Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 07.06.2000, Az.: 1 K 5240/98
Abwägung; Bebauungsplan; Erweiterung; Friedhof; Friedhofserweiterung; Normenkontrollantrag; Normenkontrolle; Normenkontrollverfahren
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 07.06.2000
- Aktenzeichen
- 1 K 5240/98
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2000, 42104
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 47 VwGO
- § 1 BauGB
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Bei der Planung der Erweiterung eines Friedhofs darf die Möglichkeit der Wiederbelegung aufgelassener Gräber, die allgemeine Verkürzung der Belegungsdauer und die vermehrte Nachfrage nach Urnenbeisetzungen nicht unberücksichtigt bleiben, wenn die Erweiterung Flächen Dritter in Anspruch nehmen soll.
Tatbestand:
Die Antragsteller wenden sich im Normenkontrollverfahren gegen den Bebauungsplan Nr. 2 "Friedhof", mit dem der Antragsgegner eine Erweiterung des bestehenden Friedhofs in H Richtung Norden unter teilweiser Einbeziehung von Gartenflächen der Antragsteller verfolgt.
Die bekannten Grundstücke der Antragsteller grenzen im rückwärtigen bzw. seitlichen Gartenbereich an den nördlich der P Straße (Landesstraße ...) gelegenen Friedhof von H, der seit über 100 Jahren an dieser Stelle besteht. Der Friedhof ist im vorderen und mittleren Bereich (von der Straße bis zur Kapelle) relativ dicht belegt. Westlich des Hauptweges befindet sich ein schmaler Grünbereich. Im nördlichen Friedhofsbereich liegen zwei größere Flächen, die in den letzten Jahren freigewordene sowie noch einige belegte Gräber enthalten.
Im Flächennutzungsplan des Antragsgegners vom 5. Oktober 1979 ist der gesamte Bereich zwischen der P Straße im Süden, der Wohnbebauung (allgemeines Wohngebiet) im Osten und dem Gewässerlauf der H im Norden als Friedhofsfläche dargestellt. Nach Westen hin grenzt die Friedhofsfläche nicht unmittelbar an die Wohn- und Wirtschaftsbebauung (Dorfgebiet), sondern an eine dazwischen dargestellte Gartenfläche.
Der angefochtene Bebauungsplan umfasst den im Südosten des Siedlungskerns von H gelegenen Bereich zwischen der H im Norden, der Straße N im Westen, der P Straße im Süden und der Wohnbebauung an der Straße K im Osten. Die Grundstücke der Antragsteller liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplanes. Mit der Planung soll die bisherige Friedhofsfläche von insgesamt 3853 qm etwa verdoppelt werden. Dabei werden vom Grundstück des Antragstellers zu 1) ... etwa 170 qm, vom Antragsteller zu 2) ... 1330 qm und vom Antragsteller zu 3) rd. 1360 qm Fläche einbezogen. Der Friedhof zieht sich nach Norden bis fast an die H heran. Dazwischen liegt eine öffentliche Grünanlage. Zur Abschirmung sind am Rande des Frieshofs Pflanzstreifen festgesetzt. Der vordere bebaute Bereich des Grundstück des Antragstellers zu 1) ist als allgemeines Wohngebiet, die im Planbereich gelegene Bebauung entlang der Straße N als Dorfgebiet ausgewiesen. Die Entfernung des Wohnhauses des Antragstellers zu 2) von der neuen Friedhofsgrenze beträgt 50 m, diejenige des Wohnhauses des Antragstellers zu 3) 45 m, diejenige des Wohnhauses des Antragstellers zu 1) nach Nordwesten 17 m, nach Westen 23 m und nach Süden (bereits gegenüber dem alten Friedhof, auf dem sich auch die 1980 errichtete Friedhofskapelle befindet) etwa 8 m.
Der Normenkontrollantrag hatte Erfolg.
Entscheidungsgründe
Der Bebauungsplan leidet jedoch an einem materiellen Fehler, der zur Nichtigkeit führt.
