Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 17.10.2023, Az.: 1 B 3700/22

Abschiebungsandrohung; Gesundheit; Kindeswohl; Rückkehrentscheidung; Prüfung inlandsbezogener Vollstreckungshindernisse (hier: Reisefähigkeit) vor Erlass einer asylrechtlichen Abschiebungsandrohung

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
17.10.2023
Aktenzeichen
1 B 3700/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 38557
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2023:1017.1B3700.22.00

Amtlicher Leitsatz

Eine Prüfung der Reisefähigkeit vor Erlass der Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist auch unter Berücksichtigung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 15. Februar 2023 (C-484/22) nicht zwingend.

Tenor:

Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage - 1 A 3699/22 - unter Abänderung des Beschlusses vom 1. November 2022 wird abgelehnt.

Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage - 1 A 3699/22 - unter Abänderung des Beschlusses vom 1. November 2022 hat keinen Erfolg. Statthaft ist der Antrag nur, wenn man ihn als Abänderungsantrag mit dem Ziel der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die im Bescheid der Antragsgegnerin vom 22. August 2022 enthaltene Abschiebungsandrohung betrachtet. Der so verstandene Antrag ist allerdings nicht begründet.

Gemäß § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache Beschlüsse über Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO jederzeit ändern oder aufheben. Nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen. Ein Abänderungsanspruch der Antragsteller besteht nicht. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die im Bescheid der Antragsgegnerin vom 22. August 2022 enthaltene Abschiebungsandrohung ist nach wie vor nicht anzuordnen.

Soweit die Antragstellerin zu 1. nunmehr unter Bezugnahme auf den Arztbrief der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I. vom 27. März 2023 auf eine Depression, eine posttraumatische Belastungsstörung und mehrere Suizidversuche verweist, handelt es sich dabei schon zum Großteil nicht um veränderte oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachte Umstände. Im Arztbrief wird nämlich beschrieben, dass die Antragstellerin bereits seit 13 Jahren an einer schweren Depression leide, die durch zweimalige massive Suizidversuche in Georgien geprägt gewesen sei. Dies hätte die Antragstellerin zu 1., die sich bei der Bundesamtsanhörung auf die entsprechende Frage als gesund bezeichnete, ohne weiteres schon früher berichten können. Veränderte und für ein gesundheitsbezogenes Abschiebungsverbot relevante Umstände könnten lediglich darin erblickt werden, dass sich die Antragstellerin zu 1. in stationäre psychiatrische Behandlung begeben hatte und im Laufe des stationären Aufenthalts zwei weitere Suizidversuche durch Öffnen der Pulsadern unternommen haben soll, die durch eine Nachricht der Ausländerbehörde über eine Abschiebung getriggert worden sein sollen. Auch habe sie geäußert, sich bei drohender Abschiebung vor die Ausländerbehörde stellen und sich die Pulsadern aufschneiden zu wollen, wobei sie auf Befragen geäußert haben soll, dass dies die einzige Möglichkeit sei, "denen zu zeigen, wie ernst die Gefahr" in Georgien sei.

