Sozialgericht Stade
Urt. v. 28.11.2016, Az.: S 29 KR 56/16
Kostenübernahme für eine Brustkorrektur als Anspruch eines Versicherten auf Krankenbehandlung
Bibliographie
- Gericht
- SG Stade
- Datum
- 28.11.2016
- Aktenzeichen
- S 29 KR 56/16
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2016, 32401
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGSTADE:2016:1128.S29KR56.16.0A
Rechtsgrundlage
- § 27 Abs. 1 S. 1 SGB V
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Kostenübernahme für eine Brustkorrektur. Die 1987 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich gegen das Risiko der Krankheit versichert. Bei einer Körpergröße von 1,72 m und einem Körpergewicht zwischen 95 und 100 kg zeigt sich eine mit der Körbchengröße A unterentwickelte Brustgröße. Der Brustkomplex lässt sich als auseinanderstehend, tubulär (schlauchförmig) mit zitzenförmigen Brustwarzen und mit - rechts größer als links bestehender - Asymmetrie beschreiben. Am 13. April 2015 ging bei der Beklagten der Antrag der Klägerin ein, die Kosten für eine operative Brustkorrektur im Sinne einer Mamma-Aufbauplastik beidseitig zu übernehmen. Dem Antrag waren der Bericht der (privat geführten) Klinik am Opernplatz Hannover vom 31. März 2015 sowie eine Bilddokumentation beigefügt. Im Nachgang reichte die Klägerin den Kostenvoranschlag vom 13. April 2015 des in der Klinik am Opernplatz tätigen Dr. K. ein. Es handelte sich bei dem Voranschlag um eine privatärztliche Honorarvereinbarung über Gesamtkosten in Höhe von 5.989,67 EUR. Die Beklagte ließ daraufhin das Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 30. April 2015 erstellen - durch Dr. L. nach körperlicher Untersuchung am 28. April 2015. In dem Gutachten führte Dr. L. unter anderem aus, die Brüste seien zwar klein, jedoch in Ausprägung und Form als normal einzustufen. Eine krankhafte Veränderung oder gar Missbildung könne nicht festgestellt werden. Es ergebe sich keine Indikation, eine operative Korrektur zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung durchzuführen. Die Beklagte lehnte daraufhin den Antrag auf Kostenübernahme durch ihren Bescheid vom 7. Mai 2015 ab. Die Kläger erhob Widerspruch und legte den Bericht der Medizinischen Hochschule Hannover (Prof. Dr. P. K., Dr. M., Dr. N.) vom 2. Dezember 2015 vor, erstellt nach Vorstellung in der plastisch ästhetisch-chirurgischen Sprechstunde am 23. Juli 2015. In diesem Bericht ist ein starker Leidensdruck in Anbetracht des ausgebliebenen Brustwachstums wiedergegeben, für den eine Hormondysregulation verantwortlich zu machen sein könne. Vorgeschlagen werde eine Augmentationsbehandlung (operative Einpflanzung von Gewebe oder Kunststoff) beiderseits mit silikonhaltigen Implantaten. Die Beklagte beauftragte nochmals den MDK, für den Dr. O. unter dem 16. Dezember 2015 erklärte, die in Rede stehende Korrektur sei aus medizinischer Sicht nicht erforderlich und habe die Bedeutung einer kosmetischen Operation. Die Beklagte wies den Widerspruch daraufhin durch ihren Widerspruchsbescheid vom 22. Februar 2016 zurück. Die beabsichtigte Korrekturoperation zähle nicht zum Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenversicherung. Dagegen richtet sich die am 14. März 2016 beim erkennenden Gericht eingegangene Klage. Zu deren Begründung trägt die Klägerin ergänzend vor, die Beklagte habe die psychischen Belastungen außer Betracht gelassen, die sich in ihrer Partnerschaft und Sexualität zeigten. Der Leidensdruck sei im Wege einer Psychotherapie nicht zu kompensieren.
