Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 17.10.2023, Az.: 1 B 2537/23

Abschiebungsandrohung; Rückkehrentscheidung; Prüfung inlandsbezogener Vollstreckungshindernisse (hier: Kindeswohl und familiäre Belange) vor Erlass einer asylrechtlichen Abschiebungsandrohung

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
17.10.2023
Aktenzeichen
1 B 2537/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 38864
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2023:1017.1B2537.23.00

Amtlicher Leitsatz

Inlandsbezogene Kindeswohlbelange i. S. v. Art. 5 Buchst. a der Richtlinie 2008/115/EG dürfen vor Erlass einer asylrechtlichen Abschiebungsandrohung nicht ausgeblendet werden; dasselbe gilt für familiäre Belange i. S. v. Art. 5 Buchst. b der Richtlinie 2008/115/EG eines erwachsenen Elternteils, wenn auch eine Rückkehrentscheidung gegenüber einem Minderjährigen in Rede steht.

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller - 1 A 2536/23 - gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid der Antragsgegnerin vom 31. März 2023 wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes, über den nach § 76 Abs. 4 AsylG der Einzelrichter entscheidet, hat Erfolg. Den allgemein gehaltenen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung versteht der Einzelrichter als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die im Bescheid vom 31. März 2023 enthaltene Abschiebungsandrohung; (nur) insoweit ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO und § 36 Abs. 3 AsylG statthaft und auch ansonsten zulässig. Der Antrag ist auch begründet.

Nach Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG und § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Es bestehen zwar keine ernstlichen Zweifel daran, dass die Anträge der Antragsteller auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und subsidiären Schutz zu Recht nach § 30 AsylG als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurden. Im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) bestehen insoweit an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Bewertungen des Bescheides vernünftigerweise keine Zweifel. Die dort getroffenen Offensichtlichkeitsentscheidungen können vielmehr im Eilverfahren mit der erforderlichen Richtigkeitsgewähr bestätigt werden. Gleiches gilt hinsichtlich der Feststellung des Nichtvorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Es wird diesbezüglich nach § 77 Abs. 3 AsylG vollumfänglich auf die Ausführungen des angefochtenen Bescheides Bezug genommen.

Der Einzelrichter teilt insbesondere die Einschätzung, dass es dem Antragsteller zu 1. zuzumuten ist, nach Rückkehr selbst eine Existenzgrundlage für sich und den Antragsteller zu 2. aufzubauen und die Antragsteller zudem Unterstützung durch ein familiäres Netzwerk in Samtredia (Eltern des Antragstellers zu 1., drei in der Landwirtschaft tätige Brüder und Teile der Großfamilie) erhalten können. Die Behauptung in der Klage- und Antragsbegründung - auf der die Argumentation fast vollständig aufbaut -, dass ein familiäres Netzwerk in Georgien nicht vorhanden sei, ist schlichtweg unzutreffend. Dass sich die Ehefrau bzw. Mutter der Antragsteller schon vor deren Einreise wegen einer Krebserkrankung nach Deutschland begeben hatte und nunmehr unterstützungsbedürftig sein soll, vermag einen asylrechtlichen Schutzstatus ersichtlich nicht zu begründen.

Ernstliche Zweifel bestehen allerdings an der Rechtmäßigkeit der mit der ablehnenden Entscheidung der Antragsgegnerin nach § 34 AsylG verbundenen Abschiebungsandrohung. Diese resultieren daraus, dass die anhängige Klage - 1 A 3697/22 - der an Krebs erkrankten Ehefrau bzw. Mutter der Antragsteller gegen die im Bescheid der Antragsgegnerin vom 25. August 2022 enthaltene Abschiebungsandrohung infolge des Beschlusses des Einzelrichters vom 13. Januar 2023 - 1 B 3698/22 - aufschiebende Wirkung entfaltet. Nach der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auf eine Vorlage des Bundesverwaltungsgerichts ist Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG dahin auszulegen, dass er verlangt, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen, und es nicht genügt, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung deren Vollzugs zu erwirken (Beschl. v. 15.02.2023 - C-484/22 -, Rn. 28). Diesen Anforderungen wird die im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes erlassene Abschiebungsandrohung - bei der es sich um eine Rückkehrentscheidung Richtlinie 2008/115/EG handelt (vgl. etwa BVerwG, Beschl. v. 08.06.2022 - 1 C 24/21 -, juris Rn. 18) - voraussichtlich insgesamt nicht gerecht.

