klägerin mit Schreiben vom 15.03.2006 bei der Beklagten, ihr eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen. Sie legte dazu mehrere ärztliche Atteste vor und machte geltend, die Abschiebung in den Irak sei wegen ihres Gesundheitszustandes nicht möglich. Die Beklagte holte daraufhin ein amtsärztliches Gutachten zur Frage der Reise- und Transportfähigkeit der Klägerin ein. Der Fachbereich Gesundheit der Region Hannover (Fachärztin für öffentliches Gesundheitswesen und Sozialmedizin H.) erstellte aufgrund der Untersuchung am 24.07.2006 am gleichen Tage , dem 24.07.2006, ein Gutachten, in dem es u. a. heißt:
"II. Diagnosen:
- Koronare Herzerkrankung, Herzinsuffizienz
- Arterielle Hypertonie
- Hyperlipidämie
- Spondylose der Wirbelsäule
- Cholecystolithiasis
- Depression
- AltersschwächeIII. Vorgeschichte:
Frau A. stammt aus dem Irak und lebt seit Jahren in Deutschland in der Familie ihres Sohnes. Sie spricht keinerlei Deutsch.
Da Frau A. über keinerlei Sprachkenntnisse verfügt, wurde sie von ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter begleitet, die auch Angaben zu den Beschwerden, Erkrankungen und Medikamenten machten.
Frau A. ist nicht mehr in der Lage, sich allein zu versorgen, da sie am ganzen Körper Schmerzen habe. Sie könne nicht richtig laufen und den linken Arm könne sie nicht richtig heben. Die Verrichtungen des täglichen Lebens könne sie nicht mehr eigenständig durchführen. Die Sehleistung sei erheblich eingeschränkt, eine Operation sei notwendig.
IV: Befund:
Bei der hiesigen Untersuchung ergaben sich die folgenden wesentlichen körperlichen/seelischen Einschränkungen:
- Alterseindruck älter, reduzierter Allgemeinzustand, guter Ernährungszustand
- Rundwüchsiger Körperbau mit schlaffer Muskulatur
- Erhöhter Blutdruck (180/80 mm Hg)
- Eingeschränkte Atembreite
- Leichte Wirbelsäulenverkrümmung, Klopfschmerzen über die gesamte WS, Bewegungseinschränkung
- Kein aktives Heben des linken Armes
- Gestörtes, unsicheres Gangbild, linkes Bein nachziehend
- Herabgesetzte Sehleistung
- Psyche nicht sicher beurteilbarV. Beurteilung:
Aus amtsärztlicher Sicht liegt bei Frau A. für den Fall der Rückführung in das Heimatland Reisefähigkeit vor. Allerdings benötigt sie Unterstützung, ggf. einen Rollstuhl.
Es wird von hiesiger Seite noch darauf hingewiesen, dass Frau A. im Irak wohl keine Angehörigen mehr hat und deshalb auf sich selber gestellt wäre. Eine alleinige Versorgung ist ausgeschlossen."
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 18.08.2006 den Antrag der Klägerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG ab. Dazu heißt es im Wesentlichen, eine Abschiebung der Klägerin in den Irak sei zwar aus tatsächlichen Gründen nicht möglich. Sie könne aber freiwillig in den Irak ausreisen. Trotz der festgestellten zahlreichen Erkrankungen liege nach der eingeholten amtsärztlichen Stellungnahme keine Reiseunfähigkeit vor. Da die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nicht vorlägen, sei eine Ermessensprüfung nicht erforderlich.
Die Klägerin, die zumindest seit April 2006 geduldet wird , hat am 11.09.2006 Klage erhoben. Sie hat zunächst eine erneute Entscheidung über ihren Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis begehrt. In der mündlichen Verhandlung am 11.12.2008 hat sie dann die Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG beantragt. Das Gericht hat ihren Sohn E. F. in der mündlichen Verhandlung am 11.12.2008 als Zeugen über Art und Umfang ihrer Betreuungsbedürftigkeit vernommen. Wegen der Einzelheiten der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 11.12.2008 verwiesen.
