Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 25.10.2023, Az.: 1 B 4022/23

Abschiebungsandrohung; Rückkehrentscheidung; Abschiebungsandrohungen bei Ablehnung von Asylanträgen von Mitgliedern einer Kernfamilie als einfach und offensichtlich unbegründet

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
25.10.2023
Aktenzeichen
1 B 4022/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 39363
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2023:1025.1B4022.23.00

Fundstelle

  • AUAS 2023, 263-264

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Inlandsbezogene Kindeswohlbelange i. S. v. Art. 5 Buchst. a der Richtlinie 2008/115/EG dürfen vor Erlass einer asylrechtlichen Abschiebungsandrohung nicht ausgeblendet werden; dasselbe gilt für familiäre Belange i. S. v. Art. 5 Buchst. b der Richtlinie 2008/115/EG eines erwachsenen Elternteils, wenn auch eine Rückkehrentscheidung gegenüber einem Minderjährigen in Rede steht (vgl. bereits Beschl. d. Einzelrichters v. 17.10.2023 - 1 B 2537/23 -, juris).

  2. 2.

    Lehnt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die zu unterschiedlichen Zeitpunkten gestellten Asylanträge der Mitglieder einer Kernfamilie zum einen als einfach unbegründet und zum anderen als offensichtlich unbegründet ab, ist es geboten aber auch ausreichend, hinsichtlich der Abschiebungsandrohungen und deren Vollziehbarkeit einen "verfahrensmäßigen Gleichklang" herzustellen.

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller - 1 A 4021/23 - gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid der Antragsgegnerin vom 29. Juni 2023 wird mit der Maßgabe angeordnet, dass sie abweichend von § 80b Abs. 1 VwGO bereits endet, wenn die von der Antragsgegnerin gegenüber der Ehefrau bzw. Mutter der Antragsteller erlassene Abschiebungsandrohung unanfechtbar wird.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes, über den nach § 76 Abs. 4 AsylG der Einzelrichter entscheidet, hat Erfolg. Den allgemein gehaltenen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung versteht der Einzelrichter als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die im Bescheid vom 29. Juni 2023 enthaltene Abschiebungsandrohung; (nur) insoweit ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO und § 36 Abs. 3 AsylG statthaft und auch ansonsten zulässig. Der Antrag ist auch überwiegend begründet.

Nach Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG und § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Es bestehen zwar keine ernstlichen Zweifel daran, dass die Anträge der Antragsteller auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und subsidiären Schutz zu Recht nach § 30 AsylG als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurden. Im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) bestehen insoweit an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Bewertungen des Bescheides vernünftigerweise keine Zweifel. Die dort getroffenen Offensichtlichkeitsentscheidungen können vielmehr im Eilverfahren mit der erforderlichen Richtigkeitsgewähr bestätigt werden. Gleiches gilt hinsichtlich der Feststellung des Nichtvorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Es wird diesbezüglich nach § 77 Abs. 3 AsylG vollumfänglich auf die Ausführungen des angefochtenen Bescheides Bezug genommen.