Dies betrifft zunächst die gegenüber dem minderjährigen Antragsteller zu 2. erlassene Abschiebungsandrohung. Es ist von einer nach Art. 6 GG und Art. 7 der EU-Grundrechte-Charta bzw. Art. 8 EMRK geschützten Familiengemeinschaft des Antragstellers zu 2. auch mit seiner Mutter auszugehen, die derzeit nicht abgeschoben werden kann. Der Einzelrichter verkennt dabei nicht, dass die Antragsteller fast ein halbes Jahr später als die Mutter bzw. Ehefrau nach Deutschland eingereist sind und die Mutter lediglich von der angeordneten aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die ihr gegenüber erlassene Abschiebungsandrohung profitiert. Diese Umstände ändern zum einen nichts an einer aktuell gelebten familiären Lebensgemeinschaft. Zum anderen erfolgte die Trennung der Familie durch die Ausreise der Mutter, weil diese in Georgien aufgrund einer weit fortgeschrittenen Krebserkrankung zu versterben drohte. Den unionsrechtlichen Anforderungen aus Art. 24 der EU-Grundrechte-Charta und des Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG genügt es voraussichtlich nicht, den Antragsteller zu 2. auf die Erteilung einer Duldung durch die Ausländerbehörde zu verweisen. Aus Art. 24 Abs. 2 der EU-Grundrechte-Charta, wonach bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss, ergibt sich als unmittelbar geltende unionsrechtliche Vorgabe, dass das Kindeswohl "in allen Stadien des Verfahrens" zu berücksichtigen ist (so ausdrücklich EuGH, Beschl. v. 15.02.2023 - C-484/22 -, Rn. 24 m. w. N.). Damit ist es voraussichtlich nicht zu vereinbaren, die Beziehung des Antragstellers zu 2. zu seiner Mutter im Rahmen der Abschiebungsandrohung zunächst auszublenden und als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis allein der Prüfungszuständigkeit der Ausländerbehörde zuzuordnen. Das nationale Recht, nach der das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nur zielstaatsbezogene Umstände zu prüfen hat, während inlandsbezogene Umstände der Vollzugsentscheidung der Ausländerbehörde einschließlich der dagegen eröffneten Rechtsschutzmöglichkeiten vorbehalten bleiben (vgl. etwa Berlit, jurisPR-BVerwG 15/2022 Anm. 1; BVerwG, Beschl. v. 10.10.2012 - 10 B 39/12 -, juris), dürfte unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bei der Ausblendung von inlandsbezogenen Kindeswohlbelangen vor Erlass der Abschiebungsandrohung ein Umsetzungsdefizit bezüglich der Richtlinie 2008/115/EG aufweisen, so dass diese insoweit unmittelbar gilt.

Die rechtliche Betrachtungsweise des Europäischen Gerichtshofs kommt nach Auffassung des Einzelrichters im Ergebnis auch dem Antragsteller zu 1. zugute, auch wenn es sich bei der ihm gegenüber erlassenen Abschiebungsandrohung nicht um eine Rückkehrentscheidung gegenüber einem Minderjährigen handelt. Kindeswohlbelange - also solche des Antragstellers zu 2. - sind durch die Abschiebungsandrohung gegenüber seinem Vater - dem Antragsteller zu 1. - lediglich mittelbar berührt, denn es geht insoweit nur um die Frage, in welchem Verfahrensstadium und von welcher Behörde die familiären Bindungen eines erwachsenen Elternteils zu berücksichtigen sind. Der Antragsteller zu 2. läuft hingegen ersichtlich nicht Gefahr, dass der Antragsteller zu 1. ohne Berücksichtigung seiner Bindung an den Antragsteller zu 2. nach Georgien abgeschoben wird. Gleichwohl wird es nicht bei der nach nationalem Recht vorgesehenen Prüfung inlandsbezogener familiärer Belange allein durch die Ausländerbehörde bleiben können.

