Sozialgericht Stade
v. 18.07.2016, Az.: S 29 KR 99/15

Versorgung eines gesetzlich Krankenversicherten mit einem mobilen Sauerstoff-Konzentrator zur Sicherstellung längerfristiger Abwesenheitszeiten von zu Hause

Bibliographie

Gericht
SG Stade
Datum
18.07.2016
Aktenzeichen
S 29 KR 99/15
Entscheidungsform
Gerichtsbescheid
Referenz
WKRS 2016, 23221
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGSTADE:2016:0718.S29KR99.15.0A

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Versorgung des Klägers mit einem mobilen Sauerstoff-Konzentrator zur Sicherstellung längerfristiger Abwesenheitszeiten von zu Hause. Der 1950 geborene und bei der Beklagten gesetzlich gegen das Risiko der Krankheit versicherte Kläger ist aufgrund der Diagnosen einer schweren respiratorischen Insuffizienz, einer COPD (chronisch obstruktive Lungenerkrankung) und eines Übergewichts unabhängig von der jeweiligen Belastung auf eine ständige zusätzliche Sauerstoffversorgung angewiesen. Er ist seit Ende 2012 mit dem Flüssigsauerstoffsystem "Liberator" versorgt. Das System umfasst einen - zu Hause aufgestellten - Standbehälter sowie einen Tragebehälter mit einem Fassungsvermögen von 1,2 Litern. Der Tragebehälter ermöglicht dem Kläger eine Abwesenheit von zu Hause über bis zu sechs Stunden pro Tag. Am 21. Februar 2014 stellte der behandelnde Facharzt für Lungen- und Bronchialheilkunde, Allergologie und Umweltmedizin Dr. F. aufgrund der nunmehr mit chronischobstruktiver Bronchitis (Stadium GOLD III), Lungenemphysem (übermäßige Erweiterung der Lungenbläschen) und obstruktives Schlaf-Apnoe-Syndrom bezeichneten Diagnosen die streitgegenständliche Verordnung über einen mobilen Sauerstoff-Konzentrator (Typ EverGo) aus. Zur Begründung erklärte Dr. F., der Sauerstoff-Konzentrator solle dem Kläger ermöglichen, seine Häuslichkeit über mehrere Tage zu verlassen. Zu der Verwaltungsakte der Beklagten gelangte ein Kostenvoranschlag über einen Gesamtbetrag von 892,50 EUR (Fallpauschale für eine Mietzeit von sechs Monaten; darin enthalten 10,00 EUR Eigenanteil). Die Beklagte lehnte es mit ihrem Bescheid vom 6. März 2014 ab, Kosten für ein solches Gerät zu übernehmen. Es handele sich um ein Hilfsmittel mit vergleichbarer Funktion und vergleichbarem Nutzen wie bei dem bereits zur Verfügung gestellten Liberator. Darüber hinaus könne der Kläger für bis zu 28 Tage im Jahr eine (mobile) Sauerstoff-Urlaubsversorgung in Anspruch nehmen. Der Kläger erhob unter dem 27. März 2014 Widerspruch und trug vor, erst mit einem mobilen Gerät wie dem EverGo die Möglichkeit zu haben, spontan und flexibel über mehrere Tage unterwegs zu sein. Im Anschluss an weiteren Schriftverkehr wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers mit dem Widerspruchsbescheid vom 23. April 2015 zurück. Zur Begründung führte die Beklagte aus, den Kläger mit dem Liberator bereits ausreichend mobil gemacht zu haben. Eine zusätzliche antragsgemäße Bewilligung des EverGo sei geeignet, zu einer das Maß des Notwendigen überschreitenden Doppelversorgung zu führen. Die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung sei darauf beschränkt, die allgemeinen Grundbedürfnisse des täglichen Lebens zu befriedigen. Dagegen richtet sich der Kläger, der parallel ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes betrieben hat (zum Az. S 29 KR 16/15 ER), mit seiner am 7. Mai 2015 eingegangenen Klage. Zur Begründung beruft sich der Kläger auf seine Aktivitäten als Rentner. Er betreue und berate Mitglieder der G. in Schwerbehinderten-Angelegenheiten im Großraum H ... Darüber hinaus sei er im Vorstand des Arbeitskreises der Schwerbehinderten in I. tätig. Beides sei mit Reisen und Übernachtungen verbunden. Die von der Beklagten angebotene Versorgung mit einem mobilen Gerät über 28 Urlaubstage im Jahr sei nicht ausreichend. Zudem sei es nicht zulässig, die angebotenen 28 Tage zu stückeln.