Die Klägerin trägt unter Vorlage von ärztlichen Bescheinigungen des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. I. vom 17.07.2007 und vom 09.09.2008 zur Begründung ihrer Klage vor: Sie sei wegen ihres Alters und zahlreicher Erkrankungen, u. a. Bluthochdruck, Diabetes mellitus Typ II, Wirbelsäulenveränderungen, Altersschwäche und schlechtem Sehvermögen auf ständige Betreuung und Unterstützung angewiesen. Sie wohne zusammen mit ihrem Sohn E. F., ihrer Schwiegertochter und vier Kindern in einer 3-Zimmer-Wohnung in Hannover. Das Zimmer teile sie mit ihrer Enkelin J.. Sie werde abwechselnd von ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter gepflegt, die beide berufstätig seien. Sie selbst sei nicht in der Lage, die Kleidung zu wechseln und sich Essen zuzubereiten. Sie könne sich nur mit fremder Hilfe fortbewegen und sei auch bei der körperlichen Pflege auf Hilfe angewiesen. Diese Hilfe könne nach Lage der Dinge nur von ihrem in Deutschland lebenden Sohn und ihrer Schwiegertochter geleistet werden.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 18.08.2006 zu verpflichten, ihr auf ihren Antrag vom 15.03.2006 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie erwidert: Sie habe bislang eine Betreuungsbedürftigkeit der Klägerin nicht geprüft, weil die Klägerin erst unmittelbar vor der mündlichen Verhandlung geltend gemacht habe, zwingend auf die Hilfe ihres eingebürgerten Sohnes angewiesen zu sein. Die Hinweise und Anfragen des Gerichts, insbesondere auch in dem Beschluss vom 14.11.2008, mit dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden sei, hätte sie nicht zu weiteren Ermittlungen veranlasst. Im Übrigen sei maßgebend, in welchem Umfange ihr Sohn tatsächlich Betreuungsleistungen erbringe. Er übe eine Vollzeittätigkeit und zusätzlich zwei Minijobs aus, so dass ihm schon aus zeitlichen Gründen eine umfassende Betreuung seiner Mutter, der Klägerin, nicht möglich sein dürfte. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme in der mündlichen Verhandlung bezweifle sie allerdings nicht mehr, dass der Sohn der Klägerin in erheblichem Maße Betreuungsleistungen erbringe. Soweit die Klägerin geltend mache, ihr Gesundheitszustand lasse eine Rückkehr in den Irak nicht zu, sei darüber nicht von ihr, sondern von dem Bundesamt zu entscheiden. Sie habe insoweit die anwaltlich vertretene Klägerin auch ausdrücklich darauf hingewiesen, einen Asylfolgeantrag beim Bundesamt zu stellen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig.
Der Übergang von dem ursprünglich gestellten Bescheidungsbegehren zum Verpflichtungsbegehren ist nur als Erweiterung des Klageantrages und nicht als Klageänderung, die den Voraussetzungen des § 91 Abs. 1 VwGO unterliegt, anzusehen (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl., § 91, Rdnr. 9).
Die Klage ist auch begründet.
Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Die Beklagte ist deshalb unter Aufhebung ihres ablehnenden Bescheides vom 18.08.2006 zur Erteilung einer solchen Aufenthaltserlaubnis zu verpflichten gewesen.
Nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG i. d. F. der Bekanntmachung vom 25.02.2008 (BGBl. I, S. 162), der hier für das Begehren der Klägerin allein in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage, kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, abweichend von § 11 Abs. 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Die Klägerin erfüllt die Voraussetzungen dieser Vorschrift.
Sie ist aufgrund der im Bescheid des Bundesamtes vom 15.12.2004 enthaltenen Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung mit dem Zielstaat Irak vollziehbar ausreisepflichtig. Dieser Bescheid ist mit der rechtskräftigen Abweisung ihrer Klage durch das Urteil des VG Münster vom 10.02.2006 (10 K 4/05.A) bestandskräftig und damit vollziehbar geworden.
