Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 25.10.2023, Az.: 1 B 3578/23

Abschiebungsandrohung; Rückkehrentscheidung; Abschiebungsandrohungen bei Ablehnung von Asylanträgen von Mitgliedern einer Kernfamilie zu unterschiedlichen Zeitpunkten

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
25.10.2023
Aktenzeichen
1 B 3578/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 40296
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2023:1025.1B3578.23.00

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Inlandsbezogene Kindeswohlbelange i. S. v. Art. 5 Buchst. a der Richtlinie 2008/115/EG dürfen vor Erlass einer asylrechtlichen Abschiebungsandrohung nicht ausgeblendet werden; dasselbe gilt für familiäre Belange i. S. v. Art. 5 Buchst. b der Richtlinie 2008/115/EG eines erwachsenen Elternteils, wenn auch eine Rückkehrentscheidung gegenüber einem Minderjährigen in Rede steht (vgl. bereits Beschl. d. Einzelrichters v. 17.10.2023 - 1 B 2537/23 -, juris).

  2. 2.

    Bei bloß unterschiedlichen Entscheidungszeitpunkten des Bundesamtes über die Asylanträge von Mitgliedern einer Kernfamilie ist es geboten aber auch ausreichend, hinsichtlich der Abschiebungsandrohungen und deren Vollziehbarkeit einen "verfahrensmäßigen Gleichklang" herzustellen.

Tenor:

Den Antragstellerinnen wird für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt B. aus B-Stadt bewilligt.

Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerinnen - 1 A 3575/23 - gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid der Antragsgegnerin vom 10. Mai 2023 wird mit der Maßgabe angeordnet, dass sie abweichend von § 80b Abs. 1 VwGO bereits endet, wenn eine von der Antragsgegnerin gegenüber dem Ehemann bzw. Vater der Antragstellerinnen erlassene Abschiebungsandrohung vollziehbar wird.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe hat Erfolg. Prozesskostenhilfe erhält gemäß § 166 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Der Eilantrag der prozesskostenarmen Antragstellerinnen bietet hinreichende Aussicht auf Erfolg, wie sich aus den nachfolgenden Ausführungen ergibt.

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes, über den nach § 76 Abs. 4 AsylG der Einzelrichter entscheidet, hat Erfolg. Den allgemein gehaltenen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung versteht der Einzelrichter als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die im Bescheid vom 10. Mai 2023 enthaltene Abschiebungsandrohung; (nur) insoweit ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO und § 36 Abs. 3 AsylG statthaft und auch ansonsten zulässig. Der Antrag ist auch überwiegend begründet.

Nach Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG und § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Es bestehen zwar keine ernstlichen Zweifel daran, dass die Anträge der Antragstellerinnen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und subsidiären Schutz zu Recht nach § 30 AsylG als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurden. Im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) bestehen insoweit an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Bewertungen des Bescheides vernünftigerweise keine Zweifel. Die dort getroffenen Offensichtlichkeitsentscheidungen können vielmehr im Eilverfahren mit der erforderlichen Richtigkeitsgewähr bestätigt werden. Gleiches gilt hinsichtlich der Feststellung des Nichtvorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Es wird diesbezüglich nach § 77 Abs. 3 AsylG vollumfänglich auf die Ausführungen des angefochtenen Bescheides Bezug genommen.