Die Klägerin beantragt nach ihrem Vorbringen im schriftlichen Verfahren sinngemäß,
- 1.
den Bescheid der Beklagten vom 7. Mai 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Februar 2016 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen,
- 2.
die Kosten für eine operative Brustkorrektur, insbesondere einen Aufbau mit Implantaten, zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte sieht die von ihr getroffene Entscheidung als ungeachtet des Vortrags der Klägerin zu den Auswirkungen auf psychischem Gebiet weiterhin zutreffend an. Die Kammer hat den Sachverhalt ergänzend aufgeklärt und zum einen die Langversionen der bisher lediglich im reduziertem Versandumfang bekannt gewordenen MDK-Gutachten beigezogen, zum anderen Befundberichte des P. (Facharzt für Frauenheilkunde D.) vom 7. Juni 2016 und der Psychotherapeutischen Praxis der Diplom-Psychologin E. vom 26. Juni 2016 beigezogen. Des Weiteren hat das Gericht Frau Dr. C., , mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt, das auf die körperliche Untersuchung vom 21. Juni 2016 unter dem 23. September 2016 erstellt worden ist. Die Beteiligten haben sich mit ihren Schriftsätzen vom 9. und vom 15. November 2016 mit einer Entscheidung des Gerichts nach Aktenlage einverstanden erklärt. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und wegen des weiteren Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen. Diese Akten vorgelegen und sind Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Kammer konnte über den Rechtsstreit ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach Aktenlage entscheiden, weil sich die Beteiligten mit dieser Verfahrensweise zuvor schriftsätzlich einverstanden erklärt hatten, § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist statthaft und zulässig. Die Klage ist als in der Sache unbegründet abzuweisen. Die Klägerin kann von der Beklagten nicht verlangen, zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung Korrekturoperationen der Brüste durchzuführen. Die Kammer verweist die Klägerin auf die Alternativen einer weitergehenden Psychotherapie sowie letztlich einer Inanspruchnahme chirurgischer Operateure auf eigene Kosten.
Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, sofern die Behandlung notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder aber Krankheitsbeschwerden zu lindern. Unter einer Krankheit ist gemäß ständiger Rechtsprechung ein "regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand" zu verstehen, "der einer ärztlichen Behandlung bedarf oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht" (Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 30. September 1999, Az. B 8 KN 9/98 KR R; BSG - Urteil vom 10. Februar 1993, Az. 1 RK 14/92). Die Abweichung vom Leitbild des gesunden Menschen - gleichen Geschlechts und gleicher Altersgruppe - muss sich in einer Beeinträchtigung der Körperfunktionen oder aber in einer entstellenden Wirkung äußern (BSG - Urteil vom 19. Oktober 2004, Az. B 1 KR 3/03 R). Bei zusammenfassender Würdigung des Vortrages der Klägerin, der aktenkundig gemachten Fotos sowie der medizinischen und sozialmedizinischen Äußerungen vermag die Kammer zunächst keine behandlungsbedürftige Funktionseinschränkung zu erkennen. Dabei sind sich unmittelbar auswirkende körperliche Einschränkungen auch gar nicht geltend gemacht worden. Mittelbare Beeinträchtigungen lagen bzw. liegen vor in Gestalt einer von dem Facharzt D. unter dem 7. Juni 2016 bekundeten erheblichen psychischen Belastung - bei depressivem Erschöpfungssyndrom - bzw. in Gestalt einer zunächst "sehr selbstunsicheren Persönlichkeit", so wiedergegeben von der Diplom-Psychologin E. unter dem 26. Juni 2016. Diese