Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 11.10.2023, Az.: 15 B 3588/23

alleinstehender gesunder Mann; Dublin Griechenland; systemische Mängel bejaht; Dublin-Verfahren Griechenland

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
11.10.2023
Aktenzeichen
15 B 3588/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 56102
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2023:1011.15B3588.23.00

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 14. Juni 2023 wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

I.

Der Antragsteller wendet sich im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Anordnung seiner Abschiebung nach Griechenland im Rahmen eines sog. "Dublin-Verfahrens".

Der Antragsteller, syrischer Staatsangehöriger, reiste eigenen Angaben zufolge am 6. Januar 2023 in die Bundesrepublik Deutschland ein und äußerte ein Asylgesuch, von dem das C. - Bundesamt - am selben Tag durch behördliche Mitteilung schriftlich Kenntnis erlangte. Am 23. Februar 2023 stellte der Antragsteller beim Bundesamt einen förmlichen Asylantrag.

Ein vom Bundesamt durchgeführter Abgleich der Fingerabdrücke ergab einen EURODAC-Treffer der Kategorie 2 für Griechenland. Am 3. März 2023 richtete das Bundesamt ein Übernahmeersuchen an die griechischen Behörden, welches jedoch unbeantwortet blieb.

Mit Bescheid vom 14. Juni 2023, dem Antragsteller zugestellt am 23. Juni 2023, lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Aufenthaltsgesetz - AufenthG - nicht vorliegen (Ziffer 2), ordnete die Abschiebung nach Griechenland an (Ziffer 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4). Der Asylantrag sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Asylgesetz - AslyG - unzulässig, da Griechenland auf Grund der dort erfolgten illegalen Einreise nach Art. 3 Abs. 2 i.V.m. Art. 13 Abs. 1 und Art. 22 Abs. 7 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist - Dublin III-VO - für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Abschiebungsverbote lägen ebenso wie außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß § 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, nicht vor.

Gegen diesen Bescheid hat der Antragsteller am 28. Juni 2023 Klage erhoben (15 A 3587/23), über die noch nicht entschieden ist, und zugleich um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht.

Zur Begründung trägt er vor, dass ihm im Falle einer Rücküberstellung nach Griechenland die ernsthafte Gefahr drohe eine unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union - GRCh - zu erfahren.

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,

die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 14. Juni 2023 anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

II.

Der nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Alt., Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - i.V.m. §§ 34a Abs. 2 Satz 1, 75 AsylG statthafte und auch im Übrigen zulässige Antrag, über den gemäß § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG die Einzelrichterin entscheidet, ist begründet.

Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen, wenn das Interesse des Antragstellers an der beantragten Aussetzung der Vollziehung das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung überwiegt. Die dabei vorzunehmende Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen Vollzugsinteresse und dem privaten Aussetzungsinteresse orientiert sich dabei maßgeblich an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO allein mögliche aber auch ausreichende summarische Prüfung, dass die Klage voraussichtlich erfolglos bleiben wird, hat das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurückzutreten. Erweist sich dagegen der Bescheid voraussichtlich als rechtswidrig, so überwiegt in der Regel das Aussetzungsinteresse des Antragstellers, weil an der sofortigen Vollziehung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes kein vorrangiges öffentliches Interesse bestehen kann. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens bei summarischer Beurteilung hingegen offen, so ist dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung stattzugeben, wenn eine Abwägung der widerstreitenden Interessen ergibt, dass das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das Vollzugsinteresse des Antraggegners überwiegt.

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe fällt die Interessenabwägung zugunsten des Antragstellers aus. Die in Ziffer 3 des angefochtenen Bescheides vom 14. Juni 2023 verfügte Abschiebeanordnung nach Griechenland wird sich im Hauptsacheverfahren voraussichtlich als rechtswidrig erweisen.

Rechtsgrundlage der streitgegenständlichen Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist. Die Voraussetzungen liegen im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) nicht vor.

Für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers ist zwar Griechenland grundsätzlich zuständig. Der Antragsteller ist ausweislich der EURODAC-Treffermeldung aus einem Drittstaat kommend illegal in das Gebiet der Mitgliedstaaten nach Griechenland eingereist. Die griechischen Behörden haben nicht innerhalb der Zweimonatsfrist des Art. 22 Abs. 1 Dublin III-VO auf das fristgerecht gestellte Übernahmeersuchen des Bundesamtes geantwortet, sodass sie gemäß Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO verpflichtet sind, den Antragsteller wiederaufzunehmen.

Es bestehen jedoch erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass die ursprüngliche Zuständigkeit Griechenlands aus verfahrensbezogenen Gründen auf die Bundesrepublik Deutschland übergangen ist.

Nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh mit sich bringen.