Der Einzelrichter teilt insbesondere die Einschätzung der Antragsgegnerin, dass es den Antragstellerinnen zuzumuten ist, bei etwaigen Bedrohungen durch den Mann der ehemaligen Geliebten des Ehemannes bzw. Vaters den Schutz staatlicher georgischer Behörden in Anspruch zu nehmen. Von einer generellen Schutzunwilligkeit oder Schutzunfähigkeit des georgischen Staates bei solchen aus persönlichen Beziehungen herrührenden Problemen kann nicht ausgegangen werden. In Rechnung zu stellen ist insoweit, dass staatlicher Schutz nicht lückenlos und absolut sicher sein muss, sondern es ausreichend ist, wenn dieser generell gewährleistet ist (vgl. § 3d Abs. 2 AsylG; BVerwG, Urt. v. 05.07.1994 - 9 C 1/94 -, juris Rn. 9). Zudem ist aber auch eine ernsthafte Bedrohungslage gar nicht erkennbar geworden. Allein der Umstand, dass der Mann der ehemaligen Geliebten des Ehemannes bzw. Vaters vor der Schule der Antragstellerin zu 2. aufgetaucht sein und dieser Angst gemacht haben soll, lässt nicht den Rückschluss zu, dass sich die Antragstellerinnen tatsächlich in einer ernsthaften Bedrohungssituation befanden. Nähere Ausführungen zu diesem Vorfall wurden nicht gemacht; die Angaben der Antragstellerin zu 1. und ihres Ehemannes zu weiteren von dem Mann ausgehenden Bedrohungen sind zudem widersprüchlich. Es kann offenbleiben, ob die Antragstellerin zu 1. nach dem von ihr geschilderten Vorfall gehalten gewesen wäre, eine Anzeige bei der Polizei zu erstatten. Ob und welche Maßnahmen im Falle einer Anzeige zu treffen gewesen wären, wäre jedenfalls innerhalb des georgischen Rechtssystems zu klären gewesen. Unter Annahme einer realistischen Rückkehrsituation ist zudem von einer gemeinsamen Rückkehr der Kernfamilie auszugehen, die aus den Antragstellerinnen und ihrem Ehemann bzw. Vater besteht, dessen Asylverfahren infolge der Einstufung des Asylantrags als Zweitantrag gesondert geführt wird und noch nicht abgeschlossen ist. Die Antragstellerinnen stehen nach einer Rückkehr bei etwaigen Problemen mit dem Mann der ehemaligen Geliebten ihres Ehemannes bzw. Vaters also nicht alleine da. Es kommt hinzu, dass auch zahlreiche Verwandte in Georgien leben. Vor diesem Hintergrund wird sich die Familie auch ihren Lebensunterhalt erwirtschaften und ihre Existenzgrundlage sicherstellen können. Dies gilt auch dann, wenn die Familie nicht nach Kutaissi, sondern in einen anderen Landesteil Georgiens zurückkehren würde, was ihnen zugleich internen Schutz bieten würde, wenn sie die Probleme mit dem Mann der ehemaligen Geliebten des Ehemannes bzw. Vaters tatsächlich ernsthaft als Belastung empfinden würden.

Ernstliche Zweifel bestehen allerdings an der Rechtmäßigkeit der mit der ablehnenden Entscheidung der Antragsgegnerin nach § 34 AsylG verbundenen und mit einer Ausreisefrist von einer Woche verbundenen Abschiebungsandrohung. Diese resultieren daraus, dass das Asylverfahren des Ehemannes bzw. Vaters noch nicht abgeschlossen ist, was aus der Antwort der Antragsgegnerin vom 20. Oktober 2023 auf eine entsprechende Nachfrage des Einzelrichters hervorgeht. In Anbetracht der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Beschl. v. 15.02.2023, C -484/22) ist es ernstlich zweifelhaft, ob gegenüber einem Teil einer (aus Eltern und minderjährigen Kindern bestehenden) Kernfamilie eine Abschiebungsandrohung mit kurzer Ausreisefrist ergehen darf, während das Bundesamt im Asylverfahren eines anderen Teils der Kernfamilie noch keine Entscheidung getroffen hat. Der Einzelrichter hat zu einer Konstellation, in der die Klage der Ehefrau bzw. Mutter infolge einer gerichtlichen Eilentscheidung aufschiebende Wirkung entfaltet und die (später gestellten) Anträge des Ehemannes und des Sohnes als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurden, Folgendes ausgeführt (Beschl. v. 17.10.2023 - 1 B 2537/23 -, juris):

"Nach der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auf eine Vorlage des Bundesverwaltungsgerichts ist Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG dahin auszulegen, dass er verlangt, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen, und es nicht genügt, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung deren Vollzugs zu erwirken (Beschl. v. 15.02.2023 - C-484/22 -, Rn. 28). Diesen Anforderungen wird die im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes erlassene Abschiebungsandrohung - bei der es sich um eine Rückkehrentscheidung [i. S. d.] Richtlinie 2008/115/EG handelt (vgl. etwa BVerwG, Beschl. v. 08.06.2022 - 1 C 24/21 -, juris Rn. 18) - voraussichtlich insgesamt nicht gerecht.

