Sozialgericht Stade
v. 20.06.2016, Az.: S 6 AS 515/13
Anspruch auf höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe des vollen Regelbedarfs
Bibliographie
- Gericht
- SG Stade
- Datum
- 20.06.2016
- Aktenzeichen
- S 6 AS 515/13
- Entscheidungsform
- Gerichtsbescheid
- Referenz
- WKRS 2016, 21980
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGSTADE:2016:0620.S6AS515.13.0A
Rechtsgrundlagen
- § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II
- § 7 Abs. 2 S. 1 SGB II
- § 7 Abs. 3a SGB II
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) von dem Beklagten höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Zwischen den Beteiligten besteht Streit darüber, ob die Klägerin in dem Zeitraum vom 1. Oktober 2012 bis zum 31. Januar 2013 Anspruch auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) in Höhe des vollen Regelbedarfs nach § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II (374,00 EUR monatlich in 2012 und 382,00 EUR monatlich in 2013) hatte.
Die im Mai 1989 geborene Klägerin war nach von dem Beklagten vorgelegten Auskünften des Landes F. vom 16. September 2014, der Gemeinde G. vom 18. September 2014 und der Gemeinde H. vom 25. September 2014 in der Vergangenheit unter folgenden Anschriften gemeldet:
20.02.2012-25.04.2012 I., H. OT J. 25.04.2012-30.09.2012 K., G. OT L. 30.09.2012-01.07.2013 M., N. 01.07.2013- O., C-Stadt OT P.
Der im April 1989 geborene Q. A., der Vater des am 27. Januar 2013 geborenen Sohnes der Klägerin ist, war nach von dem Beklagten vorgelegten Auskünften des Landes F. vom 16.09.2014 und der Gemeinde G. vom 18. September 2014 in der Vergangenheit unter folgenden Anschriften gemeldet:
25.02.2012-27.04.2012 I., H. OT J. 27.04.2012-30.09.2012 K., G. OT L. 30.09.2012-01.07.2013 M., N. 01.07.2013- O., C-Stadt OT P.
Q. A. war in der Zeit vom 2. April 2012 bis zum 31. Oktober 2012 bei der Firma R. GmbH beschäftigt. Er bezog ab 1. November 2012 Arbeitslosengeld I und nahm am 1. August 2013 eine Berufsausbildung zum Berufskraftfahrer auf. Die Klägerin stand - soweit ersichtlich - bis zum 19. Mai 2012 in einem Beschäftigungsverhältnis. Ab 27. Januar 2013 bezog sie Elterngeld.
Am 11. Oktober 2012 stellte die Klägerin bei dem Beklagten einen (Erst-)Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Im Rahmen des Antrags gab sie an, dass Q. A. ihr Partner sei.
Mit Bescheid vom 23. Oktober 2012 lehnte der Beklagte die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum vom 1. Oktober 2012 bis zum 31. Oktober 2012 ab mit der Begründung, aufgrund der Höhe des anzurechnenden Einkommens sei die Klägerin nicht hilfebedürftig im Sinne des SGB II. Aus dem dem Bescheid anliegenden Berechnungsbogen geht hervor, dass der Beklagte zum einen von einem Regelbedarf der Klägerin in Höhe von 337,00 EUR und einem Gesamtbedarf der Klägerin und des Q. A. in Höhe von 1.176,29 EUR ausging und zum anderen Erwerbseinkommen des Q. A. in Höhe von 1.545,56 EUR berücksichtigte.
Mit weiterem Bescheid vom 23. Oktober 2012 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 8. November 2012, 24. November 2012 und 14. März 2013 bewilligte der Beklagte der Klägerin und Q. A. für die Zeit vom 1. November 2012 bis zum 31. März 2013 in Höhe von 1.176,29 EUR für den Monat November 2012, in Höhe von 283,49 EUR für den Monat Dezember 2012, in Höhe von 332,32 EUR für den Monat Januar 2013 und in Höhe von 466,20 EUR monatlich für die Monate Februar 2013 und März 2013. Dabei ging der Beklagte von einer Bedarfsgemeinschaft der Klägerin mit Q. A. aus.
