Sozialgericht Stade
v. 24.10.2016, Az.: S 29 KR 30/14
Anspruch eines gesetzlich Krankenversicherten auf Versorgung mit einer Prothese für den rechten Zeigefinger
Bibliographie
- Gericht
- SG Stade
- Datum
- 24.10.2016
- Aktenzeichen
- S 29 KR 30/14
- Entscheidungsform
- Teilurteil
- Referenz
- WKRS 2016, 29131
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGSTADE:2016:1024.S29KR30.14.0A
Rechtsgrundlagen
- § 12 Abs. 1 SGB V
- § 34 Abs. 4 SGB V
Tenor:
Der Bescheid der Beklagten vom 30.01.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.01.2014 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin auf die Ärztliche Verordnung der Ärztin für Allgemeinmedizin I. vom 03.12.2012 mit einer Prothese für den rechten Zeigefinger zu versorgen. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu übernehmen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Versorgung der Klägerin mit einer Prothese für den rechten Zeigefinger. Bei der 1957 geborenen und bei der Beklagten gesetzlich gegen das Risiko der Krankheit versicherten Klägerin musste im Jahre 2012 infolge einer Geschwürserkrankung eine Teilamputation des rechten Zeigefingers vorgenommen werden. Am 3. Dezember 2012 verordnete die behandelnde Ärztin für Allgemeinmedizin I. eine Fingerprothese aus Silikon nach Maß (Rezept irrtümlich auf den linken statt auf den rechten Zeigefinger bezogen). Die Sanitätshaus J. GmbH erstellte am 4. Januar 2013 einen Kostenvoranschlag betreffend eine "Silicon Fingerprothese Classic" nebst Acrylnagel und Testversorgung über einen Gesamtbetrag von 2.359,79 EUR. Zur Prüfung der Verordnungsfähigkeit schaltete die Beklagte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) ein. Für den MDK erklärte der Arzt für Sozialmedizin K. unter dem 29. Januar 2013, die verordnete Fingerprothese erfülle überwiegend kosmetische Zwecke. Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin auf Kostenübernahme sodann mit ihrem Bescheid vom 30. Januar 2013 ab. Die Klägerin erhob Widerspruch und bezog sich unter anderem auf das Attest der Ärztin I. vom 18. Februar 2013, wonach im Vordergrund der Zweck stehe, die Funktion der rechten Hand zu verbessern. Nach Beiziehung weiterer Berichte, unter anderem der Klinik für Plastische Rekonstruktive Hand- und Fußchirurgie der Aller-Weser-Klinik und des Pathologischen Instituts des Diakoniekrankenhauses Rotenburg-Wümme, äußerte sich der MDK durch den Facharzt L. zunächst unter dem 7. März 2013. Der Facharzt L. führte gutachtlich aus, in Fällen des Verlustes des Endgliedes eines Zeigefinders seien grundsätzlich keinerlei wesentliche funktionelle Vorteile zu erzielen. Eine Prothese führe in diesem Fall lediglich zu einer möglichen Verbesserung des Erscheinungsbildes. Nachdem die Klägerin im weiteren Verlaufe des Widerspruchsverfahrens darauf hingewiesen hatte, in ihrem Fall gehe es nicht lediglich um den Verlust des Endgliedes, vielmehr um den Verlust des End- und des Mittelgliedes des rechten Zeigefingers, und nachdem sie ein Foto vorgelegt hatte, erging das weitere MDK-Gutachten vom 15. Mai 2013, wiederum durch den Facharzt L ... Darin hieß es, auch im Falle der Amputation im Mittelgelenksbereich führe eine Fingerprothese nicht zur Verbesserung der Funktion. Bei Bewegungen sei eine derartige Prothese eher hinderlich als hilfreich. Die verbliebenen Langfinger der rechten Hand seien in der Lage, die Funktion des verlustig gegangenen Zeigefingers zu übernehmen. Die Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin daraufhin durch ihren Widerspruchsbescheid vom 23. Januar 2014 zurück. Die weitergehende Sachaufklärung im Widerspruchsverfahren habe zwar die Erkenntnis eines augenfälligen Verlustes erbracht, entscheidend komme es jedoch auf die Unmöglichkeit an, durch die Versorgung mit der verordneten Prothese einen funktionellen Vorteil zu erreichen. Dagegen richtet sich die am 21. Februar 2014 beim erkennenden Gericht eingegangene Klage. Zu deren Begründung bezieht sich die Klägerin auf ihre zwei zunächst am 23. April und sodann am 4. Mai 2012 durchgeführten Operationen. Sie trägt ergänzend vor, die Beklagte habe den Sachverhalt ungeachtet der zusätzlich gewonnenen Erkenntnisse über das Ausmaß des Verlustes nicht ausreichend gewürdigt.