Die Klägerin ist entgegen der Ansicht der Beklagten auch die Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich. Der Begriff Ausreise umfasst nach gefestigter Rechtsprechung sowohl die Abschiebung und damit die erzwungene Ausreise als auch die freiwillige Ausreise. Stehen der Abschiebung rechtliche Hindernisse entgegen, so wird dem Ausländer auch die freiwillige Ausreise angesonnen werden können. Im vorliegenden Fall liegt ein rechtliches Ausreisehindernis vor, weil der in Art. 6 Abs. 1 GG garantierte Schutz der Familie einer Abschiebung der Klägerin in den Irak und damit auch ihrer freiwilligen Ausreise in den Irak entgegen steht.
Art. 6 Abs. 1 GG erfasst auch die familiären Bindungen eines volljährigen Kindes zu seinen Eltern. Diesen Bindungen wird zwar dann nicht notwendigerweise der Vorrang vor einwanderungspolitischen Belangen einzuräumen sein, wenn es sich - wie häufig - um eine bloße Begegnungsgemeinschaft handelt. Aus Art. 6 Abs. 1 GG sind aber nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (B. v. 25.10.1995, NVwZ 1996, 1099; B. v. 14.12.1989, NJW 1990, 895 [BVerfG 12.12.1989 - 2 BvR 377/88]; ebenso Nds. OVG, B. v. 01.11.2007, 10 PA 96/07) weitergehende Schutzwirkungen abzuleiten, die auch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gebieten können, wenn ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe des anderen Familienmitgliedes angewiesen ist und sich diese Hilfe nur in der Bundesrepublik Deutschland erbringen lässt.
Die Klägerin ist auf die Lebenshilfe ihres Sohnes E. F. angewiesen. Bereits das von der Beklagten eingeholte amtsärztliche Gutachten vom 24.07.2006 und die dort festgestellten Erkrankungen sprechen dafür, dass die Klägerin auf fremde Betreuungsleistungen angewiesen ist. Sie leidet u. a. an einer Koronaren Herzerkrankung, einem erhöhten Blutdruck, deutlichen Bewegungseinschränkungen und einer herabgesetzten Sehleistung. Diese amtsärztlichen Feststellungen werden auch durch die im Klageverfahren vorgelegten Atteste des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. I. vom 17.07.2007 und vom 09.09.2008 deutlich bestätigt. Dass die Klägerin nicht als pflegebedürftig anerkannt worden ist - ein Anerkennungsantrag ist nicht gestellt worden - steht der Annahme ihrer Betreuungsbedürftigkeit nicht entgegen (vgl. VGH Mannheim, B. v. 05.07.1999, InfAuslR 1999, 414). Der Sohn E. F. erbringt auch in erheblichem Umstand Betreuungs- und Beistandsleistungen für seine Mutter, die Klägerin. Dem steht entgegen der im Schriftsatz der Beklagten vom 02.12.2008 geäußerten Ansicht nicht entgegen, dass der Sohn berufstätig ist. Nach seinen Bekundungen als Zeuge in der mündlichen Verhandlung am 11.12.2008 arbeitet er täglich von 15:00 - 20:30 Uhr sowie zusätzlich am Montag, Mittwoch und Freitag von 9:00 - 10:30 Uhr als Reinigungskraft. Außerdem ist er am Wochenende bei Bedarf als Taxifahrer tätig. Das Bundesverfassungsgericht (B. v. 14.12.1989, NJW 1990, 895 [BVerfG 12.12.1989 - 2 BvR 377/88]) hat dazu bereits entschieden, eine dem besonderen Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG unterfallende Beistandsgemeinschaft werde nicht dadurch ausgeschlossen, dass ein die Lebenshilfe erbringendes Familienmitglied berufstätig ist und die Hilfe nur während seiner Freizeit leisten kann. Die weiteren Ausführungen der Beklagten im Schriftsatz vom 02.12.2008 lassen zudem den Schluss zu, dass von deutlich zu hohen Anforderungen an die von einem Familienmitglied zu leistenden Betreuungsleistungen für das Eingreifen der Schutzwirkung nach Art. 6 Abs. 1 GG ausgegangen wird. Das Bundesverfassungsgericht hat dazu bereits entschieden, dass eine nach Art. 6 Abs. 1 GG besonders schutzwürdige Beistandsgemeinschaft nicht voraussetzt, dass tatsächlich eine Hausgemeinschaft zwischen dem auf Beistandsleistungen angewiesenen Familienmitglied und dem diese Leistungen erbringenden Familienmitglied besteht und dass die Lebenshilfe, die auch die Bewältigung der Probleme des täglichen Lebens umfasst, von anderen Personen erbracht werden kann (B. v. 25.10.1995, NVwZ 1996, 1099). Es ist deshalb entgegen der erkennbaren Annahme der Beklagten im Schriftsatz vom 02.12.2008 für eine nach Art. 6 Abs. 1 GG besonders schutzwürdige Beistandsgemeinschaft nicht erforderlich, dass ein Familienmitglied einem anderen Familienmitglied mehrere Stunden täglich Pflegeleistungen erbringt und dass diese über die Begleitung bei Arzt- und Behördenbesuchen hinausgehen müssen.