Nach Auffassung des Einzelrichters kann in diesen Umständen kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erblickt werden. Das nationale Recht sieht vor, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nur zielstaatsbezogene Umstände zu prüfen hat, während inlandsbezogene Umstände der Vollzugsentscheidung der Ausländerbehörde einschließlich der dagegen eröffneten Rechtsschutzmöglichkeiten vorbehalten bleiben (vgl. etwa Berlit, jurisPR-BVerwG 15/2022 Anm. 1; BVerwG, Beschl. v. 10.10.2012 - 10 B 39/12 -, juris). Die geschilderten Suizidversuche und die Drohungen mit Suizid stehen im engen Kontext einer befürchteten Abschiebung durch die Ausländerbehörde und betreffen damit den Abschiebungsvorgang als solchen, welchen die Antragstellerin zu 1. unmöglich erscheinen lassen will. Letztlich will sie bei Lichte betrachtet ein Abschiebungsverbot gleichsam "erpressen", was insbesondere bei der Äußerung deutlich wird, dass sie der Ausländerbehörde den Ernst der Lage demonstrieren wolle. Ob dies eine krankheitsbedingte Reiseunfähigkeit zu begründen vermag, kann vorliegend dahinstehen. Von einem hinreichenden Zielstaatsbezug vermag der Einzelrichter jedenfalls nicht auszugehen. Im Beschluss vom 1. November 2022 ist bereits umfangreich dargestellt worden, dass und warum sich die Lage der Antragstellerin zu 1. bei einer Rückkehr nach Georgien keineswegs als aussichtslos darstellt und ihr die Bewältigung der rein familiären Probleme mit ihrem Bruder durchaus zugemutet werden kann. Es ist gerade nicht so, dass die Antragstellerin zu 1. in Georgien - wie zur Begründung des Abänderungsantrags geltend gemacht wird - "Misshandlungen und Tod" gegenüberstünde, vor deren Eintritt sie "keinen Schutz erfahren" würde. Im Einzelnen wird insoweit auf die Ausführungen des Beschlusses vom 1. November 2022 Bezug genommen. In Anbetracht der durchaus zu bewältigenden familiären Probleme dürfte die während des stationären Aufenthalts und aus Anlass von Abschiebungsaktivitäten der Ausländerbehörde bereits demonstrierte und für die Zukunft angedrohte Suizidalität wie auch die geschilderte panische Angst vor einer Rückkehr nach Georgien deutliche Züge einer bewussten Aggravation aufweisen, um einen Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland zu erreichen. Nimmt man hingegen die Situation einer bereits erfolgten Rückkehr - auch nach einer Abschiebung - in den Blick, wären die mit der Suizidalität erkennbar verfolgten Zwecke entfallen, denn es bestünde kein Anlass mehr, den "Ernst der Lage" aufzuzeigen. Würde sich dann nicht infolge von Resilienz eine ohnehin deutlich verbesserte psychische Situation ergeben, muss sich die Antragstellerin zu 1. darauf verweisen lassen, medizinische Hilfe in Georgien in Anspruch nehmen. Diese steht dort hinreichend zur Verfügung. Die psychiatrische Versorgung in Georgien hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verbessert. So steht etwa das "State Programme for Mental Health (SPMH)" allen georgischen Staatsangehörigen offen und umfasst eine Reihe verschiedener Leistungen, die zu 100% vom Staat finanziert werden. Abgedeckt werden stationäre und ambulante psychiatrische Behandlungen. Erfasst sind beispielsweise die Versorgung durch Hausärzte/Distriktärzte, der Erstbesuch einer psychiatrischen Ambulanz, Besuche bei Psychiatern, auf Rezept die Versorgung mit Medikamenten, Psychosoziale Rehabilitation, kurz- und langfristige stationäre Leistungen sowie psychiatrische Krisenintervention (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich), Länderinformation der Staatendokumentation - Georgien vom 22.3.2022, S. 54 f.). Es ist nicht ersichtlich, dass entsprechende Behandlungen für die Antragstellerin zu 1. - sollten sie denn überhaupt nötig sein - nicht zugänglich wären.