Die Klägerin beantragt,
- 1.
den Bescheid der Beklagten vom 30. Januar 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Januar 2014 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen,
- 2.
sie auf die Ärztliche Verordnung der Ärztin für Allgemeinmedizin I. vom 3. Dezember 2012 mit einer Prothese für den rechten Zeigefinger zu versorgen.
Die Beklagte und die Beigeladene beantragen übereinstimmend,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte erklärt, in Anbetracht des bei der Klägerin offenbar im Vordergrund stehenden Nutzens der Prothese bei ihrer Erwerbstätigkeit als Hauswirtschaftstrainerin komme der Rentenversicherungsträger als leistungspflichtig in Betracht. Die Kammer hat Dr. C. eingeschaltet, der am 27. April 2015 nach Befragung und Untersuchung der Klägerin ein orthopädisches Gutachten erstattet hat. Des Weiteren hat die Kammer die Deutsche Rentenversicherung Braunschweig-Hannover als für die Klägerin zuständigen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung beigeladen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und wegen des weiteren Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen. Diese Akten haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung, Beratung und Entscheidungsfindung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist statthaft und zulässig. Die Klage erweist sich als in der Sache begründet. Die Beklagte war antragsgemäß zu verurteilen, die Klägerin auf die Ärztliche Verordnung vom 3. Dezember 2012 mit einer Prothese für den rechten Zeigefinger zu versorgen. Eine Verurteilung der Beigeladenen kam demgegenüber nicht in Betracht. Der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch bezieht sich auf die Versorgung mit einem Hilfsmittel. Maßstab für den möglichen Leistungsanspruch des Versicherten ist § 33 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V). Nach Abs. 1 Satz 1 dieser Vorschrift haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Der Anspruch besteht nicht, soweit diese Hilfsmittel als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen sind oder der ermächtigte Verordnungsgeber einen ausdrücklichen Ausschluss ausgesprochen hat, § 34 Abs. 4 SGB V (Hilfsmittel von geringem oder umstrittenem therapeutischem Nutzen oder Hilfsmittel gegen geringen Abgabepreis). Entsprechend dem für alle Bereiche des Leistungsrechts geltenden Gebot des § 12 Abs. 1 SGB V müssen auch die Leistungen nach § 33 SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein. Sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Von den Varianten der Zwecke der Hilfsmittel, also dem Zweck der Sicherung eines Erfolges der Krankenbehandlung, dem Zweck des Vorbeugens gegen eine drohende Behinderung und dem Zweck, eine Behinderung auszugleichen, hat die Kammer als ganz im Vordergrund stehend den letztgenannten Zweck zur Prüfung herangezogen. Innerhalb der Zielrichtung, eine Behinderung auszugleichen, hat die Rechtsprechung zur sachgerechten Handhabung eine Differenzierung zwischen Hilfsmitteln des unmittelbaren und Hilfsmitteln des mittelbaren Behinderungsausgleichs eingeführt. Soweit der unmittelbare Behinderungsausgleich betroffen ist, also Hilfsmittel den Zweck haben, eine Körperfunktion zu ersetzen wie etwa eine Arm- oder Beinprothese, soll ein Ausgleich im Sinne eines vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten eines nicht behinderten Menschen geschaffen werden. Wird dagegen durch ein Hilfsmittel lediglich