Dies betrifft zunächst die gegenüber dem minderjährigen Antragsteller zu 2. erlassene Abschiebungsandrohung. Es ist von einer nach Art. 6 GG und Art. 7 der EU-Grundrechte-Charta bzw. Art. 8 EMRK geschützten Familiengemeinschaft des Antragstellers zu 2. auch mit seiner Mutter auszugehen, die derzeit nicht abgeschoben werden kann. Der Einzelrichter verkennt dabei nicht, dass die Antragsteller fast ein halbes Jahr später als die Mutter bzw. Ehefrau nach Deutschland eingereist sind und die Mutter lediglich von der angeordneten aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die ihr gegenüber erlassene Abschiebungsandrohung profitiert. Diese Umstände ändern zum einen nichts an einer aktuell gelebten familiären Lebensgemeinschaft. Zum anderen erfolgte die Trennung der Familie durch die Ausreise der Mutter, weil diese in Georgien aufgrund einer weit fortgeschrittenen Krebserkrankung zu versterben drohte. Den unionsrechtlichen Anforderungen aus Art. 24 der EU-Grundrechte-Charta und des Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG genügt es voraussichtlich nicht, den Antragsteller zu 2. auf die Erteilung einer Duldung durch die Ausländerbehörde zu verweisen. Aus Art. 24 Abs. 2 der EU-Grundrechte-Charta, wonach bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss, ergibt sich als unmittelbar geltende unionsrechtliche Vorgabe, dass das Kindeswohl "in allen Stadien des Verfahrens" zu berücksichtigen ist (so ausdrücklich EuGH, Beschl. v. 15.02.2023 - C-484/22 -, Rn. 24 m. w. N.). Damit ist es voraussichtlich nicht zu vereinbaren, die Beziehung des Antragstellers zu 2. zu seiner Mutter im Rahmen der Abschiebungsandrohung zunächst auszublenden und als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis allein der Prüfungszuständigkeit der Ausländerbehörde zuzuordnen. Das nationale Recht, nach der das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nur zielstaatsbezogene Umstände zu prüfen hat, während inlandsbezogene Umstände der Vollzugsentscheidung der Ausländerbehörde einschließlich der dagegen eröffneten Rechtsschutzmöglichkeiten vorbehalten bleiben (vgl. etwa Berlit, jurisPR-BVerwG 15/2022 Anm. 1; BVerwG, Beschl. v. 10.10.2012 - 10 B 39/12 -, juris), dürfte unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bei der Ausblendung von inlandsbezogenen Kindeswohlbelangen vor Erlass der Abschiebungsandrohung ein Umsetzungsdefizit bezüglich der Richtlinie 2008/115/EG aufweisen, so dass diese insoweit unmittelbar gilt.

Die rechtliche Betrachtungsweise des Europäischen Gerichtshofs kommt nach Auffassung des Einzelrichters im Ergebnis auch dem Antragsteller zu 1. zugute, auch wenn es sich bei der ihm gegenüber erlassenen Abschiebungsandrohung nicht um eine Rückkehrentscheidung gegenüber einem Minderjährigen handelt. Kindeswohlbelange - also solche des Antragstellers zu 2. - sind durch die Abschiebungsandrohung gegenüber seinem Vater - dem Antragsteller zu 1. - lediglich mittelbar berührt, denn es geht insoweit nur um die Frage, in welchem Verfahrensstadium und von welcher Behörde die familiären Bindungen eines erwachsenen Elternteils zu berücksichtigen sind. Der Antragsteller zu 2. läuft hingegen ersichtlich nicht Gefahr, dass der Antragsteller zu 1. ohne Berücksichtigung seiner Bindung an den Antragsteller zu 2. nach Georgien abgeschoben wird. Gleichwohl wird es nicht bei der nach nationalem Recht vorgesehenen Prüfung inlandsbezogener familiärer Belange allein durch die Ausländerbehörde bleiben können.