Der Kläger begehrt sinngemäß nach seinem Vorbringen im schriftlichen Verfahren, 1. den Bescheid der Beklagten vom 6. März 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. April 2015 aufzuheben und

die Beklagte zu verurteilen,

2. ihm einen mobilen Sauerstoff-Konzentrator (Typ EverGo) als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung ohne zeitliche Beschränkung zur Verfügung zu stellen. Die Beklagte beantragt schriftsätzlich, die Klage abzuweisen. Die Beklagte bezieht sich auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid. Die Kammer hat die Beteiligten mit ihrem Gerichtsschreiben vom 28. Juli 2015 auf die Absicht hingewiesen, die Instanz im Wege eines Gerichtsbescheides abzuschließen. Äußerungen zur Sache sind daraufhin nicht mehr erfolgt. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und wegen des weiteren Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen. Des weiteren verweist die Kammer auf die Gerichtsakte zu dem bereits erwähnten einstweiligen Rechtsschutzverfahren S 29 KR 16/15 ER und den dort unter dem 26. Mai 2015 ergangenen, ablehnenden Beschluss.

Entscheidungsgründe

Die Kammer konnte über den Rechtsstreit einerseits ohne Beteiligung der ehrenamtlichen Richter und andererseits ohne mündliche Verhandlung nach Aktenlage entscheiden. § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eröffnet diese Möglichkeit, wenn sich bei geklärtem Sachverhalt keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art stellen. Diese Voraussetzungen sieht die Kammer im Falle des Klägers als erfüllt an, nämlich den Sachverhalt als - soweit für die Rechtsanwendung erforderlich - ausreichend geklärt und besondere Schwierigkeiten im Sinne der Vorschrift des § 105 SGG als zu verneinen. Die vom Kläger erstrebte Ausstattung mit einem ganztägig bzw. mehrtägig transportablen Sauerstoff-Konzentrator (EverGo) überschreitet das Maß der von der Beklagten sicherzustellenden Ausstattung mit Hilfsmitteln. Die Berechtigung des vom Kläger geltend gemachten Leistungsanspruchs war anhand der Vorschrift des § 33 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) zu prüfen. Nach Abs. 1 Satz 1 dieser Norm haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Der Anspruch besteht nicht, soweit diese Hilfsmittel als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen sind oder soweit der ermächtigte Verordnungsgeber einen ausdrücklichen Ausschluss wegen geringen oder umstrittenen therapeutischen Nutzens oder wegen geringen Abgabepreises ausgesprochen hat, § 34 Abs. 4 SGB V. Entsprechend dem für alle Bereiche des Leistungsrechts geltenden Gebot des § 12 Abs. 1 SGB V müssen auch die Leistungen nach § 33 SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein. Sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Zur Konkretisierung dieser allgemeinen Vorgaben hat die Rechtsprechung eine Differenzierung zwischen Hilfsmitteln des unmittelbaren und Hilfsmitteln des mittelbaren Behinderungsausgleichs eingeführt. Soweit der unmittelbare Behinderungsausgleich betroffen ist, also Hilfsmittel den Zweck haben, eine Körperfunktion zu ersetzen wie etwa eine Arm- oder Beinprothese, soll ein Ausgleich im Sinne eines vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten eines nicht behinderten Menschen geschaffen werden. Wird dagegen durch ein Hilfsmittel lediglich mittelbar die direkte oder indirekte Folge einer Behinderung ausgeglichen, etwa durch einen Rollstuhl oder einen Rollator, beschränkt sich die Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung auf die Auswirkungen auf die allgemeinen Grundbedürfnisse des täglichen Lebens. Zu diesen allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens zählt etwa für die Frage der Mobilität die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraumes. Anknüpfungspunkt für die Reichweite dieses gewissen Freiraumes vor allem in körperlicher Hinsicht ist zunächst lediglich der Nahbereich der Wohnung. Damit ist in quantitativer Hinsicht in etwa ein Bewegungsradius angesprochen, den ein Nichtbehinderter üblicherweise zu Fuß zurücklegt oder den ein behinderter Mensch mit einem von ihm selbst betriebenen Aktivrollstuhl erreichen kann. In qualitativer Hinsicht sollte das Hilfsmittel vor allem sicherstellen, Versorgungswege zu öffentlichen Einrichtungen, Ärzten und zum Einkaufen zurücklegen zu