Eine nach Art. 6 Abs. 1 GG besonders schutzwürdige Beistandsgemeinschaft zwischen der Klägerin und ihrem Sohn E. F. liegt nach Auffassung des Gerichts zweifelsfrei vor. Dafür spricht bereits, dass ihr Sohn, der Zeuge E. F., seine Mutter in die etwa 64 qm große 3-Zimmer-Wohnung in Hannover aufgenommen hat, für die er auch die Miete zahlt. Eine Hausgemeinschaft ist zwar nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für eine schutzwürdige Beistandsgemeinschaft nicht erforderlich. Die tatsächliche Aufnahme in eine Hausgemeinschaft, die hier auch mit deutlich beengten Wohnverhältnissen verbunden ist, stellt aber bereits ein deutliches Indiz für eine Betreuungsgemeinschaft dar. Mit der Aufnahme in die Wohnung hat der Zeuge seiner Mutter eine gesicherte Unterkunft geboten. Nach seinen glaubhaften und nachvollziehbaren Bekundungen während seiner Zeugenvernehmung am 11.12.2008 erbringt bzw. organisiert er für seine Mutter Hilfestellungen bei Verrichtungen des täglichen Lebens. Diese umfassen insbesondere die Begleitung seiner Mutter bei Arztbesuchen und bei Behördengängen sowie den Einkauf von Kleidung und Lebensmitteln. Dass auch seine Ehefrau, die Schwiegertochter der Klägerin, viele Hilfeleistungen insbesondere bei der körperlichen Pflege, Kleidungswechsel und der Essenszubereitung erbringt, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Aufnahme in die Hausgemeinschaft und beruht im Übrigen darauf, dass der Zeuge berufstätig und deswegen häufig nicht zu Hause ist. Auch die Vertreterin der Beklagten hat in der mündlichen Verhandlung nicht mehr geltend gemacht, dass die vom Zeugen E. F. selbst erbrachten oder durch Aufnahme in die Hausgemeinschaft organisierten Hilfeleistungen nach Art und Umfang nicht für die Annahme einer nach Art. 6 Abs. 1 GG schutzwürdigen Beistandsgemeinschaft ausreiche.
Die von dem Zeugen E. F. seiner Mutter, der Klägerin, geleistete Lebenshilfe kann nur in der Bundesrepublik Deutschland erbracht werden. Der Zeuge ist durch Urkunde der Landeshauptstadt Hannover vom 26.08.2005 eingebürgert und damit deutscher Staatsangehöriger geworden. Als deutscher Staatsangehöriger kann ihm nicht angesonnen werden, seine Mutter in den Irak zu begleiten und dort die notwendigen Hilfeleistungen zu erbringen. Davon geht auch die Beklagte aus. Die gegenteilige Annahme im Urteil des VG Münster vom 10.02.2006 (10 K 4/05.A) beruht erkennbar darauf, dass dem Gericht von den Beteiligten, insbesondere der auch damals anwaltlich vertretenen Klägerin, nicht mitgeteilt worden ist, dass ihr Sohn deutscher Staatsangehöriger geworden ist. Dass die Klägerin im Irak andere Verwandte hat, die sie betreuen bzw. die notwendige Lebenshilfe leisten können, ist weder ersichtlich noch vorgetragen worden. Das Bundesamt ist bereits in dem später aufgehobenen Bescheid vom 04.02.2000 davon ausgegangen, dass die Klägerin keine Verwandten im Irak hat, die sie betreuen könnten. Auch die Beklagte hat nicht aufgezeigt, dass die Klägerin im Irak Verwandte hat, die sie nicht aufnehmen könnten.