Nach Auffassung des Einzelrichters spricht bei Abwägung der maßgeblichen Argumente Überwiegendes für die Sichtweise, innerhalb einer Kernfamilie keine Differenzierung vorzunehmen, wenn - wie hier - auch eine Rückkehrentscheidung gegenüber einem Minderjährigen in Rede steht; zugleich dürften die Folgen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs aber auf diese Situation zu beschränken sein: Die Idee einer "zusammengesetzten Rückkehrentscheidung" aus Abschiebungsandrohung des Bundesamtes einerseits und Nichtduldung durch die Ausländerbehörde andererseits hat in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ausdrücklich keine Akzeptanz gefunden, soweit es um eine Rückkehrentscheidung gegenüber einem Minderjährigen und die in Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG genannten Belange geht. Dabei hat der der Europäische Gerichtshof allerdings eine weitergehende Antwort gegeben, als sie im Vorlagebeschluss überhaupt erfragt wurde. Die zugrundeliegende Vorlagefrage des Bundesverwaltungsgerichts (Beschl. v. 08.06.2022 - 1 C 24/21 -, juris) bezog sich nämlich lediglich auf die Situation von Minderjährigen, deren Eltern aus rechtlichen Gründen auf unabsehbare Zeit nicht zurückgeführt werden können. Unabhängig von der Frage, ob der Europäische Gerichtshof bei der über die konkrete Vorlagefrage hinausgehenden Antwort dem auch im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV geltenden Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nach Art. 5 EUV hinreichend Rechnung getragen hat, ist nach Auffassung des Einzelrichters keine Ausdehnung der tenorierten Entscheidung dahingehend geboten, dass per se für alle in Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG genannten Belange von einer fehlerhaften Richtlinienumsetzung und einem daraus resultierenden Selbstvollzug der Richtlinie auszugehen ist, sondern nur dann, wenn es zumindest auch um Kindeswohlbelange i. S. v. Art. 5 Buchst. a der Richtlinie 2008/115/EG geht. Nur insoweit existiert nämlich mit Art. 24 Abs. 2 der EU-Grundrechte-Charta eine unmittelbar Geltung beanspruchende Vorschrift, die eine möglichst frühzeitige Berücksichtigung - also schon vor Erlass einer Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt - vorgibt. Die familiären Belange i. S. v. Art. 5 Buchst. b der Richtlinie 2008/115/EG sind für sich genommen nicht in der Weise mit einer konkreten Verfahrensvorgabe "grundrechtlich aufgeladen", wie es bei Kindeswohlbelangen infolge des Art. 24 Abs. 2 der EU-Grundrechte-Charta der Fall ist. Um Kindeswohlbelange geht es - mittelbar - aber auch, wenn mehrere Abschiebungsandrohungen gegenüber den Mitgliedern einer Kernfamilie in Rede stehen und sich zumindest eine davon auch auf einen Minderjährigen bezieht. In einer solchen Situation können die familiären Belange der Eltern (Art. 5 Buchst. b der Richtlinie 2008/115/EG) nämlich gleichsam als Spiegelbild von Kindeswohlbelangen (Art. 5 Buchst. a Richtlinie 2008/115/EG) betrachtet werden (vgl. auch OVG Magdeburg, Beschl. v. 11.09.2023 - 2 L 38/20 -, juris Rn. 59). Wie es zu bewerten ist, wenn es ausschließlich um familiäre Belange von Erwachsenen geht oder wenn ein minderjähriges Kind überhaupt nicht Adressat einer Rückkehrentscheidung ist, sondern lediglich ein Elternteil, bedarf vorliegend keiner Vertiefung. Es spricht indessen durchaus einiges dafür, dass es insoweit bei der im nationalen Recht vorgesehenen Aufspaltung zwischen zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten und inlandsbezogenen Abschiebungshindernissen bleiben kann. Dass das Bundesamt seit einigen Monaten offenbar dazu übergegangen ist, im Rahmen der Abschiebungsandrohung alle in Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG genannten inlandsbezogenen Belange - nach den im Zeitpunkt der Entscheidung oftmals gar nicht hinreichend bekannten Umständen - einer Prüfung zu unterziehen, erscheint deshalb rechtlich nicht zwingend. Allein aus dieser Praxis ist jedenfalls nicht zu schlussfolgern, dass im Falle einer Klageerhebung die Abschiebungsandrohung in gleicher Weise - unter Berücksichtigung aller zwischenzeitlich eingetretenen Änderungen oder gar erstmalig - gerichtlich zu überprüfen wäre."