mittelbar die direkte oder indirekte Folge einer Behinderung ausgeglichen, etwa durch einen Rollstuhl oder einen Rollator, so beschränkt sich die Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung auf die Auswirkungen auf die allgemeinen Grundbedürfnisse des täglichen Lebens. Nach diesen Maßgaben kommt es im Falle der Klägerin auf eine Zuordnung zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens nicht an. Denn die im Streit stehende Fingerprothese dient nicht lediglich dem mittelbaren, sondern dem unmittelbaren Behinderungsausgleich. Sie ersetzt nämlich die der Klägerin am rechten Zeigefinger fehlenden Glieder, also das Mittel- und das Endglied. Entgegen den Ausführungen der Beklagten bejaht die Kammer zum einen das Vorliegen einer ins Gewicht fallenden Funktionsbeeinträchtigung und zum anderen eine Notwendigkeit aus medizinischen Gründen, auf dem gegenwärtigen Stand der Prothesentechnik mit dem von der Fachärztin Giese-Decapi verordneten Hilfsmittel einen Behinderungsausgleich im Sinne des § 33 SGB V herbeizuführen. Das Maß der Funktionsbeeinträchtigung hat Dr. C. in seinem Gutachten vom 27. April 2015 unter Bezugnahme auf besonders im Unfallversicherungsrecht entwickelte Erkenntnisse dahingehend gekennzeichnet, mit seiner Fingerbeere gegenüber dem Daumenendglied erweise sich der Zeigefinder als erstrangiges Greifwerkzeug. Der (vollständige) Zeigefinger gebe den vom Menschen verwendeten Werkzeugen oder Geräten bei zahllosen Präzisionsverrichtungen die notwendige Führung. Voraussetzung für diese elementaren Funktionen seien nicht nur die genügende Länge und die voll erhaltene Sensibilität, sondern - im Gegensatz zum Daumen - auch die zumindest teilweise erhaltene Funktion im Mittel- und Grundgelenk (Bezugnahme auf "Schönberger, Mehrtens, Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl."). Im Anschluss an die Ausführungen des Dr. C. geht die Kammer des Weiteren davon aus, mit der verordneten und im Kostenvoranschlag der J. GmbH vom 4. Januar 2013 näher bezeichneten Fingerprothese sei ein nicht unerheblicher Funktionsgewinn der rechten Hand zu erzielen. Der Sachverständige beantwortete die vom Gericht gestellte Frage ausdrücklich dahingehend, eine Prothese der im Kostenvoranschlag vom 4. Januar 2013 aufgeführten Art sei geeignet und als notwendig anzusehen, um zumindest eine wesentliche Besserung der bei der Klägerin ausgefallenen Funktionen zu erzielen. Die Kammer sieht durch die Darlegungen des Dr. C. den Hinweis des Facharztes L. vom 7. März 2013 als entkräftet an, wonach einer Funktionsverbesserung die Unbeweglichkeit der Prothese entgegenstehe und wonach sich die Prothese möglicherweise als Beweglichkeitshindernis erweisen könne. Denn trotz dieses Hinweises steht als tragender Gesichtspunkt der Prothesenversorgung im Vordergrund, das Greifen zu erleichtern, ungeachtet der nach gegenwärtigen medizintechnischem Stand offenbar nicht herzustellenden Beweglichkeit vollständig vorhandener Fingerglieder. Dr. C. hat darüber hinaus darauf aufmerksam gemacht, ungeachtet der vorliegenden bildlichen Darstellung sei in das MDK-Gutachten vom 15. Mai 2013 die mangelnde Beugefähigkeit im Grundgelenk des Restzeigefingers nicht in der gebotenen Weise eingegangen. Das Maß der möglichen Funktionsverbesserung war damit aus einer ungünstigeren Ausgangslage heraus zu beurteilen, als es offenbar im Rahmen der MDK-Begutachtung geschehen ist. Während dort unter dem 15. Mai 2013 ausdrücklich von