Am 20. Dezember 2012 erhob die Klägerin Widerspruch gegen den Änderungsbescheid des Beklagten vom 24. November 2012 mit der Begründung, die Klägerin habe Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II ohne Berücksichtigung des Einkommens des Q. A., da dieser nicht Mitglied der Bedarfsgemeinschaft sei. Die Voraussetzungen für die Annahme einer gesetzlichen Vermutung nach § 7 Abs. 3a SGB II lägen für die Zeit ab dem 1. Januar 2013 bis zum 31. März 2013 bislang nicht vor.
Ferner beantragte die Klägerin am 20. Dezember 2012 mit jeweils gesonderten Schreiben die Überprüfung des Ablehnungsbescheides des Beklagten vom 23. Oktober 2012, des Bewilligungsbescheides vom 23. Oktober 2012 und des Änderungsbescheides vom 8. November 2012. Zur Begründung führte sie wiederum aus, Q. A. gehöre nicht zu Bedarfsgemeinschaft.
Mit Widerspruchsbescheid vom 11. März 2013 wies der Beklagte den Widerspruch gegen den (Änderungs-)Bescheid vom 24. November 2012 als unbegründet zurück.
Mit drei gesonderten Bescheiden vom 14. März 2013 lehnte der Beklagte den Antrag der Klägerin auf Überprüfung der (beiden) Bescheide vom 23. Oktober 2012 und des Änderungsbescheides vom 8. November 2012 gemäß § 44 SGB X ab. Die hiergegen erhobenen Widersprüche wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 7. August 2013 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte er aus, im vorliegenden Sachverhalt seien die Gegebenheiten dieses Einzelfalles gewertet und gegeneinander abgewogen worden. Auch wenn die Klägerin mit ihrem Partner noch kein Jahr zusammengelebt habe, sei in Anbetracht der Gesamtumstände davon auszugehen, dass eine Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft vorliegt. Es seien gemeinsam Leistungen beantragt worden. Auch aus dem Auftreten bei den persönlichen Vorsprachen sei zu schließen gewesen, dass die Partner füreinander einstehen und Verantwortung füreinander übernehmen. Ein weiterer Gesichtspunkt sei die Schwangerschaft der Klägerin gewesen. Die Klägerin sei in einem Zeitraum, in dem sie besonders schutzbedürftig sei, mit ihrem Partner in eine gemeinsame Wohnung gezogen um die Versorgung des erwarteten Kindes sicher zu stellen.
Die Klägerin hat am 9. September 2013 Klage erhoben. Zu Begründung trägt sie vor, sie habe ab Oktober 2012 Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II ohne Berücksichtigung des Einkommens des Q. A. gehabt, da dieser nicht Mitglied der Bedarfsgemeinschaft gewesen sei. Die Voraussetzungen für die Annahme einer gesetzlichen Vermutung nach § 7 Abs. 3a SGB II hätten für die Zeit ab dem 1. Oktober 2012 bis zum 31. März 2013 zum Zeitpunkt der angegriffenen Entscheidungen nicht vorgelegen. Sie trägt vor, "erst seit 1. Oktober 2012 leben die Klägerin und ihr jetziger Ehemann in einer Wohnung zusammen".
Die Klägerin beantragt nach ihrem Vorbringen im schriftlichen Verfahren,
den Beklagten zu verurteilen, den Bescheid vom 14. März 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. August 2013 dahingehend abzuändern, dass der Ablehnungsbescheid vom 23. Oktober 2012, der Bewilligungsbescheid vom 23. Oktober 2012 sowie der Änderungsbescheid vom 8. November 2012 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 24. November 2012 dahingehend abgeändert werden, dass der Klägerin für die Zeit ab 1. Oktober 2012 Leistungen nach dem SGB II unter Berücksichtigung des Regelbedarfs in Höhe von jeweils 374,00 EUR (2012) bzw. 382,00 EUR (2013) bis zum 31. Januar 2013, hilfsweise bis zum 27. Januar 2013 gewährt werden.
Der Beklagte beantragt nach seinem Vorbringen im schriftlichen Verfahren,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte verweist auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid. Er hat mit Schriftsatz vom 1. Oktober 2014 die Auskünfte des Landes F. vom 16. September 2014, der Gemeinde Saterland vom 18. September 2014 und der Gemeinde H. vom 25. September 2014 vorgelegt. Der Beklagte weist darauf hin, dass die Klägerin und Q. A. zweimal gemeinsam umgezogen seien.