können, kurze Spaziergänge an der frischen Luft zu absolvieren sowie Gänge zu Nachbarn oder zum Zeitungskiosk zu unternehmen, um ein Mindestmaß an Kommunikation zu erreichen und elementare Informationsbedürfnisse zu befriedigen. Jeweils müssen die Wege von besonderer Bedeutung für die physische und psychische Gesundheit des Versicherten sein. Ausnahmsweise wird eine über den Nahbereich hinausgehende Mobilität als Grundbedürfnis dann anerkannt, wenn es um die Integration von Kindern und Jugendlichen in den Kreis Gleichaltriger geht (vgl. zu alledem Urteil des BSG vom 10. November 2005, Az.: B 3 KR 31/04 R, abgedruckt in: SozR 4-2500, § 33 Nr. 10; Urteil des LSG Sachsen vom 21. September 2011, Aktenzeichen L 1 KR 226/10; Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 11. Dezember 2014, Az.: L 4 KR 485/14 B ER sowie bereits BSG-Urteil vom 26. Juni 1990, Az.: B 3 RK 26/88; außerdem Butzer in: Becker/Kingreen, Kommentar zur gesetzlichen Krankenversicherung, § 33 SGB V Rn 20 mwN). Diesen Vorgaben entsprechend ist der im Streit befindliche Sauerstoff-Konzentrator (EverGo) zunächst im Ausgangspunkt als Hilfsmittel des mittelbaren Behinderungsausgleichs einzuordnen und deshalb von der Beklagten lediglich in Bezug auf die Grundbedürfnisse des täglichen Lebens zu finanzieren. Der Konzentrator ersetzt nämlich nicht das Atemorgan und wirkt auch nicht in einer Weise mit ihm zusammen, dass man von einer Funktionseinheit sprechen könnte. Es bedarf vielmehr ungeachtet dieses Hilfsmittels weiterhin aller für den Gasaustausch notwendigen Körperteile, also der Mund- und Nasenöffnungen, des Rachens, des Kehlkopfes, der Luftröhre, der Bronchien und der Lunge. Der Konzentrator unterstützt durch die Zufuhr der durch einen chemischen Prozess aufbereiteten Atemluft nur indirekt die Lungenfunktion. Er macht das Funktionieren der Atemorgane jedoch weder ganz noch teilweise entbehrlich. Er ist in seinem Verhältnis zu den Atemorganen nicht mit einem Herzschrittmacher im Verhältnis zum Pumporgan zu vergleichen. Denn der Konzentrator arbeitet nicht im Rahmen der körpereigenen Funktion, vielmehr im Vorwege und getrennt von den Körpermechanismen durch eine außerhalb des menschlichen Körpers bewirkte Erhöhung des Sauerstoffgehalts der Atemluft (auf etwa 96%). Der Sauerstoff-Konzentrator saugt zu diesem Behufe Luft durch ein Filtersystem an und entfernt Mikroorganismen und Staub. Die gereinigte Luft wird verdichtet und der enthaltene Stickstoff durch eine Filtermembran oder ein Molekularsieb abgetrennt. Im nächsten Arbeitsschritt wird das Filtersystem regeneriert, in dem der anhaftende Stickstoff ausgetrieben wird. Um einen kontinuierlichen Gasstrom zu erzielen, arbeiten viele Systeme mit mehreren Modulen, die abwechselnd filtern und regenerieren (vgl. Wikipedia "Sauerstoff-Konzentrator"). In der Gesamtschau des Falles liegt die Zielrichtung gerade des Sauerstoff-Konzentrators EverGo statt des Liberator darüber hinaus weniger in der Verbesserung der Atemfunktion als in der - zweifelsohne nur mittelbar bewirkten - Erweiterung der Mobilität. Die Kammer verneint auf der Grundlage eines (nur) mittelbaren Behinderungsausgleichs eine Zuordnung des vom Kläger gewünschten zusätzlichen Freiraums zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens. Vielmehr sieht es die Kammer als auf der Grundlage der ergangenen Rechtsprechung folgerichtig an, die Mobilität über ein Kontingent von sechs Stunden pro Tag hinaus, also jenseits des mit dem Liberator schon sichergestellten Kontingents, als Fall für eine aus privaten Mitteln zu tragende Erweiterung der Mobilitätsbedürfnisse oder aber - hier nicht näher zu prüfen - als denkbaren Fall einer beruflichen oder sonstigen sozialen Rehabilitation anzusehen. Mit einer pro Tag sechsstündigen Bewegungsfreiheit sind genügende Wegstrecken zu öffentlichen Einrichtungen, Ärzten, Einkaufsgelegenheiten und einer Vielzahl von Veranstaltungen abgedeckt, eher schon über den skizzierten Nahbereich der Wohnung hinaus. Auf der Basis der getroffenen ablehnenden Entscheidung brauchte die Kammer nicht darüber zu befinden, ob eine Stückelung der von der Beklagten - für die Durchführung eines jährlichen längeren Erholungsurlaubs - veranschlagten Sonderversorgung in Betracht zu ziehen ist. Die Kostenentscheidung folgt aus der Anwendung der §§ 183, 193 Abs. 1 SGG.