Dieser Regelung liegt das Prinzip der normativen Vergewisserung bzw. der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens zugrunde. Danach gilt die Vermutung, dass die Behandlung Asylsuchender in jedem einzelnen Mitgliedstaat der EU im Einklang mit den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention - GFK -, den Erfordernissen der GRCh und der Europäischen Menschenrechtskonvention - EMRK - steht (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17, Jawo -, Rn. 80 ff., juris m.w.N; BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 B 66/21 -, juris). Diese Vermutung ist zwar nicht unwiderleglich, jedoch sind an ihre Widerlegung und die Feststellung systemischer Schwachstellen i.S.d. Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO hohe Anforderungen zu stellen. Daher steht nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder jeder Verstoß gegen die Regeln für das gemeinsame Asylsystem der Überstellung eines Asylsuchenden in den zuständigen Mitgliedstaat entgegen. Um das Prinzip gegenseitigen Vertrauens entkräften zu können, muss ernsthaft zu befürchten sein, dass dem Asylsuchenden aufgrund genereller Mängel im Asylsystem des eigentlich zuständigen Mitgliedstaats mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GrCh droht.

Für die Anwendung von Art. 4 GRCh ist es dabei irrelevant, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder erst nach dessen Abschluss (insbesondere auch im Fall der Zuerkennung internationalen Schutzes) dazu kommt, dass die schutzsuchende Person aufgrund ihrer Rücküberstellung in den nach der Dublin III-Verordnung zuständigen Mitgliedstaat einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren. Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO bezieht sich zwar nicht unmittelbar auf die Phase nach erfolgter Anerkennung als international Schutzberechtigter. Art. 4 GRCh verbietet jedoch ausnahmslos jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und hat mit seiner fundamentalen Bedeutung allgemeinen und absoluten Charakter. Vor diesem Hintergrund wäre es widersprüchlich, wenn das Vorliegen eines solchen Risikos im Stadium des Asylverfahrens eine Überstellung verhindern würde, während dasselbe Risiko dann geduldet würde, wenn das Verfahren durch die Zuerkennung von internationalem Schutz zum Abschluss kommt (EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 -, juris Rn. 78, 88 f.; BVerfG, Beschluss vom 7. Oktober 2019 - 2 BvR 721/19 -, juris Rn. 19 f., VG Braunschweig, Beschluss vom 1. Dezember 2022 - 2 B 278/22 -, juris Rn. 28).

Der maßgebliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit muss sich auf der Basis einer Gesamtwürdigung sämtlicher Umstände ergeben und darf sich nicht nur auf einzelne Mängel des Systems beziehen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, juris Rn. 6; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16. April 2014 - A 11 S 1721/13 -, juris Rn. 41; EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C- 411/10, C-493/10 -, juris Rn. 80). Diese Grundsätze konkretisierend hat der Europäische Gerichtshof in seiner "Jawo"-Entscheidung ausgeführt, dass Schwachstellen im Asylsystem nur dann als Verstoß gegen Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh zu werten sind, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Die hohe Schwelle der Erheblichkeit kann nach dem Europäischen Gerichtshof dann erreicht sein, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern diese - Situationen - nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. hierzu: EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 -, juris Rn. 91 ff.).

Nach dieser Maßgabe liegen zum gegenwärtigen Zeitpunkt ernstzunehmende Anhaltspunkte für das Bestehen systemischer Mängel im griechischen Asylsystem vor, die die Gefahr einer unmenschlichen und entwürdigenden Behandlung des Antragstellers i.S.d. Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK mit sich bringen. Die Einzelrichterin ist davon überzeugt, dass der Antragsteller mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unabhängig von seinem Willen und persönlichen Entscheidung in Griechenland in eine Situation extremer materieller Not geraten wird und seine elementarsten Bedürfnisse ("Bett, Brot, Seife") für einen längeren Zeitraum nicht wird befriedigen können.

Zur Begründung nimmt die Einzelrichterin Bezug auf die Urteile des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 19. April 2021 - 10 LB 244/20 -, juris, Rn. 23 ff. sowie des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes vom 15. November 2022 - 2 A 82/22 -, juris, Rn. 19 bis 33 (vgl. zur Zulässigkeit einer solchen Inbezugnahme: BVerwG, Beschluss vom 3. April 1990 - 9 CB 5/90 -, juris, Rn. 6). Den dortigen umfassenden Ausführungen schließt sich die erkennende Einzelrichterin nach eigener Prüfung der Sach- und Rechtslage vollumfänglich an. Dem Antragsteller droht nach Maßgabe dessen bei einer Rücküberstellung nach Griechenland jedenfalls nach Abschluss seines Asylverfahrens eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gem. § 83b AsylG gerichtskostenfrei.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 80 AsylG).