Entgegen der Auffassung der Antragsteller ist die angegriffene Planung zwar im Sinne des § 1 Abs. 3 BauGB "erforderlich". Dafür reicht es aus, dass eine Gemeinde eine den Planungsgrundsätzen des § 1 Abs. 1, 3 und 5 BauGB entsprechende Plankonzeption hat und es vernünftigerweise geboten ist, diese durch einen Bebauungsplan zu sichern und durchzusetzen. Im Rahmen ihrer Aufgabe, die planerische Konzeption festzulegen und städtebauliche Schwerpunkte zu setzen, hat die Gemeinde ein weites planerisches Ermessen (vgl. BVerwG, Urt. v. 7.5.1971 -- 4 C 76.68 -- BRS 24 Nr. 15; Beschl. v. 16.1.1996 -- 4 NB 1.96 -- BRS 58 Nr. 1). Ein Bebauungsplan ist daher erst dann nicht erforderlich, wenn seine Aufstellung offensichtlich deshalb ein grober Missgriff ist, weil eine solche Plankonzeption gar nicht existiert und/oder in Wahrheit nicht die vorgegebenen städtebaulichen Planungs-, sondern andere Ziele, beispielsweise die Förderung allein privater Interessen, verfolgt und verwirklicht werden sollen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 16.12.1988 -- 4 NB 1.88 --, NVwZ 1989, 464; Urt. v. 14.7.1972 -- 4 C 8.70 --, BVerwGE 40, 258). Danach ist der hier angegriffene Bebauungsplan im Rechtssinne erforderlich. Die Erweiterung soll u.a. den Bedarf an Friedhofsflächen für die Zukunft sichern, den Friedhof als wichtige öffentliche Grünfläche im Dorf erlebbar machen und durch grünordnerische Maßnahmen das Nebeneinander von Friedhofsnutzung und Wohn- bzw. gemischter Nutzung regeln. Damit ist den Anforderungen an die Erforderlichkeit der Planung nach vorgenannten Kriterien Genüge getan. Darüber hinaus macht das langjährige fruchtlose Bemühen um den freihändigen Erwerb von Erweiterungsflächen deutlich, dass es zur Bewältigung der mit der Friedhofserweiterung zusammenhängenden Konflikte der Bauleitplanung bedarf. Das Vorliegen zwingender Gründe für die Planung setzt das Merkmal der Erforderlichkeit demgegenüber nicht voraus (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 16.1.1985 -- 10 C 13/84 --, BRS 44 Nr. 15). Ob für die konkrete Planung nach Art und Umfang ein Bedarf besteht, entscheidet sich nicht auf der Ebene des § 1 Abs. 3 BauGB, sondern im Rahmen der Abwägung nach § 1 Abs. 6 BauGB.
Die Abwägung des Antragsgegners gemäß § 1 Abs. 6 BauGB ist allerdings mit Fehlern behaftet, die zur Nichtigkeit des Bebauungsplanes führen. Die maßgeblichen Gesichtspunkte für die Abwägung ergeben sich aus der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. Dezember 1969 (-- 4 C 105.66 --, BVerwGE 34, 301, 309). Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen: Eine sachgerechte Abwägung muss überhaupt stattfinden. In diese muss eingestellt werden, was nach Lage der Dinge in sie eingestellt werden muss. Dabei darf die Bedeutung der betroffenen privaten Belange nicht verkannt und muss der Ausgleich zwischen den von der Planung betroffenen öffentlichen Belangen in einer Weise vorgenommen werden, der zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange im Verhältnis steht. Innerhalb des so gezogenen Rahmens wird das Abwägungsgebot nicht verletzt, wenn sich die Gemeinde in der Kollision zwischen verschiedenen Belangen für die Bevorzugung des einen und damit notwendig für die Zurückstellung einen anderen entscheidet. Wenn ein Bebauungsplan für bisher privat genutzte Grundstücke im öffentlichen Interesse Flächen für die Erweiterung eines Friedhofs vorsieht, bedarf es auch mit Rücksicht auf etwaige Entschädigungsansprüche im Rahmen der Abwägung grundsätzlich zwar keiner (vorgezogenen) Prüfung, ob die Voraussetzungen für eine spätere Enteignung des Grundstücks erfüllt sind (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 22.6.1998 -- 8 S 1950/97 -- (Juris) unter Hinweis auf BVerwG, Urt. v. 11.3.1998 -- 4 BN 6.98 --; Beschl. v. 25.8.1997 -- 4 BN 4.97 --, ZfBR 1997, 328 = UPR 1998, 33 [BVerwG 25.08.1997 - BVerwG 4 NB 4.97]; Beschl. v. 21.2.1991 -- 4 NB 16.90 --, VBlBW 1991, 428). Andererseits darf die Gemeinde bei ihrer Abwägung die Augen nicht davor verschließen, dass die betroffenen Grundstückseigentümer nicht ohne weiteres bereit sein werden, die benötigten Flächen freihändig an die Gemeinde zu veräußern. Sie muss sich somit der entfallenden Privatnützigkeit der Flächen bewusst sein. Deshalb ist die Ausweisung einer Gemeinbedarfsfläche auf einem Privatgrundstück nur dann im Ergebnis mit dem Abwägungsgebot vereinbar, wenn sich für Anlass und Ausmaß der Festsetzung hinreichend gewichtige Belange anführen lassen. Ferner muss die Gemeinde sich jedenfalls mit naheliegenden Planungsalternativen befasst haben (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 22.6.1998 -- 8 S 1950/97 -- v.n.b.).