einer - nach allgemeiner Erfahrung - erhaltenen Beugefähigkeit im Grundgelenk bei Amputationen im Bereich des Mittelgelenks die Rede ist, hat Dr. C. im Wege seiner körperlichen Untersuchung herausgearbeitet, im Einzelfall der Klägerin habe sich die Situation nach den beiden Operationen vom 23. April und vom 4. Mai 2012 im Sinne einer mangelnden Beugefähigkeit im Grundgelenk dargestellt. Ausgehend davon erscheint es der Kammer umso mehr nachvollziehbar, durch den prothetischen Ersatz, der dann auch einen Acrylnagel umfassen sollte, eine wesentliche Funktionsverbesserung herbeizuführen. Es kam nicht in Betracht, anstelle der Beklagten den beigeladenen Rentenversicherungsträger zu verurteilen. Zwar hat die Beklagte in Bezug auf den Prothesengebrauch darauf aufmerksam gemacht, für die Klägerin stehe die berufliche Verwendung im Vordergrund. Selbst wenn dies aber zutrifft, bleibt die Beklagte, wie sie selbst im Verlaufe des Verwaltungsverfahrens gegenüber der Beigeladenen ausgeführt hat, der gem. § 14 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) zuständige erstangegangene Rehabilitationsträger. Anders wäre es nur, wenn die Beklagte den von der Klägerin gestellten Antrag innerhalb der von § 14 SGB IX festgelegten Frist an die Beigeladene abgegeben hätte. Das hat sie tatsächlich nicht getan. In Anbetracht des erfolgten Verfahrensablaufs ist die Beklagte darauf zu verweisen, im Nachhinein einen Erstattungsanspruch geltend zu machen. Zu den Erfolgsaussichten eines solchen Antrags hatte sich die Kammer, ungeachtet der Ausführungen des Dr. C. zum Vorteil der Prothese für die Berufstätigkeit als Hauswirtschaftstrainerin, nicht zu verhalten. Für die vorliegend erforderliche Beurteilung waren vielmehr der im täglichen Leben einerseits und der speziell in der Berufstätigkeit zu erzielende Gebrauchsvorteil andererseits gleichrangig nebeneinander in Betracht zu nehmen. Die Kammer setzt sich mit ihrer Beurteilung des Falles der Klägerin nicht in einen Gegensatz zu aktueller Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG). Das BSG hat in einem Urteil vom 30. September 2015 (Az. B 3 KR 14/14 R) eine Fingerendgliedprothese nicht als Gegenstand der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung angesehen. Das gelte ungeachtet des Umstandes, dass hier unmittelbar ein fehlendes Körperteil ersetzt werde. Die Gebrauchsvorteile seien nämlich nur als unwesentlich einzuschätzen. Sie bezögen sich letztlich auf besseren Komfort und bessere Optik. In einen Widerspruch gerät die Kammer deshalb nicht, weil sich der dem Urteil des BSG zugrunde liegende Sachverhalt dadurch auszeichnete, dass, abweichend vom Fall der Klägerin, bloß das Endglied des rechten Zeigefingers fehlte. Es erscheint nachvollziehbar, eine solche Situation des fehlenden Endgliedes anders als diejenige der hiesigen Klägerin zu bewerten. Denn fehlt lediglich das Endglied, so werden die Handfunktionen allenfalls geringfügig beeinträchtigt. Soweit - daraus folgend - überhaupt von einer Teilhabebeeinträchtigung gesprochen werden konnte, war diese - im Falle des BSG - nicht im Wege der auch dort in Rede stehenden Prothese zu versorgen, sondern in ausreichender Weise durch eine bloße Schutzkappe. Die Kostenentscheidung folgt aus der Anwendung des § 193 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Kammer hat sich dabei am Ausgang des Rechtsstreits orientiert. Kosten der Beigeladenen waren nicht übernahmefähig, § 193 Abs. 4 SGG.