Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 16.06.2000, Az.: 4 M 1928/00

Aufenthaltsbefugnis; Aufenthaltsort; Aufenthaltsortswechsel; Ausländer; Familienschutz; Freizügigkeit; Freizügigkeitsbeschränkung; Hilfe zum Lebensunterhalt; Kürzung; Ortswechsel; räumliche Beschränkung; Schutz der Familie; Sozialhilfe; unabweisbar gebotene Hilfe

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
16.06.2000
Aktenzeichen
4 M 1928/00
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2000, 42032
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 04.05.2000 - AZ: 7 B 1880/00

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Der Grundsatz des Schutzes der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) kann bei einer 87-jährigen blinden Ausländerin mit Aufenthaltsbefugnis, die auf Pflege durch ihren in ein anderes Bundesland umgezogenen Sohn angewiesen ist, die Anwendung des § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG ausschließen.

Gründe

1

Aus diesen Gründen ist die zugelassene Beschwerde auch begründet. Die Antragstellerin hat Anordnungsgrund und -anspruch glaubhaft gemacht. Sie kann gemäß §§ 11, 12 BSHG beanspruchen, dass ihr die Antragsgegnerin -- wie bis zum 31. März 2000 -- auch weiterhin laufende Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt. Dieser Anspruch ist aus den im Folgenden erörterten Gründen nicht gemäß § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG ausgeschlossen.

2

Die Antragstellerin ist im Besitz einer bis zum 25. Mai 2001 gültigen, im Land Nordrhein-Westfalen erteilten, Aufenthaltsbefugnis und lebt im Haushalt ihres Sohnes, der über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis verfügt, im Bereich der Antragsgegnerin. Die danach vom Verwaltungsgericht angenommenen Beschränkungen des Hilfeanspruchs der Antragstellerin gemäß § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG stehen aber wegen der Besonderheiten ihrer Lebenssituation ihrem Hilfebegehren nicht entgegen.

3

Zwar ist die Anwendung der Beschränkungen des § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG hier nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil zugunsten der Antragstellerin das Europäische Fürsorgeabkommen vom 11. Dezember 1953 (BGBl. II 1956 S. 564) in Verbindung mit Art. 1, 2 des Zusatzprotokolls zu diesem Abkommen zu beachten wäre (vgl. dazu Beschl. d. Sen. v. 28.5.1998 -- 4 M 2534/98 --, FEVS 49, 118 = NVwZ-Beilage 1998, 116). Denn diese Bestimmungen greifen zugunsten der Antragstellerin -- die iranische Staatsangehörige ist und erfolglos Asyl beantragt hat -- nicht ein.

4

Die in § 120 Abs. 5 BSHG geregelten Beschränkungen des Anspruchs auf Sozialhilfe haben im vorliegenden Fall aber hinter dem in Art. 6 Abs. 1 GG angeordneten Schutz der familiären Beziehungen der Antragstellerin zu ihrem Sohn zurück zu stehen (ebenso zum Schutz der Ehe: Beschl. d. Sen. v. 10.10.1997 -- 4 M 4424/97 -- u. v. 11.8.1998 -- 4 M 3575/98 -- <zu §§ 10 a, 11 Abs. 2 AsylbLG>). Der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG umfasst auch das Verhältnis zwischen Eltern und ihren volljährigen Kindern (BVerfG, Urt. v. 5.2.1981 -- 2 BvR 646/80 --, BVerfGE 57, 170). Eine familiäre Beziehung kann auch in dieser (späten) Phase Beistandspflichten begründen und insoweit vom Staat zu schützen sein. Interessen der Grundrechtsträger und widerstreitende öffentliche Interessen sind gegebenenfalls gegeneinander abzuwägen. Im vorliegenden Fall ist deshalb eine Abwägung geboten zwischen dem öffentlichen Interesse, zum Zwecke der möglichst gleichmäßigen Belastung der Sozialhilfeträger eine diese gefährdende "Binnenwanderung" sozialhilfebedürftiger Ausländer möglichst zu vermeiden, und dem Interesse der Antragstellerin, bei ihrem Sohn zu wohnen und dadurch Pflege und Hilfe von ihm zu erhalten.

5

Im vorliegenden Fall sprechen die folgenden außergewöhnlichen Umstände für ein Überwiegen der (privaten) Interessen der Antragstellerin daran, in Hannover und damit bei ihrem Sohn wohnen zu können: Die hoch betagte (geb. am 23.9.1912) und blinde Antragstellerin zog vor einigen Jahren aus dem Iran nach Deutschland zu ihrem Sohn, der eine Aufenthaltserlaubnis hat; ihr selbst wurde nach Abschluss des Asylverfahrens aus humanitären Gründen eine Aufenthaltsbefugnis erteilt, die noch knapp ein Jahr Gültigkeit hat. Nachdem ihr Sohn in den Raum Hannover verzogen war, um -- nach ihrer Schilderung -- hier den Lebensunterhalt für sich und seinen eigenen Sohn (der noch zur Schule geht) besser verdienen zu können, zog die Antragstellerin ihm nach und lebt seitdem weiter mit ihm in Haushaltsgemeinschaft. Sie ist wegen ihres Alters und ihrer Gebrechen und auch deshalb auf seine Hilfe angewiesen, weil sie in Deutschland die Kultur- und Lebensverhältnisse nicht kennt und vor allem die Sprache nicht versteht. Die Pflege und Hilfe ihres Sohnes kann sie in Nordrhein-Westfalen von ihm nicht erwarten, weil er zum Zurück-/Umziehen dorthin nicht bereit ist; die notwendige Hilfe könnte sie in Nordrhein-Westfalen, wenn sie allein dorthin zurück ziehen müsste, wegen ihres Alters und ihrer Gebrechen und weil sie an die hiesigen Verhältnisse -- wie geschildert -- nur unzureichend gewöhnt ist, dort nur unzureichend erhalten.

6

Die Entscheidung des Sohnes der Antragstellerin, im Raum Hannover zu bleiben und nicht (mit seiner Mutter) nach Nordrhein-Westfalen zurück- bzw. umzuziehen, ist nachvollziehbar: Er lebt im Raum Hannover seit Jahren und rechnet dort mit besseren Chancen für seine Berufstätigkeit. Überdies besucht dort sein Sohn die Schule und lebt dort (in Barsinghausen, etwa 25 km entfernt) eine iranische Freundin von ihm, die er heiraten will, mit ihren drei Kindern.

7

Wegen der geschilderten Umstände hat der Wunsch der Antragstellerin, bei ihrem Sohn wohnen bleiben zu können, ein hohes Gewicht. Dieser Wunsch ist auf die Erhaltung der familiären Beziehung zu ihrem (volljährigen) Sohn, insbesondere auf die Sicherung des Beistands, den sie von ihm erhält, gerichtet und deshalb nach Art. 6 Abs. 1 GG zu schützen. Bei der gebotenen Interessenabwägung überwiegen die familiären Belange der Antragstellerin (und ihres Sohnes) das öffentliche Interesse an der Vermeidung einer unerwünschten "Binnenwanderung" und einer Belastung der Antragsgegnerin durch die der Antragstellerin zu gewährende Sozialhilfe, zumal diese Belastung durch den (zeitlich begrenzten) Erstattungsanspruch der Antragsgegnerin gegen den Sozialhilfeträger in Nordrhein-Westfalen gemildert ist (§ 107 BSHG).