Dass die Antragsteller zu 2. und 3. unter der Trennung von ihrer Mutter gelitten haben, die sich seit 2021 als Asylantragstellerin in Deutschland aufhält, um sich wegen einer Brustkrebserkrankung behandeln zu lassen, hat ersichtlich keinerlei asylrechtliche Relevanz. Auch ein krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zugunsten des Antragstellers zu 1. wurde von der Antragsgegnerin zu Recht verneint. Eine Gefahr ist i. S. v. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erheblich, wenn eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität zu erwarten ist; dies setzt außergewöhnlich schwere körperliche oder psychische Schäden voraus. Außerdem muss die Gefahr konkret sein, was voraussetzt, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustandes alsbald nach der Rückkehr des Betroffenen in sein Heimatland eintreten wird. Es muss nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG um eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung gehen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde. Nach § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG ist es in diesem Zusammenhang nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist; § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG bietet mithin keine Anspruchsgrundlage dafür, im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen, wenn im hiesigen Gesundheitssystem eine wesentlich bessere medizinische und/oder therapeutische Behandlung und/oder Förderung des betroffenen Ausländers möglich ist als im Heimatland. Die Antragsgegnerin hat im angegriffenen Bescheid umfassend und zutreffend begründet, dass der Antragsteller zu 1. seine Erkrankung an Krampfadern in der Speiseröhre aufgrund der staatlich finanzierten Grundversorgung bzw. der allgemeinen Krankenversicherung (Universal Health Care bzw. Universal Health Coverage) in Georgien behandeln lassen kann. Abgesehen davon ist zwar die Erkrankung des Antragstellers im Falle des Auftretens einer Blutung potentiell lebensbedrohlich, es ist aber nicht ersichtlich, dass sich ein solches Risiko alsbald nach der Rückkehr ins Heimatland verwirklichen könnte. Ein gesundheitsbezogenes Abschiebungsverbot dient nicht dazu, sich potentiell in der Zukunft verwirklichende Risiken auszuschließen und für den Bedarfsfall eine Behandlung nach hiesigen Standards zu gewährleiten. Der Antragsteller zu 1. wird sich vielmehr mit der medizinischen Versorgung im Heimatland zufriedengeben müssen.

Ernstliche Zweifel bestehen allerdings an der Rechtmäßigkeit der mit der ablehnenden Entscheidung der Antragsgegnerin nach § 34 AsylG verbundenen und mit einer Ausreisefrist von einer Woche verbundenen Abschiebungsandrohung. Diese resultieren daraus, dass das Asylverfahren der Ehefrau bzw. Mutter noch nicht bestandskräftig abgeschlossen ist und die bei dem Verwaltungsgericht Braunschweig geführte Klage (8 A 448/21) hinsichtlich der ihr gegenüber erlassenen Abschiebungsandrohung aufschiebende Wirkung entfaltet, weil ihr Asylantrag nicht als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde. In Anbetracht der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Beschl. v. 15.02.2023, C -484/22) ist es ernstlich zweifelhaft, ob gegenüber einem Teil einer (aus Eltern und minderjährigen Kindern bestehenden) Kernfamilie eine Abschiebungsandrohung mit kurzer Ausreisefrist ergehen darf, wenn die Asylanträge eines anderen Teils der Kernfamilie lediglich als einfach unbegründet abgelehnt worden sind. Der Einzelrichter hat zu einer Konstellation, in der die Klage der Ehefrau bzw. Mutter infolge einer gerichtlichen Eilentscheidung aufschiebende Wirkung entfaltet und die (später gestellten) Anträge des Ehemannes und des Sohnes als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurden, Folgendes ausgeführt (Beschl. v. 17.10.2023 - 1 B 2537/23 -, juris):

"Nach der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auf eine Vorlage des Bundesverwaltungsgerichts ist Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG dahin auszulegen, dass er verlangt, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen, und es nicht genügt, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung deren Vollzugs zu erwirken (Beschl. v. 15.02.2023 - C-484/22 -, Rn. 28). Diesen Anforderungen wird die im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes erlassene Abschiebungsandrohung - bei der es sich um eine Rückkehrentscheidung [i. S. d.] Richtlinie 2008/115/EG handelt (vgl. etwa BVerwG, Beschl. v. 08.06.2022 - 1 C 24/21 -, juris Rn. 18) - voraussichtlich insgesamt nicht gerecht.