Der Einzelrichter sieht sich auch nicht veranlasst, infolge der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG (Beschl. v. 15.02.2023 - C-484/22 -) hinsichtlich der Abschiebungsandrohung einen anderen Prüfungsmaßstab anzulegen und auch die Frage der Reisefähigkeit der Antragstellerin einer abschließenden Prüfung zu unterziehen. Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs ist Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG dahin auszulegen, dass er verlangt, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen, und es nicht genügt, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung deren Vollzugs zu erwirken (Beschl. v. 15.02.2023 - C-484/22 -, Rn. 28). Die Idee einer "zusammengesetzten Rückkehrentscheidung" aus Abschiebungsandrohung des Bundesamtes einerseits und Nichtduldung durch die Ausländerbehörde andererseits hat in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ausdrücklich keine Akzeptanz gefunden, soweit es um eine Rückkehrentscheidung gegenüber einem Minderjährigen und die in Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG genannten Belange geht. Dabei hat der der Europäische Gerichtshof allerdings eine weitergehende Antwort gegeben, als sie im Vorlagebeschluss überhaupt erfragt wurde. Die zugrundeliegende Vorlagefrage des Bundesverwaltungsgerichts (Beschl. v. 08.06.2022 - 1 C 24/21 -, juris) bezog sich nämlich lediglich auf die Situation von Minderjährigen, deren Eltern aus rechtlichen Gründen auf unabsehbare Zeit nicht zurückgeführt werden können. Unabhängig von der Frage, ob der Europäische Gerichtshof bei der über die konkrete Vorlagefrage hinausgehenden Antwort dem auch im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV geltenden Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nach Art. 5 EUV hinreichend Rechnung getragen hat, ist nach Auffassung des Einzelrichters keine Ausdehnung der tenorierten Entscheidung dahingehend geboten, dass per se für alle in Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG genannten Belange von einer fehlerhaften Richtlinienumsetzung und einem daraus resultierenden Selbstvollzug der Richtlinie auszugehen ist, sondern nur dann, wenn es zumindest auch um Kindeswohlbelange i. S. v. Art. 5 Buchst. a der Richtlinie 2008/115/EG geht. Nur insoweit existiert nämlich mit Art. 24 Abs. 2 der EU-Grundrechte-Charta eine unmittelbar Geltung beanspruchende Vorschrift, die eine möglichst frühzeitige Berücksichtigung - also schon vor Erlass einer Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt - vorgibt. Die gesundheitlichen Belange i. S. v. Art. 5 Buchst. c der Richtlinie 2008/115/EG sind nicht in der Weise mit einer konkreten Verfahrensvorgabe "grundrechtlich aufgeladen", wie es bei Kindeswohlbelangen infolge des Art. 24 Abs. 2 der EU-Grundrechte-Charta der Fall ist. Der Einzelrichter vermag in der nach nationalem Recht vorgesehenen Prüfungszuständigkeit der Ausländerbehörde für die Frage der Reisefähigkeit kein Umsetzungsdefizit zu erblicken, die es wegen eines Selbstvollzugs der Richtlinie erfordern würde, diese Frage bereits vor Erlass der Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt zu prüfen. Eine grundrechtliche Verfahrensvorgabe, die eine möglichst frühzeitige Prüfung gesundheitlicher Belange gebietet, existiert nicht. Art. 19 Abs. 2 der EU-Grundrechte-Charta enthält ausschließlich materiellrechtliche und zielstaatsbezogene Vorgaben (vgl. zu dem sich von § 60 Abs. 7 AufenthG unterscheidenden und durchaus strengeren Maßstab: Dörig, jM 2023, 336, juris m. w. N.). Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115/EG definiert die körperliche oder psychische Verfassung eines Drittstaatsangehörigen als Grund für einen Aufschub der Abschiebung. Für die Situation einer nach nationalem (niederländischen) Recht einheitlichen behördlichen Zuständigkeit hat der Europäische Gerichtshof ausgeführt, dass durch Art. 5 Buchst. c und Art. 9 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 bestätigt werde, dass die Behörde eine Rückkehrentscheidung gegen den Drittstaatsangehörigen nur dann erlassen bzw. diesen nur dann abschieben darf, wenn sie dessen Gesundheitszustand berücksichtigt hat (Urt. v. 22.11.2022 - C-69/21 -, Rn. 95). Konkret bemängelt wurde, wenn dabei nur der Abschiebungsvorgang als solcher in den Blick genommen wird, nicht aber die Frage einer medizinischen Versorgung im Zielland (vgl. EuGH, a. a. O., Rn. 80 f.). Vor diesem Hintergrund erscheint die hiesige nationale Rechtslage, nach der das Bundesamt sich bei der Prüfung des Gesundheitszustandes auf zielstaatsbezogene Aspekte zu beschränken hat, während die Reisefähigkeit von der Ausländerbehörde zu prüfen ist, weiterhin tragfähig. Typischerweise stellt sich die Frage der Reisefähigkeit ohnehin erst im zeitlichen Zusammenhang mit der Abschiebung und nicht bereits bei Erlass der Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt. Art. 5 und 9 der Richtlinie 2008/115/EG bilden diese typische Situation ebenfalls ab. Nach Auffassung des Einzelrichters berücksichtigt das nationale Recht mithin durchaus den Gesundheitszustand von Drittstaatsangehörigen "in gebührender Weise", wie es Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG vorgibt. Dass das Bundesamt seit einigen Monaten offenbar dazu übergegangen ist, im Rahmen der Abschiebungsandrohung alle in Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG genannten inlandsbezogenen Belange - nach den im Zeitpunkt der Entscheidung oftmals gar nicht hinreichend bekannten Umständen - einer Prüfung zu unterziehen, erscheint deshalb rechtlich nicht zwingend. Allein aus dieser Praxis ist jedenfalls nicht zu schlussfolgern, dass im Falle einer Klageerhebung die Abschiebungsandrohung in gleicher Weise - unter Berücksichtigung aller zwischenzeitlich eingetretenen Änderungen oder gar erstmalig - gerichtlich zu überprüfen wäre.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 80 AsylG).