Mit Verfügung vom 14. April 2016 hat das Gericht die Beteiligten davon unterrichtet, dass eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid beabsichtigt sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakte und der Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen. Die Akten sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.
Entscheidungsgründe
Das Gericht kann ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten sind vorher gehört worden (vgl. § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).
Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg. Der angegriffene Bescheid der Beklagten vom 14. März 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. August 2013 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Leistungen zu Sicherung des Lebensunterhalts für den Monat Oktober 2012 bzw. auf höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum vom 1. November 2012 bis zum 31. März 2013.
Nach § 44 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind.
Der Beklagte hat weder das Recht unrichtig angewandt noch ist er - im Ergebnis - von einem Sachverhalt ausgegangen, der sich als unrichtig erweist.
Der Beklagte ist zutreffend davon ausgegangen, dass bei der Ermittlung des Leistungsanspruchs der Klägerin das Einkommen des Q. A. zu berücksichtigen ist.
Leistungen nach dem SGB II erhalten Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig sind, hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte; § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Leistungen erhalten auch Personen, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben (§ 7 Abs. 2 Satz 1 SGB II). Hilfebedürftig ist, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält (§ 9 Abs. 1 SGB II). Bei Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, sind auch das Einkommen und Vermögen des Partners zu berücksichtigen (§ 9 Abs. 2 Satz 1 SGB II). Zur Bedarfsgemeinschaft gehört u.a. als Partnerin oder Partner der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten eine Person, die mit der erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen (§ 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchstabe a) SGB II). Ein wechselseitiger Wille, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, wird vermutet, wenn Partner länger als ein Jahr zusammenleben (§ 7 Abs. 3a Nr. 1 SGB II).
Die Vermutung eines Einstands- und Verantwortungswillens besteht bei einem Zusammenleben der Partner von mehr als einem Jahr. Die Ein-Jahres-Frist ist für die Anwendung der Vermutungsregel eine Mindestfrist. Es ist der Zeitraum, den das Gesetz Partnern zubilligt, um herauszufinden, ob man füreinander einstehen und Verantwortung übernehmen will, bevor dies (widerleglich) unterstellt wird. Bei einem Zusammenleben von kürzerer Dauer als einem Jahr ist daraus nicht automatisch der Schluss zu ziehen, dass keine Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft besteht. Stattdessen fehlt es lediglich an der gesetzlichen Vermutung eines Einstandswillens. Es kann und darf aber sowohl von Behörden als auch Gerichten festgestellt werden, dass bei Vorliegen entsprechender Tatsachen dennoch ein Einstandswille gegeben ist. Bei Partnern, die kürzer als ein Jahr zusammenwohnen, können allerdings nur gewichtige Gründe die Annahme einer Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft begründen. Herangezogen werden können etwa die Indizien, aus denen auch sonst indiziell auf das Vorliegen einer Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft geschlossen wird. Hierfür trägt das Jobcenter die objektive Beweislast (Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 7 Rdnr. 191; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 08. Juli 2009 - L 7 AS 606/09 B ER).
Gewichtige Gründe, die die Annahme einer Einstandsgemeinschaft rechtfertigen können, liegen vor. Nach dem bekannt gewordenen Sachverhalt leben die Klägerin und Q. A. nicht erst seit 1. Oktober 2012, sondern bereits seit Februar 2012 zusammen. Sie sind in dieser Zeit zweimal gemeinsam umgezogen. Die Umzüge erfolgten nicht innerhalb der näheren Umgebung. Dieses geht aus den vom Beklagten vorgelegten Meldeauskünften hervor. Die Klägerin war im hier interessierenden Zeitraum schwanger; Vater des im Januar 2013 geborenen Sohnes ist Q. A ... Schließlich gab die Klägerin in ihrem Erstantrag auf Leistungen zu Sicherung des Lebensunterhalts vom 11. Oktober 2012 an, dass Q. A. ihr Partner ist.
Die genannten Umstände rechtfertigen die Annahme einer Einstandsgemeinschaft und damit einer Bedarfsgemeinschaft.
Anhaltspunkte für Fehler bei der Ermittlung der Höhe des berücksichtigten Einkommens und der Berechnung des Leistungsanspruchs sind nicht ersichtlich.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.