Nach Auffassung des Einzelrichters spricht bei Abwägung der maßgeblichen Argumente Überwiegendes für die Sichtweise, innerhalb einer Kernfamilie keine Differenzierung vorzunehmen, wenn - wie hier - auch eine Rückkehrentscheidung gegenüber einem Minderjährigen in Rede steht; zugleich dürften die Folgen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs aber auf diese Situation zu beschränken sein: Die Idee einer "zusammengesetzten Rückkehrentscheidung" aus Abschiebungsandrohung des Bundesamtes einerseits und Nichtduldung durch die Ausländerbehörde andererseits hat in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ausdrücklich keine Akzeptanz gefunden, soweit es um eine Rückkehrentscheidung gegenüber einem Minderjährigen und die in Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG genannten Belange geht. Dabei hat der der Europäische Gerichtshof allerdings eine weitergehende Antwort gegeben, als sie im Vorlagebeschluss überhaupt erfragt wurde. Die zugrundeliegende Vorlagefrage des Bundesverwaltungsgerichts (Beschl. v. 08.06.2022 - 1 C 24/21 -, juris) bezog sich nämlich lediglich auf die Situation von Minderjährigen, deren Eltern aus rechtlichen Gründen auf unabsehbare Zeit nicht zurückgeführt werden können. Unabhängig von der Frage, ob der Europäische Gerichtshof bei der über die konkrete Vorlagefrage hinausgehenden Antwort dem auch im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV geltenden Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nach Art. 5 EUV hinreichend Rechnung getragen hat, ist nach Auffassung des Einzelrichters keine Ausdehnung der tenorierten Entscheidung dahingehend geboten, dass per se für alle in Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG genannten Belange von einer fehlerhaften Richtlinienumsetzung und einem daraus resultierenden Selbstvollzug der Richtlinie auszugehen ist, sondern nur dann, wenn es zumindest auch um Kindeswohlbelange i. S. v. Art. 5 Buchst. a der Richtlinie 2008/115/EG geht. Nur insoweit existiert nämlich mit Art. 24 Abs. 2 der EU-Grundrechte-Charta eine unmittelbar Geltung beanspruchende Vorschrift, die eine möglichst frühzeitige Berücksichtigung - also schon vor Erlass einer Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt - vorgibt. Die familiären Belange i. S. v. Art. 5 Buchst. b der Richtlinie 2008/115/EG sind für sich genommen nicht in der Weise mit einer konkreten Verfahrensvorgabe "grundrechtlich aufgeladen", wie es bei Kindeswohlbelangen infolge des Art. 24 Abs. 2 der EU-Grundrechte-Charta der Fall ist. Um Kindeswohlbelange geht es - mittelbar - aber auch, wenn mehrere Abschiebungsandrohungen gegenüber den Mitgliedern einer Kernfamilie in Rede stehen und sich zumindest eine davon auch auf einen Minderjährigen bezieht. In einer solchen Situation können die familiären Belange der Eltern (Art. 5 Buchst. b der Richtlinie 2008/115/EG) nämlich gleichsam als Spiegelbild von Kindeswohlbelangen (Art. 5 Buchst. a Richtlinie 2008/115/EG) betrachtet werden (vgl. auch OVG Magdeburg, Beschl. v. 11.09.2023 - 2 L 38/20 -, juris Rn. 59). Wie es zu bewerten ist, wenn es ausschließlich um familiäre Belange von Erwachsenen geht oder wenn ein minderjähriges Kind überhaupt nicht Adressat einer Rückkehrentscheidung ist, sondern lediglich ein Elternteil, bedarf vorliegend keiner Vertiefung. Es spricht indessen durchaus einiges dafür, dass es insoweit bei der im nationalen Recht vorgesehenen Aufspaltung zwischen zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten und inlandsbezogenen Abschiebungshindernissen bleiben kann. Dass das Bundesamt seit einigen Monaten offenbar dazu übergegangen ist, im Rahmen der Abschiebungsandrohung alle in Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG genannten inlandsbezogenen Belange - nach den im Zeitpunkt der Entscheidung oftmals gar nicht hinreichend bekannten Umständen - einer Prüfung zu unterziehen, erscheint deshalb rechtlich nicht zwingend. Allein aus dieser Praxis ist jedenfalls nicht zu schlussfolgern, dass im Falle einer Klageerhebung die Abschiebungsandrohung in gleicher Weise - unter Berücksichtigung aller zwischenzeitlich eingetretenen Änderungen oder gar erstmalig - gerichtlich zu überprüfen wäre.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.