Das damit aus Art. 6 Abs. 1 GG abzuleitende und zu Gunsten der Klägerin zu berücksichtigende rechtliche Abschiebungshindernis ist von der Beklagten im Rahmen dieses ausländerrechtlichen Verfahrens und nicht vom Bundesamt zu beachten. Es handelt sich um ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, weil es nicht seine spezifische Ursache in den Verhältnissen des Heimatlandes Irak der Klägerin, sondern seine Ursache in den im Bundesgebiet bestehenden familiären Bindungen der Klägerin hat (vgl. dazu auch VG Hannover, U. v. 23.05.2007, 6 A 6403/04).
Angesichts des Alters und des auch amtsärztlich festgestellten Gesundheitszustandes der Klägerin ist mit dem Wegfall des Ausreisehindernisses in absehbarer Zeit nicht zu rechnen. Es ist weder ersichtlich noch vorgetragen worden, dass sich der Gesundheitszustand der jetzt 76 1/2 Jahre alten Klägerin soweit bessern wird, dass sie alleine und ohne unterstützende Hilfeleistung im Irak leben kann.
Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG steht zwar im Ermessen der Behörde. Ermessenserwägungen hat die Beklagte im angefochtenen Bescheid vom 18.08.2006 ausdrücklich nicht angestellt, weil sie zu Unrecht angenommen hat, die Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG seien in der Person der Klägerin nicht erfüllt. Sie ist aber dennoch entsprechend dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag der Klägerin zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und nicht nur - wie ursprünglich beantragt - zur Neubescheidung über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu verpflichten gewesen, weil im vorliegenden Fall eine andere Entscheidung als die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG nicht in Betracht kommt.
Dafür spricht zunächst, dass die Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG erteilt werden soll, wenn die Abschiebung seit 18 Monaten ausgesetzt ist. Die Abschiebung der Klägerin ist nach Aktenlage (Bl. 98 der Beiakte A) zumindest seit April 2006 und damit zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 11.12.2008 seit über 18 Monaten ausgesetzt. Die Beklagte hat auch ansonsten keine Gründe vorgetragen, die eine Versagung der Aufenthaltserlaubnis aus Ermessensgründen als rechtlich zulässig erscheinen lassen. Dass die Klägerin ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenen Mitteln bestreiten kann und damit den Regelversagungsgrund des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG erfüllt - darauf hat die Vertreterin der Beklagten in der mündlichen Verhandlung andeutungsweise hingewiesen - steht der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG im vorliegenden Fall nicht entgegen. Die Ausländerbehörde kann nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG in den Fällen der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 5 AufenthG von der Anwendung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG und damit auch des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG absehen. Der Klägerin wird angesichts ihres Alters und ihres Gesundheitszustandes nicht angesonnen werden können, sich um eine Erwerbstätigkeit mit bedarfsdeckendem Einkommen zu bemühen. Dass dies von der Beklagten anders gesehen werden könnte, ist von der Vertreterin der Beklagten in der mündlichen Verhandlung nicht geltend gemacht worden. Die Beklagte hat zudem durch Vorlage eines bis zum 07.06.2008 gültigen irakischen Reisepasses der Serie S und des Antrages vom 30.07.2008 auf Ausstellung eines irakischen Reisepasses der Serie G belegt, dass sie bislang ihrer Passpflicht genügt bzw. sich um die Ausstellung eines neuen irakischen Reisepasses bemüht hat (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG). Die Beklagte hat insoweit auch keine Einwände erhoben. Auch im Übrigen sind keine Gründe erkennbar oder vorgetragen worden, die es unter Berücksichtigung des durch Art. 6 Abs. 1 GG garantierten Schutzes der Familie rechtfertigen könnten, der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu versagen.