mittelbaren Beeinträchtigungen sind jedoch, ebenso wie auf anderen Ursachen beruhende entsprechende Beeinträchtigungen, mit den Mitteln Psychiatrie oder der Psychotherapie unmittelbar zu behandeln. Es kommt jedenfalls grundsätzlich und auch im Falle der Klägerin nicht in Betracht, zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung operativ in einen dem Leitbild der gesunden Vergleichsperson entsprechenden Körperzustand einzugreifen, um auf diesem Wege eine psychische Störung zu beheben oder zu lindern (vgl. Urteile des LSG Niedersachsen-F-Stadt vom 20. Juli 2007, Az. L 4 KR 153/05 sowie vom 2. April 2008, Az. L 4 KR 295/04). Einen solchen Zustand der Gesundheit bejaht die Kammer ungeachtet der Darlegung und Klarstellung der Frau Dr. C., entgegen der Annahme des MDK handele es sich nicht um ein "normales" Erscheinungsbild, sondern um eine "Normvariante". Nur ergänzend verweist die Kammer auf die mit jedem operativen Eingriff verbundenen Risiken, die grundsätzlich unsichere Erfolgsprognose und spezifische Schwierigkeiten, psychische Auswirkungen ärztlicherseits vorgenommener Veränderungen am Körper vorherzusagen. Nach Auffassung der Kammer liegt bei der Klägerin aber auch keine Entstellung vor, die behandlungsbedürftig wäre. Um zu diesem Schluss zu gelangen, sieht die Kammer dabei die Äußerungen der attestierenden Ärzte, die aktenkundig gewordenen Fotos sowie die Ausführungen des MDKN und der Frau Dr. C. als genügend an. Eine Entstellung kann nach der Rechtsprechung erst dann vorliegen, wenn sie schon bei flüchtiger Begegnung in einer alltäglichen Situation, also quasi im Vorbeigehen, bemerkbar ist. Es muss sich objektiv um eine erhebliche Auffälligkeit handeln, die naheliegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier oder Betroffenheit bewirkt und erwarten lässt, dass der Versicherte ständig viele Blicke auf sich zieht, zum Objekt besonderer Beachtung anderer wird und sich deshalb aus dem Leben der Gemeinschaft zurückzieht (vgl. dazu BSG - Urteil vom 28. Februar 2008, bereits zitiert; Urteil des LSG Sachsen-Anhalt vom 16. November 2006, Az. L 4 KR 60/04 mwN und mit den Beispielen: Frau ohne natürliches Kopfhaar/Wangenatrophie - jeweils Entstellung angenommen sowie kahlköpfiger Mann - Entstellung verneint). Derart weitgehende Abweichungen vermag die Kammer nicht zu erkennen. Es handelt sich nicht - worauf es ankäme - um Reaktionen der Öffentlichkeit, die zu einem sozialen Rückzug zwingen würden. Mit dem sich im Falle der Klägerin darstellenden Erscheinungsbild sind nicht Neugier oder Betroffenheit angesprochen, vielmehr Nachsicht und Toleranz der Mitmenschen. Das Schamgefühl betrifft die Klägerin in ihrer speziellen Lebenssituation und ist, sofern nicht aus eigenem Antrieb überwindbar, durch spezielle psychotherapeutische Maßnahmen anzugehen. Abgesehen von den Schwierigkeiten, eine Partnerschaft einzugehen bzw. zu vertiefen, lässt das Gesamtbild im Falle der Klägerin keinen genügenden Raum für die Annahme naheliegender Reaktionen der Mitmenschen in Gestalt von Neugier oder Betroffenheit. Die Diplom-Psychologin E. hat im Übrigen am 26. Juni 2016 ausgeführt, Kurzzeittherapien und therapeutische Gespräche im Vierteljahresabstand hätten zu einer gewissen psychischen Stabilisierung beigetragen. Die Klägerin lebe derzeit erstmals in einer positiven Partnerbeziehung. Zwar verberge sie auch vor diesem Mann ihren Körper mit der Konsequenz, zukünftig Problemsituationen gewärtigen zu müssen. Gleichzeitig gehe sie aber mittlerweile mit dem Thema, eine Brustoperation durchführen zu lassen, innerhalb einer gewissen Öffentlichkeit durchaus offensiv um. Die Kostenentscheidung folgt aus der Anwendung der §§ 183, 193 Abs. 1 SGG.