Dies betrifft zunächst die gegenüber dem minderjährigen Antragsteller zu 2. erlassene Abschiebungsandrohung. Es ist von einer nach Art. 6 GG und Art. 7 der EU-Grundrechte-Charta bzw. Art. 8 EMRK geschützten Familiengemeinschaft des Antragstellers zu 2. auch mit seiner Mutter auszugehen, die derzeit nicht abgeschoben werden kann. Der Einzelrichter verkennt dabei nicht, dass die Antragsteller fast ein halbes Jahr später als die Mutter bzw. Ehefrau nach Deutschland eingereist sind und die Mutter lediglich von der angeordneten aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die ihr gegenüber erlassene Abschiebungsandrohung profitiert. Diese Umstände ändern zum einen nichts an einer aktuell gelebten familiären Lebensgemeinschaft. Zum anderen erfolgte die Trennung der Familie durch die Ausreise der Mutter, weil diese in Georgien aufgrund einer weit fortgeschrittenen Krebserkrankung zu versterben drohte. Den unionsrechtlichen Anforderungen aus Art. 24 der EU-Grundrechte-Charta und des Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG genügt es voraussichtlich nicht, den Antragsteller zu 2. auf die Erteilung einer Duldung durch die Ausländerbehörde zu verweisen. Aus Art. 24 Abs. 2 der EU-Grundrechte-Charta, wonach bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss, ergibt sich als unmittelbar geltende unionsrechtliche Vorgabe, dass das Kindeswohl "in allen Stadien des Verfahrens" zu berücksichtigen ist (so ausdrücklich EuGH, Beschl. v. 15.02.2023 - C-484/22 -, Rn. 24 m. w. N.). Damit ist es voraussichtlich nicht zu vereinbaren, die Beziehung des Antragstellers zu 2. zu seiner Mutter im Rahmen der Abschiebungsandrohung zunächst auszublenden und als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis allein der Prüfungszuständigkeit der Ausländerbehörde zuzuordnen. Das nationale Recht, nach der das G. nur zielstaatsbezogene Umstände zu prüfen hat, während inlandsbezogene Umstände der Vollzugsentscheidung der Ausländerbehörde einschließlich der dagegen eröffneten Rechtsschutzmöglichkeiten vorbehalten bleiben (vgl. etwa Berlit, jurisPR-BVerwG 15/2022 Anm. 1; BVerwG, Beschl. v. 10.10.2012 - 10 B 39/12 -, juris), dürfte unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bei der Ausblendung von inlandsbezogenen Kindeswohlbelangen vor Erlass der Abschiebungsandrohung ein Umsetzungsdefizit bezüglich der Richtlinie 2008/115/EG aufweisen, so dass diese insoweit unmittelbar gilt.

Die rechtliche Betrachtungsweise des Europäischen Gerichtshofs kommt nach Auffassung des Einzelrichters im Ergebnis auch dem Antragsteller zu 1. zugute, auch wenn es sich bei der ihm gegenüber erlassenen Abschiebungsandrohung nicht um eine Rückkehrentscheidung gegenüber einem Minderjährigen handelt. Kindeswohlbelange - also solche des Antragstellers zu 2. - sind durch die Abschiebungsandrohung gegenüber seinem Vater - dem Antragsteller zu 1. - lediglich mittelbar berührt, denn es geht insoweit nur um die Frage, in welchem Verfahrensstadium und von welcher Behörde die familiären Bindungen eines erwachsenen Elternteils zu berücksichtigen sind. Der Antragsteller zu 2. läuft hingegen ersichtlich nicht Gefahr, dass der Antragsteller zu 1. ohne Berücksichtigung seiner Bindung an den Antragsteller zu 2. nach Georgien abgeschoben wird. Gleichwohl wird es nicht bei der nach nationalem Recht vorgesehenen Prüfung inlandsbezogener familiärer Belange allein durch die Ausländerbehörde bleiben können.