Diesen Anforderungen ist der Antragsgegner nicht gerecht geworden. Zwar hat er sich mit den abwägungserheblichen Belangen der Antragsteller auseinandergesetzt. Er hat diese allerdings fehlerhaft gewichtet, weil er von unzutreffenden Voraussetzungen ausgegangen ist.
Maßgeblich krankt die Planung daran, dass der vom Antragsgegner in der Begründung des Bebauungsplanes genannte dringende Bedarf an zusätzlichen Friedhofsplätzen in dem mit der Planung verfolgten Ausmaß tatsächlich nicht besteht. Fehlerhaft ist bereits die der Abwägungsentscheidung zugrundegelegte Darstellung in der Planbegründung, dass nach Berechnungen des Bauamtes aus dem Jahre 1993 die verfügbare Friedhofsfläche für Doppelgräber bis 1998/99, für Urnengräber bis 2000, für Einzelgräber jedoch nur bis Ende 1995 ausreichen (S. 5 der Begründung). Die für Einzelgräber in Bezug genommene Zeitvorgabe in der Berechnung des Bauamtes vom 15. Juni 1993 bezog sich nämlich lediglich auf die 1993 noch vorhandenen unbelegten Einzelgräber und berücksichtigt -- entgegen der Darstellung in der Begründung -- nicht die Möglichkeit der Wiederbelegung in einem hierfür neu angelegten Grabquartier. Ausweislich des Aktenvermerks vom 15. Juni 1993 stünde bei jährlich benötigten 12 Grabstellen bei Beibehaltung der bisherigen Belegungsform bis zum Jahre 2003, bei großzügiger Wege- und Grünzone bis zum Jahr 2000 ausreichend Platz zur Verfügung. Im Vermerk heißt es außerdem, dass die Zahl der Urnenbestattungen in den letzten Jahren angestiegen sei.
Nach den Angaben in der Begründung des Bebauungsplanes hätten demgegenüber mittlerweile sämtliche Friedhofsplätze belegt sein müssen. Der Senat hat bei seiner Ortsbesichtigung festgestellt, dass dies entsprechend den Berechnungen des Antragsgegners tatsächlich nicht der Fall ist. Zwar ist der Friedhof im Bereich zwischen der P Straße bis zur Kapelle relativ dicht belegt, auch der westlich des Hauptweges gelegene schmale Grünbereich steht nach den Angaben des Antragsgegners demnächst für eine Belegung an. Demgegenüber sind die im nördlichen Friedhofsbereich gelegenen Grabfelder kaum belegt. Der Senat hat bei der Ortsbesichtigung die Überzeugung gewonnen, dass der von dem Antragsgegner behauptete dringende Erweiterungsbedarf auch unter Berücksichtigung von im langjährigen Mittel konstatierten 10 Erdbestattungen und mindestens 12 Urnenbestattungen jährlich nicht gegeben ist. Anhaltspunkte dafür, dass der Bedarf in absehbarer Zeit sprunghaft steigen könnte, wurden vom Antragsgegner auch in der mündlichen Verhandlung nicht vorgetragen. Im Gegenteil wird durch die vermehrte Nachfrage nach Urnenbeisetzungen und die Verkürzung der Belegungsdauer der Bedarf an Belegungsflächen vermindert. Auch die Besiedlung eines Neubaugebietes führt aufgrund der Altersstruktur (regelmäßig junge Familien deren "Sesshaftigkeit bis zum Tode" nicht -- verlässlich -- vorhergesagt werden kann) auf absehbare Zeit nicht zu einem höheren Bedarf an Friedhofsflächen.
Der Umstand, dass der Friedhof bei der bisherigen Art und Weise der Belegung noch nicht "aus den Nähten platzt", führt allerdings nicht ohne weiteres zur Nichtigkeit des Bebauungsplanes aufgrund fehlenden Bedarfs. Es ist zu berücksichtigen, dass der Friedhof vor mehr als 100 Jahren angelegt worden ist, als Gräber noch mit der Schaufel ausgehoben wurden und deshalb relativ dicht nebeneinander angeordnet werden konnten. Der heutzutage übliche Einsatz von Grabbaggern beim Ausheben der Grabstellen erfordert demgegenüber größere Abstände zwischen den Grabreihen, um hinreichend Platz zum Rangieren zu haben. Deshalb sind bei der Bedarfsberechnung die heutigen Bestattungsgewohnheiten zugrunde zu legen. Gleiches gilt für die geänderten Anforderungen an die Friedhofsgestaltung, die ebenfalls eine Abkehr von der bisherigen Belegungsdichte rechtfertigen können. So ist der Wunsch des Antragsgegners, Grünzonen im Friedhofsbereich zu schaffen, grundsätzlich nicht zu beanstanden.