An dieser Betrachtungsweise hält der Einzelrichter fest. Auch vorliegend stehen Rückkehrentscheidungen zum einen gegenüber minderjährigen und zum anderen gegenüber einem erwachsenen Kernfamilienmitglied in Rede; der Unterschied ist, dass eine Entscheidung des Bundesamtes gegenüber dem weiteren Familienmitglied - dem Ehemann bzw. Vater - noch gar nicht ergangen ist. Wenn Kindeswohlbelange und damit im Zusammenhang stehende familiäre Bindungen bereits vor Erlass der Abschiebungsandrohung zu prüfen sind, ist es wenig überzeugend, wenn im angegriffenen Bescheid zum einen von einer gemeinsamen Rückkehr der Kernfamilie ausgegangen wird und zum anderen - zur Begründung der Abschiebungsandrohung mit kurzer Ausreisefrist - auch in Ansehung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ausgeführt wird, dass die Anwesenheit des Ehemannes bzw. Vaters in Deutschland keine zeitlichen oder sonstigen Auswirkungen auf die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung gegenüber den Antragstellerinnen haben könne. Es wird also letztlich der Sache nach doch wieder angenommen, dass die Prüfung von Kindeswohlbelangen auch bei einer gegenüber einem Minderjährigen erlassenen Rückkehrentscheidung der Ausländerbehörde überlassen bleiben darf. Dadurch wird nicht berücksichtigt, dass sich das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 15. Februar 2023 (C-484/22) nicht auf die in der Vorlagefrage skizzierte Situation beschränkt hat, dass Eltern aus rechtlichen Gründen auf unabsehbare Zeit nicht zurückgeführt werden können, sondern nicht auf eine zeitliche Komponente abstellt. Andererseits macht es ersichtlich durchaus einen Unterschied, ob ein Elternteil auf unabsehbare Zeit nicht zurückgeführt werden kann oder ob sich die Mitglieder einer Kernfamilie lediglich in beim Bundesamt getrennt geführten Asylverfahren befinden.

In einer solchen Situation ist es nach Auffassung des Einzelrichters geboten aber auch ausreichend, hinsichtlich der Abschiebungsandrohungen und deren Vollziehbarkeit innerhalb einer Kernfamilie einen "verfahrensmäßigen Gleichklang" herzustellen. Die Antragsgegnerin kann dies - ähnlich wie bei der Umsetzung der Rechtsprechung zum Erfordernis eines wirksamen Rechtsbehelfs gegen eine Rückkehrentscheidung (Entscheidungen des EuGH vom 19.06.2018 - C-181/16 - ("Gnandi") und vom 05.07.2018 - C-269/18 - ("PPU"); BVerwG, Urt. v. 20.02.2020 - 1 C 1/19 -, juris) - bei bloß unterschiedlichen Entscheidungszeitpunkten über die Asylanträge mehrerer Mitglieder einer Kernfamilie dadurch gewährleisten, dass eine früher erlassene Abschiebungsandrohung bis zur Vollziehbarkeit der letzten erlassenen Abschiebungsandrohung suspendiert wird. Der Einzelrichter geht davon aus, dass dadurch den unionsrechtlichen Anforderungen hinreichend Genüge getan ist. Der Blick auf die vorliegende Konstellation bestätigt dies: Es ist wahrscheinlich, dass die Antragsgegnerin auch gegenüber dem Ehemann bzw. Vater der Antragstellerinnen eine Abschiebungsandrohung mit kurzer Ausreisefrist erlassen wird. Wird diese vollziehbar, weil entweder kein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gestellt wird oder aber ein entsprechender Eilantrag abgelehnt wird, besteht kein sachlicher Grund mehr, die vorliegend streitgegenständliche Abschiebungsandrohung zu suspendieren.

Da die Antragsgegnerin die Vollziehung der gegenüber den Antragstellerinnen erlassenen Abschiebungsandrohung nicht in entsprechender Weise ausgesetzt hat, sondern sich auf eine Umsetzung der Rechtsprechung zum Erfordernis eines wirksamen Rechtsbehelfs gegen eine Rückkehrentscheidung beschränkt hat, ist der "verfahrensmäßige Gleichklang" durch das Gericht herzustellen. Dieser Gleichklang wird dadurch gewährleistet, dass die angeordnete aufschiebende Wirkung abweichend von § 80b Abs. 1 VwGO bereits endet, wenn eine von der Antragsgegnerin gegenüber dem Ehemann bzw. Vater der Antragstellerinnen erlassene Abschiebungsandrohung vollziehbar wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Der Unterliegensanteil der Antragstellerinnen infolge der tenorierten Maßgabe ist im Sinne dieser Bestimmung als gering anzusehen. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 80 AsylG).