Nach Auffassung des Einzelrichters spricht bei Abwägung der maßgeblichen Argumente Überwiegendes für die Sichtweise, innerhalb einer Kernfamilie keine Differenzierung vorzunehmen, wenn - wie hier - auch eine Rückkehrentscheidung gegenüber einem Minderjährigen in Rede steht; zugleich dürften die Folgen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs aber auf diese Situation zu beschränken sein: Die Idee einer "zusammengesetzten Rückkehrentscheidung" aus Abschiebungsandrohung des Bundesamtes einerseits und Nichtduldung durch die Ausländerbehörde andererseits hat in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ausdrücklich keine Akzeptanz gefunden, soweit es um eine Rückkehrentscheidung gegenüber einem Minderjährigen und die in Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG genannten Belange geht. Dabei hat der der Europäische Gerichtshof allerdings eine weitergehende Antwort gegeben, als sie im Vorlagebeschluss überhaupt erfragt wurde. Die zugrundeliegende Vorlagefrage des Bundesverwaltungsgerichts (Beschl. v. 08.06.2022 - 1 C 24/21 -, juris) bezog sich nämlich lediglich auf die Situation von Minderjährigen, deren Eltern aus rechtlichen Gründen auf unabsehbare Zeit nicht zurückgeführt werden können. Unabhängig von der Frage, ob der Europäische Gerichtshof bei der über die konkrete Vorlagefrage hinausgehenden Antwort dem auch im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV geltenden Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nach Art. 5 EUV hinreichend Rechnung getragen hat, ist nach Auffassung des Einzelrichters keine Ausdehnung der tenorierten Entscheidung dahingehend geboten, dass per se für alle in Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG genannten Belange von einer fehlerhaften Richtlinienumsetzung und einem daraus resultierenden Selbstvollzug der Richtlinie auszugehen ist, sondern nur dann, wenn es zumindest auch um Kindeswohlbelange i. S. v. Art. 5 Buchst. a der Richtlinie 2008/115/EG geht. Nur insoweit existiert nämlich mit Art. 24 Abs. 2 der EU-Grundrechte-Charta eine unmittelbar Geltung beanspruchende Vorschrift, die eine möglichst frühzeitige Berücksichtigung - also schon vor Erlass einer Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt - vorgibt. Die familiären Belange i. S. v. Art. 5 Buchst. b der Richtlinie 2008/115/EG sind für sich genommen nicht in der Weise mit einer konkreten Verfahrensvorgabe "grundrechtlich aufgeladen", wie es bei Kindeswohlbelangen infolge des Art. 24 Abs. 2 der EU-Grundrechte-Charta der Fall ist. Um Kindeswohlbelange geht es - mittelbar - aber auch, wenn mehrere Abschiebungsandrohungen gegenüber den Mitgliedern einer Kernfamilie in Rede stehen und sich zumindest eine davon auch auf einen Minderjährigen bezieht. In einer solchen Situation können die familiären Belange der Eltern (Art. 5 Buchst. b der Richtlinie 2008/115/EG) nämlich gleichsam als Spiegelbild von Kindeswohlbelangen (Art. 5 Buchst. a Richtlinie 2008/115/EG) betrachtet werden (vgl. auch OVG Magdeburg, Beschl. v. 11.09.2023 - 2 L 38/20 -, juris Rn. 59). Wie es zu bewerten ist, wenn es ausschließlich um familiäre Belange von Erwachsenen geht oder wenn ein minderjähriges Kind überhaupt nicht Adressat einer Rückkehrentscheidung ist, sondern lediglich ein Elternteil, bedarf vorliegend keiner Vertiefung. Es spricht indessen durchaus einiges dafür, dass es insoweit bei der im nationalen Recht vorgesehenen Aufspaltung zwischen zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten und inlandsbezogenen Abschiebungshindernissen bleiben kann. Dass das Bundesamt seit einigen Monaten offenbar dazu übergegangen ist, im Rahmen der Abschiebungsandrohung alle in Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG genannten inlandsbezogenen Belange - nach den im Zeitpunkt der Entscheidung oftmals gar nicht hinreichend bekannten Umständen - einer Prüfung zu unterziehen, erscheint deshalb rechtlich nicht zwingend. Allein aus dieser Praxis ist jedenfalls nicht zu schlussfolgern, dass im Falle einer Klageerhebung die Abschiebungsandrohung in gleicher Weise - unter Berücksichtigung aller zwischenzeitlich eingetretenen Änderungen oder gar erstmalig - gerichtlich zu überprüfen wäre."