Fehlerhaft ist die Abwägungsentscheidung des Rates des Antragsgegners aber deshalb, weil sie hinsichtlich des Bedarfs an Friedhofsflächen nicht (mehr) auf den Vermerk des Bauamtes vom 15. Juni 1993 hätte gestützt werden dürfen. Abgesehen davon, dass der Inhalt des Vermerks der Abwägungsentscheidung nicht in zutreffender Weise zugrundegelegt worden ist, weil die Möglichkeit der Wiederbelegung aufgelassener Gräber keine Berücksichtigung gefunden hat, hätte es im Zeitpunkt der Abwägungsentscheidung einer erneuten Bestandsaufnahme und Bedarfsprognose bedurft. Denn zu diesem Zeitpunkt (nahezu fünf Jahre nach der Bedarfsberechnung des Bauamtes) war bereits augenfällig, dass im nördlichen Friedhofsbereich eine Vielzahl von Flächen zur Wiederbelegung zur Verfügung stand. Dies hätte bei der Abwägung Berücksichtigung finden müssen. Vor dem Hintergrund der Belegungssituation im Zeitpunkt der Abwägungsentscheidung und der für die Zukunft absehbaren Entwicklung (vermehrte Nachfrage nach Urnenbeisetzungen mit geringerem Platzbedarf als Erdbestattungen, Verkürzung der Belegungsdauer) war die Friedhofserweiterung auf nahezu das Doppelte der bisherigen Fläche auch in Anbetracht der Berechtigung des Antragsgegners, auf längere Sicht Vorsorge zu treffen, nicht gerechtfertigt. Durch die Darstellung der streitigen Erweiterungsflächen im Flächennutzungsplan war der Antragsgegner der Bedarfsprüfung und hierauf bezogenen Abwägung im Einzelfall ebenso wenig enthoben wie der nochmaligen Auseinandersetzung mit möglichen Standortalternativen. Die fehlende Auseinandersetzung mit diesen für die Planung grundlegenden Fragen hatte zur Folge, dass der Antragsgegner die Eigentümerinteressen der Antragsteller in ihrer Bedeutung verkannt und nicht hinreichend gewürdigt hat. Denn ein allenfalls eingeschränkt bestehender Bedarf an Erweiterungsflächen stellt keinen gewichtigen Belang dar, der die bei Realisierung einer weit überzogenen Planung entfallende Privatnützigkeit von Grundstücksflächen rechtfertigt.
Die festgestellten Mängel im Abwägungsvorgang sind nach § 214 Abs. 3 Satz 2 BauGB erheblich, weil sie offensichtlich und auf das Abwägungsergebnis von Einfluss gewesen sind. Hätte der Rat des Antragsgegners die vorgenannten Prüfungen vorgenommen, hätte die konkrete Möglichkeit bestanden, dass er -- soweit überhaupt ein Bedarf für die Friedhofserweiterung besteht -- die Eigentümerinteressen der Antragsteller anders gewichtet hätte und an anderer Stelle oder in maßvollerer Weise geplant hätte, das Ergebnis der Abwägung mithin anders ausgefallen wäre (vgl. BVerwG, Beschl. v. 29.1.1992 -- 4 NB 22.90 --, BRS 54 Nr. 15; Urt. v. 21.8.1981 -- 4 C 57.80 --, BVerwGE 64, 33).
Der Bebauungsplan ist insgesamt für nichtig und nicht lediglich gemäß § 215 a Abs. 1 Satz 1 BauGB für unwirksam zu erklären, weil die Abwägungsmängel die Grundzüge der Planung berühren und durch ein ergänzendes Verfahren nicht behoben werden können (vgl. BVerwG, Urt. v. 8.10.1998 -- 4 NC 7.97 --, DVBl 1999, 243).
Der Senat hält es allerdings nicht für ausgeschlossen, dass eine Teilerweiterung des bestehenden Friedhofs -- etwa im westlichen Friedhofsbereich -- nach sorgfältiger Bedarfsprognose, Prüfung von Standortalternativen und mit maßvoll vorgesehenen Grünbereichen abwägungsfehlerfrei geplant werden kann.