An dieser Betrachtungsweise hält der Einzelrichter fest. Auch vorliegend stehen Rückkehrentscheidungen zum einen gegenüber minderjährigen und zum anderen gegenüber einem erwachsenen Kernfamilienmitglied in Rede. Wenn Kindeswohlbelange und damit im Zusammenhang stehende familiäre Bindungen bereits im Rahmen der Abschiebungsandrohung zu prüfen sind, ist es wenig überzeugend, wenn im angegriffenen Bescheid zur Begründung der Abschiebungsandrohung mit kurzer Ausreisefrist auch in Ansehung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ausgeführt wird, dass die sich in Deutschland aufhaltende Mutter der Antragstellerinnen zu 2. und 3. ebenfalls ausreisepflichtig sei und im Falle der Abschiebung die Ausländerbehörde das Vorliegen von schutzwürdigen familiären Belangen zu prüfen habe. Es wird also letztlich doch wieder angenommen, dass die Prüfung von Kindeswohlbelangen auch bei einer gegenüber einem Minderjährigen erlassenen Rückkehrentscheidung der Ausländerbehörde überlassen bleiben darf. Dadurch wird nicht berücksichtigt, dass sich das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 15. Februar 2023 (C-484/22) nicht auf die in der Vorlagefrage skizzierte Situation beschränkt, dass Eltern aus rechtlichen Gründen auf unabsehbare Zeit nicht zurückgeführt werden können. Andererseits macht es ersichtlich durchaus einen Unterschied, ob ein Elternteil auf unabsehbare Zeit nicht zurückgeführt werden kann oder ob sich die Mitglieder einer Kernfamilie lediglich in beim Bundesamt getrennt geführten Asylverfahren befinden.

In einer solchen Situation ist es nach Auffassung des Einzelrichters geboten aber auch ausreichend, hinsichtlich der Abschiebungsandrohungen und deren Vollziehbarkeit innerhalb einer Kernfamilie einen "verfahrensmäßigen Gleichklang" herzustellen. Die Antragsgegnerin kann dies - ähnlich wie bei der Umsetzung der Rechtsprechung zum Erfordernis eines wirksamen Rechtsbehelfs gegen eine Rückkehrentscheidung (Entscheidungen des EuGH vom 19.06.2018 - C-181/16 - ("Gnandi") und vom 05.07.2018 - C-269/18 - ("PPU"); BVerwG, Urt. v. 20.02.2020 - 1 C 1/19 -, juris) - bei bloß unterschiedlichen Entscheidungszeitpunkten über die Asylanträge mehrerer Mitglieder einer Kernfamilie dadurch gewährleisten, dass eine früher erlassene Abschiebungsandrohung bis zur Vollziehbarkeit der letzten erlassenen Abschiebungsandrohung suspendiert wird. Erfolgt bei einem Teil der Kernfamilie durch die Antragsgegnerin eine Ablehnung der Asylanträge als einfach unbegründet - so dass eine Vollziehbarkeit vor Unanfechtbarkeit nicht gegeben ist - und bei einem anderen Teil infolge später gestellter Anträge als offensichtlich unbegründet, ist der "verfahrensmäßige Gleichklang" durch Suspendierung der später erlassenen Abschiebungsandrohung bis zur Unanfechtbarkeit der früher erlassenen Abschiebungsandrohung herzustellen. Der Einzelrichter geht davon aus, dass dadurch den unionsrechtlichen Anforderungen hinreichend Genüge getan ist. Der Blick auf die vorliegende Konstellation bestätigt dies: Wird die gegenüber der Ehefrau bzw. Mutter der Antragsteller erlassene Abschiebungsandrohung im Falle einer Klageabweisung durch das Verwaltungsgericht Braunschweig unanfechtbar, besteht kein sachlicher Grund mehr, die vorliegend streitgegenständliche Abschiebungsandrohung zu suspendieren.

Da die Antragsgegnerin die Vollziehung der gegenüber den Antragstellern erlassenen Abschiebungsandrohung nicht in entsprechender Weise ausgesetzt hat, sondern sich auf eine Umsetzung der Rechtsprechung zum Erfordernis eines wirksamen Rechtsbehelfs gegen eine Rückkehrentscheidung beschränkt hat, ist der "verfahrensmäßige Gleichklang" durch das Gericht herzustellen. Dieser Gleichklang wird dadurch gewährleistet, dass die angeordnete aufschiebende Wirkung abweichend von § 80b Abs. 1 VwGO bereits endet, wenn die von der Antragsgegnerin gegenüber der Ehefrau bzw. Mutter der Antragsteller erlassene Abschiebungsandrohung unanfechtbar wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Der Unterliegensanteil der Antragstellerinnen infolge der tenorierten Maßgabe ist im Sinne dieser Bestimmung als gering anzusehen. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 80 AsylG).